Vechta! Eine Fiktion!

Essay
zuerst erschienen am 3. Mai 2015 in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung, S. 42
Rolf Dieter Brinkmann ist seit 40 Jahren tot. Seine Heimatstadt Vechta hadert immer noch mit dem berühmten Sohn der Stadt. Ein Besuch

Als Günther Grass verstarb, trauerte Lübeck. Als Rolf Dieter Brinkmann in London von einem Auto überfahren wurde, reichte der „Oldenburgischen Volkszeitung“ in seiner Heimatstadt Vechta eine Meldung. Brinkmann war ein kleiner Autor, ihm blieben ja gerade mal 15, 16, 17 Jahre zum Publizieren. In dieser kurzen Zeit schaffte er es zu einem der widerspenstigsten und aufwühlendsten Autoren der sechziger Jahre, zu Einladungen der Gruppe 47, die er ablehnte, und zum bösen Buben Brinkmann, der 1968 auf einem Podium mit den Literaturkritikern Rudolf Hartung und Marcel Reich-Ranicki rief: „Wenn dieses Buch ein Maschinengewehr wäre, würde ich Sie über den Haufen schießen!“

Brinkmann starb mit 35 Jahren, am 23. April jährte sich sein Todestag zum 40. Mal. Er ist immer noch ein Rätsel. Verkäuflich gemacht als Urvater des deutschen Popromans, in eine Reihe gestellt mit Beat-Literaten wie Kerouac und Burroughs, obwohl er 1971 selbst schrieb: „Die ganze Rebellion mit Pop, Untergrund, usw. ist für mich vorbei.“ Es ist nur eines von vielen Missverständnissen, die diesen Lebensdichter umgeben, für den das Schreiben auch ein Zwang war, das Notieren und Notieren und Notieren von noch so kleinen Nichtigkeiten, was man seinen Tagebüchern anliest, und für den das Leben selbst wohl eines der größten Missverständnisse war. Vor allem das Geborensein am 16. April 1940 in eine Stadt wie 2848 Vechta, in eine Gegend, wo die Menschen seit Adenauer mit überwältigender Mehrheit CDU wählen, Karl-Bernd und Eva-Maria, Gerdes und Enneking heißen: „Geboren zu Anfang des Krieges in Norddeutschland, Vechta im südlichen Oldenburg, einer Kleinstadt von 15.000 Einwohnern, ein Schweinelandstrich, leeres Moor (…) viel krüppliges Grünzeug, katholisch verseucht“, erzählte er 1974 in der WDR-Radiosendung „Autorenalltag“.

Sein Elternhaus stand am Kuhmarkt 1. Brinkmann hasste Vechta. Trotzdem blieb er der Stadt im Oldenburger Münsterland verbunden. In seinen „Erkundungen“ schrieb er: „Warum will ich meine Herkunft nicht akzeptieren? Weil sie voller Drohungen und Schmerzen ist.“ Und 46 Seiten vorher: „Erinnerung: an das blaue Eis im Winter, in der Abenddämmerung, die weiten Flächen am Moorbach, Erinnerung: daß ich dort im Winter vormittags, nachdem ich aus der Schule abgehauen bin, lange herumwandere bis hoch in den Wald! Erinnerung: durch ein blaues, klares Winterlicht laufe ich lange Schlittschuh dort.“ Das ist wohl, was man Heimat nennt. Das Losreißen, das voraussetzt, das da etwas ist, das einen festhält. Doch genauso wie Brinkmann Vechta nicht loslassen konnte, haben auch die Vechtaer lange gebraucht, um von dem Zorn abzulassen, den seine Zeilen in ihnen hervorriefen. Wenn er die Lehrer an seinem Gymnasium als Krüppel beschimpfte oder in „Westwärts 1&2“ dichtete: „Der Bauer summt, / der Kühlschrank brummt, / die Kinder kommen aus der Schule / und sind verdummt.“ Die Menschen aus diesem Landstrich, aus dem auch ich komme, sind stolz, und sie vergessen nicht schnell. Jedenfalls keinen, der sich mit so viel Abscheu gegen sie stemmte. Stimmen aus der Landschaft:

„Brinkmann, den wir Rolf nannten, weil er ja selbst Rolf Dieter genannt werden wollte, trug immer Schwarz und war uns nicht geheuer. Mit dem wollten wir nix zu tun haben, mit dem und seinen Büchern“, sagt mein Großonkel. Er war zwei Jahrgangsstufen über Brinkmann am Gymnasium Antonianum. „Wir interessierten uns eher für Düt un Dat op Platt.“ Fußballverein, Oberliga, eine volle Tanzkarte.

„Den wollten die damals doch am liebsten erschießen“, erzählt eine Nachbarin.

Der Künstler Helmut Middendorf, berühmt geworden in den Siebzigern mit Rainer Fetting und Salomé als die Neuen Wilden, ebenfalls aus dem Landkreis Vechta und, wie er selbst sagt, nach dem Abi nach Berlin geflohen - kippenbergergetreu „Seit ich da bin, weg, weg, weg“ -, erzählt, dass Brinkmann in seiner Jugend sein „Hero“ gewesen sei. Seine Bücher konnte man aber nirgendwo kaufen. „Da musste man schon nach Oldenburg oder Osnabrück trampen. In Vechta war nur Ignoranz. Und wir, die wir ihn lasen und diskutierten, wir Hascher mit Haaren bis auf den Arsch, uns hat man eh gemieden.“

Meine Oma berichtet: „Der wird ja jetzt so hochgejubelt. Der kannte sich ja aus mit Theater, damals schon, aber der war ja nichts für die Jugend von hier. Ein Quertreiber.“

Auch viele Jahre nach seinem Tod, in den nuller Jahren, als ich zur Schule ging und die von Gunther Geduldig, dem ehemaligen Leiter der Hochschulbibliothek Vechta, gegründete Rolf-Dieter-Brinkmann-Gesellschaft schon seit 1992 aktiv, war Brinkmann kaum ein Thema. Ich musste erst nach Berlin gehen, um ihn kennenzulernen. Die Verwundungen sitzen tief. Vielleicht auch, weil die Auseinandersetzung mit Brinkmann für die Menschen aus seiner, aus unserer Gegend immer auch eine Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte ist. Auch wenn seine Beleidigungen hässlich waren, stocherte er mit seinen Gedichten und öffentlichen Wutausbrüchen in den zu schnell verheilten Wunden der Nachkriegsgesellschaft rum, wie man es von einem wie ihm aus heutiger Sicht ja fast schon erwartet: Von wem wollen wir lernen? Können wir unseren Vätern noch trauen? „Wo aber ist das Leben?“

Da kommt ein Dichter aus unserer Kreisstadt, den Heiner Müller „das einzige Genie in der westdeutschen Literatur“ genannt hat, und keiner erzählt einem das. Ich war Schülerin des Mädchengymnasiums Liebfrauenschule Vechta, das es auch zu Brinkmanns Zeiten schon gab, damals war es noch ein Internat. In der Kapelle, in der wir jede zweite Woche Gottesdienst hatten und die Hostien nach der Kommunion als Proviant gegen unsere Gaumen pressten, diente Brinkmann in den fünfziger Jahren als Ministrant, durch die Gitterfenster im Erdgeschoss, vorbei an den wächsernen Augen der Ordensschwestern im Holzkabuff, schmuggelte er seine erste Liebeslyrik an Gisela Reinholz und Elisabeth Piefke: „Dein Herz / ist ein wüstes Land, / todgehetzt von Rauschbegierden“. Es gibt die Gedichte noch.

Aber: „Die Briefe an Gisela Reinholz hat die Witwe weggeschnappt“, sagt Markus Fauser, Professor für Germanistik und Leiter der Arbeitsstelle Rolf Dieter Brinkmann an der Universität Vechta. Die Kopien der Briefe an Piefke liegen in einem Aktenschrank in der Hochschulbibliothek. Genauso wie 300 Blatt Lyrik und 250 Blatt Prosa aus Brinkmanns Zeit als Buchhändlerlehrling in Essen. Nach der 10. Klasse musste Brinkmann das Gymnasium in Vechta verlassen, er zog nach Meppen, dann Essen, weiter zum Studium nach Köln, wo sein Schulfreund und Mitbewohner Peter Hackmann die 550 Blatt durchgerissen fand. Wieso Hackmann sie an sich nahm, wissen wir nicht. Dafür ist bekannt, wie er den zerrissenen Stoß wieder zusammenpuzzelte. Hackmann, Deutschlehrer an einem Gymnasium in Mülheim an der Ruhr, ließ es einfach seine Schüler machen: mit Tesafilm und Phantasie. Ein editorischer Albtraum, den er kurz vor seinem Tod der Unibibliothek in Vechta für einen symbolischen Preis von 900 Euro überließ. Entsäuert und geflickt liegen die Blätter nun in grauen Kartons in einem grauen Aktenschrank im Untergeschoss der Bibliothek und werden mit weißen Handschuhen hervorgezogen. Mit der Schreibmaschine getippte Gedichte, an der Seite Notizen mit Rotstift und Füller. Prosa auf liniertem Papier, in der Mitte geknickt wie ein Schulaufsatz, mit Tinte ins Reine geschrieben. Außerdem im Schrank: alle Erstausgaben, Plakate, die Zeitschriften, die der Dichter in Köln rausbrachte, Bücher, in die er gekritzelt hat, Notizen auf einer Quittung der Buchhandlung Witsch in Köln, wo er arbeitete: „Riecht nach Ziege / Fäulnis unter der Achsel / in der Schweißhöhle / vier Männer, die riechen dunstig / Notiz für die nächste Seite“. Sie wirken wie Grabbeigaben, denn publizieren darf aus ihnen nur die Witwe, Brinkmann, die das seit dem Tod ihres Mannes auch fleißig tut. „Ohne Rücksicht auf editorische Standards“, sagt Fauser. Er erzählt, wie Maleen Brinkmann für den Lyrikband „Vorstellung meiner Hände“, der 2010 erschien, „genau zwei Nachmittage hier verbracht hat“. Sie habe sich rausgefischt, „was sie für publikationsfähig hielt“. Manche Gedichte in dem Konvolut haben bis zu 18 Versionen, daraus die Ausgaben letzter Hand zu destillieren ist eine philologische Herausforderung, aber „Maleen Brinkmanns Ausgabe ist ein bibliographisches Monster“. Eine kritische Ausgabe wäre nötig, die Witwe verhindert sie seit Jahren. Sie hat ohnehin längst die Deutungshoheit über das Werk ihres so früh verstorbenen Mannes gewonnen. Das von ihr publizierte „Rom, Blicke“ ist das meistverkaufte Brinkmann-Buch - in ihm verbergen sich phantastische Stellen, aber man muss lange nach ihnen suchen, das meiste sind aneinandergeklatschte Briefe Brinkmanns aus seiner Zeit in Rom.

„Glauben Sie wirklich, dass Brinkmann, der sein erstes Buch ,Ihr nennt es Sprache‘ wegen fünf Fehlern wieder aus dem Verkehr zog, ein Buch wie ,Rom - Blicke‘ veröffentlicht hätte?“, fragt Fauser. Und erwartet ein lautes: Nein! Brinkmann war ein manischer Textarbeiter, schon in seiner Jugend, als er seinen Lehrern am Gymnasium von Benn, Rimbaud und Kafka erzählte und als Mitglied des schulinternen Debattier- und Theaterclubs Rhetorika Vechtensis die Neuübersetzungen von Sartre diskutieren wollte. Was schiefging. Aus dem Protokoll der Rhetorika vom 19. 08. 1956: „Als Rhet. Brinkmann für den Lesevortrag einen Auszug aus einem Werk von Sartre vorlegen wollte, folgte eine sehr heftige Auseinandersetzung, in der sich die katholischen Mitglieder weigerten das Stück weder anzuhören noch selber zu lesen.“

Ginge es nach Fauser, stünde auf jedem Brinkmann-Buchdeckel, der nach 1975 erschienen ist, ein Warnschild. Maleen Brinkmann gibt seit 40 Jahren Missverständnisse heraus. Und kaum einer merkt’s. Fauser schreibt gerade für den Metzler-Verlag an einem Brinkmann-Handbuch, in dem es auch darum geht, den elendigen Mythos vom menschenhassenden Rebell aus der Welt zu schaffen und ihn stattdessen als Autodidakt und als Vertreter der nachholenden Moderne zu würdigen, die er in allen Facetten in die deutsche Literatur geholt hat. Nicht erst mit Pop und der Übersetzung amerikanischer Beat-Literaten, sondern früher mit der Rezeption französischer Lyrik und des Existenzialismus und später mit der Multimedialität und der Suche nach einem „befreiten Bewusstsein“. „Das reicht doch!“, sagt Fauser. Das Verhältnis der Vechtaer zu Brinkmann nennt auch er „verwundet“. Seminare zu Brinkmann bietet er nicht mehr an: „Viele Studenten sind erst fasziniert von seiner Person, aber wenn es an die Texte geht, geben sie schnell auf.“ Fauser forscht und publiziert weiter, die Dokumentationsstelle sammelt. In Zimmer N 115 ist Brinkmann lebendig. Aber mit einem wie Brinkmann lasse sich für Vechta nun mal kein Marketing machen. Seit 2007 gibt es eine Rolf-Dieter-Brinkmann-Straße. Von Fausers Büro sind es nur ein paar hundert Meter. Ein Neubaugebiet mit Wohnhäusern, die aussehen wie Bürogebäude.

Der eigentliche Sohn der Stadt steht indes an der Großen Straße. Gegenüber von „Ginos Eisdiele“ thront seit 1981 der Hannoveraner-Wallach Warwick Rex in Bronze. Alwin Schockemöhle gewann 1976 mit ihm Olympiagold im Springreiten.