Wie Adalbert Sternberg aus Wien abreiste

von 
Portrait
zuerst erschienen 1925 in Der Querschnitt Nr. 10

Seit Wien aufgehört hat, die schöne, bezaubernde, menschliche Stadt zu sein, die es früher war, eine Bühne der aufregenden Bagatellen und Narreteien, und sich, wie ich ebenso boshaft wie richtig sagte, in ein „Belgrad am Gebirge“ verwandelte — seither war es immer nur die Vorstellung von drei, vier Menschen, die meiner Rückkehr dahin Sehnsuchtsflügel gab.

Zu den drei, vieren gehörte Adalbert, aus dem urgräflichen Haus der Sternberge, mit der sprichwörtlichen Visitenkarte: „Geadelt unter Karl dem Großen, entadelt unter Karl Renner“.

Denn dieser Sternberg, das große Enfant terrible auf der parlamentarischen Bühne Altösterreichs — im Sitzungsbericht hieß es: „Graf Sternberg (Wilder)“ —, er spazierte gleich Peter Altenberg, der sich so lärmerzeugend und monologistisch um die eigene Achse drehte, als sei die ganze Stadt nur eine Arena für seine monomanen Erhitzungen, breit, laut und souverän durch die Stadt, hutlos, den breitmündigen, cäsarischen Bullykopf voran, immer, selbst wenn nüchtern, berauscht und doch nie betrunken, und wenn er, ohne in seiner Rede abzusetzen, sich vor dem Hotel „Sacher“ bei hellem Tageslicht gegen gewisse unbegreifliche Gebote des Anstandes versündigte, so stießen sich die Wachleute unentschlossen an und sagten: „Der Sternberg“.

Der Peter Altenberg der Aristokratie, — so hätte man ihn nennen können, wenn sein Wesen nicht jedem ekstatischen Barfußgängertum und jeder Literatenart so abhold wäre. Er hatte dem Dichter, dessen Erkenntnisse er billigte, ohne ihm deshalb verzeihen zu können, daß er seine Unabhängigkeit an Nachtlokalmäzene verkaufte (ein leiser Merks für den Schreiber dieser Zeilen!), manche Flasche Champagner spendiert. Aber er nannte ihn einen „logisch denkenden Narren“.

Und doch unterschied ihn vom also Bezeichneten nicht mehr als das, was den Shakespeare-Edlen vom Shakespeare-Narren unterscheidet, etwa den Grafen Kent von Lears Hofnarren. Das ist: ein Dimensionsgefühl für Zeit, Zusammenhang, Geschichte, ein Mitspielerbewußtsein, ein Zwang, die Welt nicht minder wichtig zu nehmen wie das Leben, das sich in ihr abspielt.

Hätte er sich schon vor, statt erst nach Ablauf seiner Offizierszeit tiefer zu bilden begonnen, aus seinen Absonderlichkeiten hätte ein ganzes, großes Werk erblühen können; vielleicht ein Stendhal-Opus; vielleicht eine politische Tat. So aber blieben alle Originalkräfte dieses Renaissancemenschen aus dem Hotel Sacher dem etwas schlampigen Schaft einer k. u. k. Offiziers aufgetropft. Das war ja auch der allzu billige Einwand, durch den sich Bessergeartete der Pflicht überhoben glaubten, ihn als voll zu nehmen.

Er war zuerst Querulant, Duellgraf, Abenteuermensch. Hat dem armen Kaiser Franz Josef das Leben sauer gemacht. Wie irrsinnig mußte der Reichstagspräsident Vetter von der Lilie die Glocke schwingen, als Adalbert Sternberg, in eine wütende Rehabilitationsfehde mit dem Hause Habsburg oder besser gesagt dessen Generalstabskorps verwickelt — es war ihm die Offizierscharge abgesprochen worden —, in den Saal rief: „Auf dem Dache sitzt ein Greis, der sich nicht zu helfen weiß!“ Damals wurde sein ganzer Ahnenstolz auf das ältere, historisch berühmte Geschlecht der Sternberge gegen das unfähigere Throngeschlecht rebellisch. Er gewann den Kampf, ging in eine Dankaudienz und küßte dem alten Kaiser die Hand.

Das war die große rednerische Triumphzeit, als er, vom Burenkriege heimgekehrt, auf tolle Art, nämlich mit einem Shakespeareschen Domestikentrupp von Dorf zu Dorf und Stadt zu Stadt ziehend, ein böhmisches Mandat erbeutete.*) Die Abgeordneten strömten aus allen Gängen des Hauses zusammen, wenn der „Nicht-ernst-Genommene“ das Wort ergriff.

Da stand ein Mann von Danton-Wuchs, mischte Schneidiges und Geniales, schwadronierte, brillierte, schwang Witzkeulen und zog sich ab und zu den rhetorischen Rock aus, um nach dem Volksmund zu sprechen. Seine Gesinnung? Etwa: demokratischer Machiavellismus. Gegen alles Morsche, Faule, Talentlose in den privilegierten Klassen und Ansichten, für die Privilegiertheit des durch Blut und Vernunft Überlegenen. Das scheint nihilistisch. Im Grunde aber war die Wurzel so widersprechender Gesinnungen nichts anderes als Aristokratie. Die ingrimmige Wucht, mit der er die Mehrzahl seiner Stammesgenossen bekämpfte, ist dazu kein Widerspruch; er tat es aus dem Gefühl höherer Adelswürdigkeit gegenüber jenen, die durch Verlotterung oder Dummheit ihre Klasse befleckten. Ebensowenig aber sprach eine andere, noch verfemtere Eigenschaft dagegen: sein Gerechtigkeitsgefühl. Es hat ihm bei einem Teil des Hochadels den Beinamen des „letzten Kavaliers“ eingetragen. Und diese Titulatur kam mir unlängst wieder in Erinnerung, als er, der so viele um beleidigter Frauen willen ausgetragene Duelle zu bestehen hatte, für die Urenkelin des Kaisers, die Prinzessin Windischgrätz, bei den Blättern Genugtuung erstritt.

Die Broschüren und Bücher, die er damals schrieb, enthalten erstaunlich viel Scharfes, Prophetisches, Morgiges. Ich hielt kürzlich eines von ihnen in der Hand. Was fand ich da, o Wunder, auf dem Umschlag? Ein begeistertes Lob Erich Mühsams. —

Graf Sternberg hätte, als der Krieg und Österreich aus war, ruhig auf eines seiner böhmischen Schlösser gehen können. Aber er brauchte die große Kulisse, auch wenn sie nur mehr Größe vortäuschte, er brauchte die Bühne, auch wenn sie keine mehr war. Er blieb also, wiewohl nach schulmeisterlicher und enger Auslegung Tscheche, daheim. Sprühte wie zuvor Wut, Begeisterung, Edelmut und Kraft. Bekämpfte, da es sonst nichts zu bekämpfen gab, mit noch größerer Verbissenheit als ehemals seine unwürdigen Standesbrüder, die „Falschspieler“ und „Ehrabschneider“ des Jockeiklubs. Es war ein Kampf um die eigene Ehre, ausgetragen als Gesinnungskampf. Endete mit einer Ohrfeige, deren Empfänger beim letzten österreichischen Kaiser die Stelle eines Oberhofmeisters versehen hatte, und ungezählten Prozessen.

Wiewohl monarchisch gesinnt, haßte er, der Habitué Österreichs, nicht bloß diese Kamarilla, sondern auch den neuen Geist der Bürokratie und Justiz, der aus geheimer Abneigung gegen die Republik plebejische Übeltaten auf sich lud. (Der Jusitzmord an einer armen Bedienerin, für die Sternberg mehr Verve aufbrachte, als alle Zeitungen zusammen, war nicht die geringste darunter.) Ab nun geriet er in ein Doppelfeuer aus der behördlichen Ohrenbläserei der Angegriffenen und der Dummheit der Mißversteher. Die Polizei, ohnedies ungern mit Originalen beschäftigt, atmete auf. Sie konnte sich den Witz leisten, den wegen seiner Monarchistenmolestierungen, seiner Angriffe auf die Pseudorepublik Mißliebigen aus dem Land zu trieben, weil er die Republik beleidigt habe.

Wie oft hatte ich ihn gewarnt und zu ihm — ich setzte es hernach in eine Zeitung — gesprochen!

Das Reden war umsonst, der Graf war ausgewiesen. Aber so leicht ging es vorderhand doch nicht. Er berief zunächst eine große Abschiedsversammlung ein, um sein „politisches Statement“ vorzutragen. Sie fand in einem riesigen Vorortsaal statt, vor tausenden Menschen. Er hätte die mit zwei Worten alarmieren, als Kerntrupp einer Auflehnung gewinnen können. Hatte er doch eine Woche vorher, als er mit einem Blick Prälaten Seipel (den ehemaligen Hofmeister eines Fürsten Schönborn) und mit einem zweiten auf den Kanzleichef des Kanzlers (den ehemaligen Hofmeister des Fürsten Fürstenberg) in einer Versammlung ausrief: „Früher wurden wir von den Fürsten beherrscht, heute beherrschen uns die Hauslehrer dieser Fürsten!“, so sehr den Saal fasziniert, daß man ihm schon in Hinsicht auf die erquickend häufige Wiederholung der Worte „Schwein“, „Schweinehund“, „Kanaille“ das Prädikat verlieh, „ein neuer Abraham a Santa Clara“ (bei der Polizei brach ihm dieser Ruhm den Kragen).

Aber er kam mild, taubenzüngig, maßvoll, er tat, wie Richard III., da er sich mit zwei Beichtvätern auf der Loggia zeigte, seinem heißen Blut Zwang an, hielt er den Rechten eine Prachtausgabe der „Vulgata“ (man staunte den herrlichen Einband an, stellte ich abenteuerliche Palastreichtümer dazu vor, und diese Vorstellung wirkte stärker als der geweihte biblische Inhalt) und hielt, wie man auf solche ausgekühlten Reden sagt, eine Programmrede. Er wollte in einer wunderbar naiven Überschätzung heutiger Staatlichkeit und in der Meinung, es gäbe in den schoflen und kleinen Demokratien noch Raum für Richelieuschlauheit, den Fürsterzbischof für sich gewinnen, der ja allerdings noch immer der eigentliche Herr über Wien und Österreich ist. Er entwarf also das Bild eines zum Erben der juste-milieu-Parteien bestimmten katholischen Sozialismus — tief ernst gemeint übrigens — und begründete es in merkwürdiger Übereinstimmung mit Frank Bleis neuestem Weltbild etwa damit, daß die „ratio“, das aufgeklärte Zweckmoment, als Ideenantrieb hinter den heutigen Staaten versagt habe, daß also an seine Stelle wieder etwas Mythisches, eben der Katholizismus, treten müsse.

Aber, sei es, daß die Gedanken dieses Abschiedsabends zu nobel waren, sei es, daß die Mäßigung den Sprecher in einen Abraham a Santa Unklara verwandelt hatte — die Massen jubelten auf, als ihm nach solcher gesalbten Vorrede zum erstenmal das Wort „Schweinehund“ entschlüpfte.

Zwei Tage danach sollte er Wien verlassen.

Ich hatte — teils als Vorliebe für den Grafen, teils aus Wut über die scheinheilige Begründung des Ausweisungsdekrets, endlich aber, um dem Exilierten noch eine letzte saftige Redemöglichkeit zu bieten — einen feierlichen Bahnhofsabschied angeregt.

Aber die Polizei, die den Grafen schon den ganzen Tag über in seiner geliebten Grandhotel-Bar überwacht hatte, bekam Wind von der Sache und ließ den Bahnhof absperren, daß er erst zehn Minuten vor Abgang des Zuges hätte geöffnet werden können.

Nacht und Nebel. Adalbert, aus dem urgräflichen Hause Sternberg, kletterte heimlich über die Waggonreihen zu dem Gleise, wo sein Zug steht. (Hier halte ich die Einschaltung für angebracht, daß er 58 Jahre zählt.) Seinen Freunden hilft ein Schwindel. Sie überrennen alle, Zeitungsnamen rufend, den Bahnhofsprotier. Bald sind es zwanzig: Sternbergs Freund und Parteigänger Altgraf Salm, ein Graf H., ein Baron S., ein paar Künstler, ein Varietédirektor.

Aber da sind noch etwa 30 unbekannte und wohlgenährte Herren. Detektivs der Staatspolizei.

Ich rufe donnernd: „Hoch!“ und werde von sechs Herren am Arm gefaßt. „Reden verboten!“ Ich verspreche es scheinheilig, finde aber doch noch Atem und Stimmkraft, um die folgenden Worte zu sprechen.

„Gestatten Sie mir, Herr Graf, daß ich namens der theoretisch Ausgewiesenen dieser Stadt Ihnen ein paar Worte zum Abschied sage. In diesem Staat, wo der Staatsbürger wie in einer Schule hundertmal abschreiben muß: „Ich soll keinen Anstoß geben!“ — ist für Männer Ihrer Art kein Platz. Da diesem Staat der Anschluß an Europa versagt ist, so betreibt er den Auschluß der Europäer. Ich bitte Sie wenigstens darum, daß Sie als einer der letzten Europäer Wiens jetzt im Auslande diese Staat nach Kräfte diskreditieren, und gratuliere Ihnen dazu, daß Sie ihn verlassen müssen.“

Man ergreift mich. Sternbergs alter Diener, einen fremden Passagier mimend, ruft: „Bei uns zu Hause wäre das nicht möglich!“ Sternberg wird plötzlich umringt: er soll die Polizei beleidigt haben. Man packt auch ihn. Aber da fällt dem Verhafteten offenbar ein, daß sie durch diese Zurückbehaltung der eigentlichen Absicht, ihn auszuweisen, zuwiderhandeln, und sie lassen ihn wieder frei. Anders geschieht es mir. Ich werde bis zum Abgang des Zuges in einem Raum zurückbehalten.

Als ich ihn verlasse, ruft Sternberg eben gutgelaunt aus dem davonrollenden Wagen: „Im alten Österreich habe die Prälaten einen Bauch gehabt, im neuen haben ihn die Detektivs!“

Dann rollt der Zug in die Nacht. —

Im Proszenium Wiens wird also künftig der riesige, barhäuptige und gutblickende Mann fehlen, der seine Freunde auf der Ringstraße gerne mit Worten wie diesen anrief: „Sie, he, am meisten imponiert mir der König Wladislav von Polen. Dem hat man die wichtigsten Staatsangelegenheiten vor neun Uhr früh vortragen müssen, weil er nachher schon besoffen war.“

*) In Gitschin, dem Städtchen, wo die Preußen Anno 66 über die Österreicher siegten, kam er in eine gegnerische Versammlung von 160 Wahlmännern. Der Gegenkandidat hielt eine salbungsvolle Rede, in der er u. a. sagte: „Der Staat ist ein Adler, der Kopf das ist der König, der Leib das sind die Untertanen und die Flügel das sind die Fittiche der Kunst und Wissenschaft, mit denen er emporschwebt zu den ewigen Gestirnen.“ Da rief Sternberg vom anderen Saalende: „Und die sind das A … … ch!“ Gitschin war gewonnen.