Recht auf Anmut

Essay
zuerst erschienen im Sommer 2015 in Numéro Homme Berlin Nr. 1, S. 68-69
Die Gräben zwischen den Geschlechtern schließen sich. Vor allem in der Mode folgen Männer immer selbstverständlicher ursprünglich weiblichen Spielregeln. Eine Spurensuche am Papsthof von Avignon bis zu Miuccia Prada, die ihre aktuelle Männerkollektion am liebsten selber tragen würde.

Diese Ausgabe der Numéro ist den Männern gewidmet. Aber sie, liebe Leserin, brauchen es deswegen nicht aus der Hand zu geben. Zwar steht hier noch Homme auf dem Cover, aber was bedeutet das überhaupt?

Bei der Präsentation ihrer aktuellen Frühjahrskollektion gab Miuccia Prada zu Protokoll: „Bei jeder Herrenmodenschau denke ich, diese Kleidung stünde auch den Frauen gut – zumindest mir selbst. Eine modische Idee auf beiderlei Geschlechter zu übertragen erscheint mir mehr und mehr angemessen.“

Nicht nur ihr. Im Londoner Kaufhaus Selfridges wurde neulich eine neue Abteilung unter dem Namen Agender eröffnet, was soviel wie Garkeingeschlecht bedeutet. Und dieser Multibrandstore für Mode ohne Geschlechtszuweisung ist keine Nische, sondern erstreckt sich über drei von insgesamt vier Etagen des Hauses an der Oxford Street. Das Design der Verkaufsflächen stammt von Faye Toogood, einer britischen Künstlerin und Designerin, die vor zwei Jahren bereits den Londoner Flagshipstore von Hermès verwandelt hat. Und sich mit ihrer eigenen und höchst eigenwilligen Modelinie aus handgefertigten Arbeiteruniformen weder an Kollektionsrythmen noch an Geschlechterzuweisungen hält.

Genderbending, nicht Conchita Wurst

Haben die Label Homme/Femme, Mau/Frann, Ladies/Gents ausgedient und behalten lediglich noch an den Türen öffentlich zugänglicher Toiletten einen Sinn? Dieser Vergleich erscheint beinahe schmuddelig, tatsächlich jedoch hebt das Theoriegebäude der sogenannten Genderforschung mit einer Analyse dieser beider Türschildchen an. Wer schon einmal in beispielsweise Stockholm in jenem schicken Restaurant mit den hübschen Wandmalereien zum Händewaschen ging, steht dort vor lediglich noch einer Tür für alle, auf deren Schild nichts weiter steht als: Toilette. Trotzdem dürfen dort auch Menschen rein und nicht bloß Toiletten (so ähnlich, verkürzt dargestellt, geht die Gendertheorie dann von ihrer Betrachtung zweier Türschildchen aus zur Sache.)

Verkörpert in dieser persönlichen Begegnung an den Waschtischen eines gemeinsamen Toilettenraumes: Frauen und Männer haben sich über die prinzipiell unterschiedliche Bauweise ihrer Körper hinweg einander angenähert. So sehr, dass es nun einer nachdenklichen Modeschöpferin wie Miuccia Prada nicht mehr einleuchten will, weshalb sie unterschiedlich ausgerichtete Kollektionen entwerfen soll und nicht eher, wie sie sagt: eine Idee übertragen. Darunter sind aber nicht Röcke für den Mann zu verstehen, das sogenannte Genderbending beschreibt etwas anderes als die Travestie einer Conchita Wurst. Bending bezeichnet Neigung. Es geht um die modische Darstellung eines Annäherungsprozesses, der sich innerhalb westlich geprägter Gesellschaften vollzogen hat. Es ist ja unfassbarerweise gerade einmal vierzig Jahre her, dass Frauen sich noch wie Beute behandeln lassen mussten. Heute schreibt Kim Gordon in ihrer Biographie vermutlich zu Recht, dass Lana del Rey nicht einmal mehr weiß, was Feminismus bedeuten soll. Und damit wird keine vordergründige Kritik geübt, der Satz behält den Charakter einer Feststellung. Den Männern aus der Generation Lana del Reys dürfte es ähnlich gehen.

Verlockung Männermode

Die Bärte, die seit einigen Jahren zu den Brillen getragen werden, zeugen ja nicht von Faulheit, sondern benötigen intensive Pflege – sogenannte Barbershops werden mittlerweile sogar in Köln-Sülz eröffnet. Enganliegende Skinny Jeans bringen die langen Beine des Mannes zur Geltung. Ein mit V-Ausschnitt getragenes T-Shirt zeigt die Brust. Für seine aktuelle Frühjahrskollektion hat Craig Green ein übereinander zu tragendes Ensemble aus einem Langarmshirt und einem Bustier entworfen, das, wie der rote Catsuit der Schriftstellergattin in A Clockwork Orange, die Haut des Tragenden durch ovale Blickfenster vor Augen führt – Strategic Cutouts beim Mann?

Wie unter Blumen und Bienen üblich, wird die Männermode mit dem weiblichen Prinzip der Verlockung bestäubt. „Besonders die Jugend übertrieb die von Burgund überlieferten modischen Tendenzen so sehr, dass die spätmittelalterliche Mode in Deutschland – losgelöst von burgundischer Hofkultur und Disziplin – ihre wohl seltsamste und bizarrste Spätlese erlebte. In keinem Lande dürften die Männer so tief dekolletiert, ihre Hosen so knapp und die Schnäbel der Schuhe so lang und spitz gewesen sein, und nirgends sonst dürfte man die Kleidung am Ende des 16. Jahrhunderts so gespreizt und exaltiert getragen haben“, schreibt Erika Thiel in ihrer Geschichte des Kostüms.

Die Anwesenheit der Frau

Ein Mann des 21. Jahrhunderts will, wenn er einen navyfarbenen Anzug trägt (ob nun mit oder ohne Cutouts), nicht mehr als Großverdiener und Familiengründer, sondern als Lustobjekt wahrgenommen werden. Eventuell von einem anderen Mann, eventuell von einer Frau, die, ebenfalls einen navyfarbenen Anzug tragend, ihren darunter befindlichen Körper nicht vergessen machen will.

In seinen Meditationen über die Liebe erwähnt José Ortega y Gasset eine geschichtliche Begebenheit mit seiner Ansicht nach großer Wirkung: Im zwölften Jahrhundert wurden am päpstlichen Hof zu Avignon erstmalig Frauen zugelassen. Ortega y Gasset sieht die höfische Gesellschaft von da an zu einem Besseren verändert: Von der Cortezia (Hof-, beziehungsweise Palastdame i.d.F.) gingen der Heilige Franziskus und Dante, der Papsthof von Avignon und die Renaissance aus. Sie ist ohne das antike Ideal des Maßes nicht vorstellbar. Die Lei de cortezia verkündet von Neuem die Herrschaft der mezura, worunter allein die Frauen atmen können. Durch bloße Anwesenheit einiger Frauen erhält der bis dahin durch männliche Umgangsformen geprägte Alltag eine neue Form. Mäßigung (mezura) der Männergesellschaft erscheint als Motor der Zivilisation.

800 Jahre später zeigt diese Mäßigung erste Wirkungen an den Mitgliedern der Gesellschaften selbst: Es sind nicht etwa radikale Feministen, die eine Kampagne gegen das breitbeinige Sitzen von Männern im öffentlichen Nahverkehr von New York starten; es sind die Betreiber des New Yorker Nahverkehrs selbst, die das sogenannte Man Spreading für passé erklären lassen.

Es ist nicht etwa eine Hausbesitzerin, die ihren männlichen Mieter vor ein deutsches Gericht zitieren lässt, weil er durch seine als unzeitgemäß erachtete Marotte des Urinierens im Stehen einen Schaden am Fußbodenbelag des von ihr vermieteten Badezimmers in Kauf genommen hat sondern ein Hausbesitzer.

Beef-Feinschmeckertum auf Tinder

Selbst weitaus harmlosere, dennoch tief verwurzelte Traditionen der männlichen Gesellschaftshälfte – Biertrinken, Fleischessen, Fleischeslust – erleben nun Wiedergeburten als Craft-Beer-Kennerschaft, als Dry-Aged-Beef-Feinschmeckertum, als virtuelles Anbandelns auf Tinder. Selbst der Holzfäller in Flanellhemd mit Bart, lange ein Klischee des barbarischen Mannes, bereichert zu Beginn des dritten Jahrtausends in einer Designerversion das Bild der Gesellschaft.

800 Jahre nach dem Erscheinen der Cortezia hat sich deren Mission einer Mäßigung des Geschlechterverhältnisses zumindest popkulturell erlöst. Das frühe Mittelalter war maßlos männlich, schreibt Gisela Dischner, das späte neigt sich der Frau zu, langsam aber stetig – nun ist der Zeitgeist zu einem Steg geworden, auf dem sich Frau und Mann gleichermaßen begegnen können. Und zwar jeweils ineinander. In sich.

Als wesentliche Geburtshelferin dieser Renaissance der Geschlechter fungiert im 20. Jahrhundert nicht mehr die Cortezia, sondern die weltweite Schwulenbewegung. Die Diskothek wird zum Papsthof von Avignon. Im Nachtleben werden seit den 80er-Jahren auch heterosexuell geprägte Männer und Frauen an einen gemäßigten Hedonismus gewöhnt. Die Partyanekdote, die zur Entstehung des Songs Lola führte, verstößt im England der späten 60er-Jahre noch gegen die Konvention (selbst gegen eine unter Popmusikern herrschende Konvention). Homosexualität ist da noch in weiten Teilen der westlichen Welt illegal, ein sogenanntes Coming Out entspricht einer Entscheidung zur Freakexistenz wie von den Kinks in Lola besungen. Dennoch erweist sich die sogenannte Subkultur als Nährboden für elektronische Musik und audiovisuelle Medien, für Drogenkonsum, Fitness, Designermode, Kunstmarkt, Fernreisen und Esskultur – kurz: für so ziemlich Alles, was das Leben heute lebenswert erscheinen lässt. Ganz im Sinne von José Ortega y Gasset fungiert die Schwulenkultur seit Stonewall als Cortezia für beide Geschlechter: Nicht als Erzieherin in einem elterlichen Verständnis, sondern durch Anmut und Bezauberung. Was die Papstdamen und die Schwulenkultur in diesem Fall vergleichbarerweise zu bieten haben, ist eine Alternative zum Bestehenden: Die Männer von Avignon waren entweder geistliche Würdenträger oder Ehelose. Naturgemäß erscheint es Ortega y Gasset, dass in einer Zeit, da eine Frau lediglich die Wahl hatte, Ehefrau, Nonne oder Prostituierte zu werden, dort in den Palastdamen ein Frauentyp der unabhängigen und kultivierten Art entsteht.

Vexierbild aus Mann und Frau

Analog ließ sich zu Beginn des dritten Jahrtausends im Nachtleben lernen, dass es jenseits des Pragmatismus einer Familiengründung noch weitere Möglichkeiten gibt, ein privates Leben zu führen. Das vereinfachte Scheidungsrecht, die Antibabypille und eine aus der Nachkriegssituation heraus ermöglichte Unabhängigkeit der Frauen durch eigenen Broterwerb machen die ersehnte Wahlfreiheit auch im Praktischen möglich. Wo der Mann nicht mehr auf seine autoritäre Funktion als Ernährer und Familienvater festgenagelt werden kann, lässt er seinen Fantasien zunehmend freien Lauf. Das Spiel der Cortezia, durch Bezauberung und Anmut für Zivilisation zu sorgen, ist keine dem Weiblichen vorbehaltene Tugend. Betrachtet man heute die Aufnahmen, die in den späten 60er-Jahren von Patti Smith und ihrem Partner Robert Mapplethorpe gemacht wurden, entsteht dieses Gefühl: flirrend erscheint die Persönlichkeit der Poetin. Wie ein Vexierbild aus zartem Mann und starker Frau. Und er, Mapplethorpe, erscheint als ihr Spiegelbild. Darin liegt die Attraktivität dieser Fotografien begründet. Aus heutiger Sicht: die Modernität, das ewig Zeitgenössische. Dementsprechend erscheint Thomas Neuwirth in der Gestalt seiner vollbärtigen Conchita Wurst nicht als Racheengel eines Krieges der Geschlechter, sondern als irdischer Bote eines Sieges der Intelligenz.