Das technoromantische Abenteuer

von 
Feuilleton
zuerst erschienen im Mai 1918 in Die Fackel

Ich für meinen Teil war von Beginn dieser Aktion der Ansicht, daß der Kopfsturz der Menschenwürde von einem Gehirnbazillus verursacht ist, dem nur die ihm selbst verfallene Wissenschaft bislang nicht auf die Spur kommen konnte. Der Eindruck, daß die ganze aktiv und passiv am Opfer beteiligte Gemeinschaft aus spezifischen Tollhäuslern besteht, wird nicht so sehr durch die täglich gesteigerte Rapidität des Entschlusses, sich in Schmach und Schuld zu stürzen, bewirkt als durch die totale Fühllosigkeit im Angesicht der geistigen und ethischen Kontraste, zwischen denen sich dieses Schauerdrama abspielt. Man würde glauben, daß vor der Systematik der Fügung, daß allstündlich Gerechte den Tod in Feuer, Wasser, Erde oder Luft erleiden und in der gleichen Stunde ein Mann von der Engadiner Sonne beschienen wird, der als Zeichen seiner Zugehörigkeit zu einem „Bob“ auf seinem Hanswurstkostüm die Aufschrift „The Tank“ trägt; daß vor allen ständig geschauten oder gehörten Gegensätzen die Erkenntnis von der Schnödigkeit des ganzen Unternehmens zu einem Weltschrei aufbrechen müßte. Aber mehr noch als durch die Selbstverständlichkeit einer ungerechten Einteilung, vermöge deren es eine Protektion vor dem Tod und einen Loskauf vom Martyrium gibt und vermöge welcher selbst die Erinnyen, die diese Menschheit an ihre Fersen geheftet hat, prostituiert wurden, mehr noch wird durch ein anderes Moment das Bild des hirnzerfressenen Zeitalters vollständig. Das ist jener Zustand einer Epoche, in dem sie die Konkurrenz der heterogensten Zeitcharaktere, die sich in ihr begegnen, erleidet, aber nicht mehr spürt. Das Phänomen, das ich in der Richtung des siegreichen Untergangs wirken sehe, ist das der „Gleichzeitigkeit“. Die Unmittelbarkeit des Anschlusses einer neuzeitlichen Erfindung, wonach mit einem Griff die Vergiftung einer Front und weiter Landstriche hinter ihr möglich ist, an ein Spiel mittelalterlicher Formen; die Verwendung einer verblichenen Heraldik im Ausgang von Aktionen, in denen Chemie und Physiologie Schulter an Schulter gekämpft haben – das ist es, was die Lebewesen rapider noch hinraffen wird als das Gift selbst. Wenn der Aufruf des Genfer Roten Kreuzes fragt:

Soll der Sieg sich in Schimpf und Schande wandeln, weil er nicht mehr der Tapferkeit, dem ehrlichen Kampf der Landeskinder zu danken sein wird? Soll der Gruß an den heimkehrenden Krieger nicht mehr dem Helden gelten, der ohne Zögern sein Leben für sein Vaterland in die Schanze schlug, sondern lediglich dem Mann, der sich ohne persönliche Gefahr seiner Feinde mittelst Gift entledigt hat unter fürchterlichsten Leiden seiner Opfer?

so ist zunächst zu sagen, daß speziell der deutsche Gott nicht nur in einer Gaswolke daherkommt, sondern auch aus der Maschine; daß auch, an dem Zufall eines Minentreffers, einer Luftbombe oder eines Torpedos, überhaupt an allen gegen die Quantität oder den unsichtbaren Feind gerichteten Aktionen Tapferkeit und ehrlicher Kampf keinen Anteil haben, an der Bewirkung nicht und nicht an der Erwartung; daß dem Mangel an Tapferkeit bei dem bewirkenden Teil eine Fülle von Martyrium beim erwartenden Teil entspricht; daß die eben hier berufene Schanze, in die man sein Leben für das Vaterland schlägt, zu jenen Kriegsbehelfen gehört, die heute am seltensten zur Verwendung gelangen, und daß vollends das Schwert seit jener historischen Reichstagsitzung vom 4. August 1914 in diesem Krieg überhaupt nicht mehr gezogen wurde. Ferner wäre beiläufig zu erwähnen, daß die unsterbliche Ideologie, die sich auf den heroischen Begriff stützt, gelegentlich einmal, selbst wenn sie nicht im Anblick der neuzeitlichen Methoden sich problematisch vorkommen müßte, darüber nachdenklich werden könnte, ob denn auch der alte Krieg schön genug war, um die Herzensbildung von Generationen darauf einzurichten; ob denn die auf die Fortschritte der Technik kühn verzichtende Auseinandersetzung der Muskelkräfte just die edelste menschliche Betätigung vorstellt, und ob der selbst heute noch hin und wieder geübte ehrliche Kampf der Landeskinder, der darauf beruht, daß ein Landeskind dem andern in die Rippen sticht oder pollice verso behutsam die Augen zudrückt, die würdigste Grundlage der jahrhundertealten Erziehung zu vaterländischen Idealen geboten hat. Immerhin wäre es noch immer eine sittliche Aufgabe, den Kindern beizubringen, daß das Handgemenge vor dem Meuchelmord einen Ehrengrad voraus hat, und gar erst vor jenem, dessen anonymer Urheber sein Opfer in der anonymen Quantität findet. Was aber die Gase anbelangt, so ist freilich die begriffliche Distanz zwischen dem Instrument und der von ihm bezogenen Glorie die größte und schauerlichste, und was das Rote Kreuz hier, ach so vergebens, fühlt, ist von mir wiederholt und zuletzt durch die Erwägung der Möglichkeit ausgesprochen worden, jede Armee, die giftige Gase anwendet, wegen eines Verhaltens vor dem Feind, welches doch nach altmilitärischem Ehrbegriff das Gegenteil von Tapferkeit ist, aus dem Armeeverband zu entlassen. Im Wortspiel von einer chlorreichen Offensive ist schließlich dieser ganze abominable Kontrast endgültig abgebunden. Ein Kalauer könnte dieses Chaos bändigen, aber alles fernere Grauen durch die Vorstellung beschwichtigt werden, daß man die Wirksamkeit der beiderseitigen Chemie, anstatt sie an den Körpern der hunderttausende unschuldigen Laien zu erproben, durch eine wissenschaftliche Auseinandersetzung der Laboratorien erweisen möchte. Seitdem sich die Tapferkeit mit der Technik eingelassen hat, hat sie vergessen, daß die Quantität immerhin die Grenze des Irrsinns hat und daß einmal der Punkt erreicht sein muß, wo das Vorwalten unmilitärischer Kräfte so deutlich wird, daß ihnen die Austragung des Wettstreites schicklicherweise überlassen werden müßte, auf eine Art nämlich, die die gleichzeitige Förderung staatlicher Machtinteressen, also die Vernichtung von Menschenleben, ausschließt. Denn wenn man die menschliche Stimme, also auch das Kommando, auf Entfernungen wie Berlin-Wien übertragen kann, warum sollte es der Technik, die das Wunder von heute zur Kommodität von morgen macht, nicht möglich sein, einen Apparat zu erfinden, durch den es mittelst einer Druck-, Umschalte- oder Kurbelvorrichtung einem Militäruntauglichen gelingen könnte, von einem Berliner Schreibtisch aus London in die Luft zu sprengen und vice versa? Wenn Patriotismus die Hoffnung auf das Gelingen eines Gasangriffes ist und Hochverrat das Grauen davor – wobei ich zum Beispiel einer der größten Hochverräter aller Schlachten und Zeiten bin –, so kann der tödliche Humbug, ohne daß die Menschheit zugleich an Lächerlichkeit zugrunde geht, unmöglich anders als durch den Vorschlag beigelegt werden, die gegenseitigen Erfindungen auf theoretischem Wege abzuschätzen und statt der Feldherrn wieder die Techniker zu Ehrendoktoren zu machen, meinetwegen zu solchen der Philosophie. Das Mißverhältnis zwischen der Tat und der mitgeschleppten Ideologie: davon allein kommt diese entsetzliche Gasluft, in der wir glorios ersticken. Eine bunte Tracht und die Pflicht, angesichts des Vorgesetzten die Hand an die Stirn zu führen, und alles, was sonst damit zusammenhängt und vor dem Tod noch alles verlangt wird – es mögen vortreffliche Gewohnheiten und Einrichtungen sein: nur, was sie gerade mit der neuzeitlichen Art des Sterbens zu schaffen haben, inwieweit sie sie fördern oder verhindern könnten – das eben ist unerfindlich! … Diesem ganzen Chaos von Begriffen, Pflichten, Leiden, Anforderungen, in das sich ein auch vordem nicht lastenfreies Leben kopfüber gestürzt hat, wächst hier eine Realität als Symbol zu. Wer, der einen Beiwagen der Wiener Straßenbahn auch nur von fern betrachtet, hätte noch Hoffnung? Dieser Haufen von Schmutz und Elend, in dem das Menschenrnaterial in einer Art zusammengeknäult ist, bei der es auf die individuelle Zuteilung der Gliedmaßen kaum mehr ankommt – man halte dies Bild fest und frage sich nun, ob da für „Disziplin“ noch Raum ist und gar für einen „Kontrolldienst“, der feststellen soll, ob sie verletzt ward, indem Landstürmer, alte Landstürmer „vor mitfahrenden Offizieren nicht aufstehen oder ihnen nicht Platz machen“. Denn „die mitfahrenden Zivilpersonen nehmen dies selbstredend wahr und äußern sich auch über dieses disziplinlose und herausfordernde Benehmen der Mannschaft“. Dies aber hat kein Höllenbreughel erfunden. Der Teufel selbst, wenn er es sähe und hörte und schon eingequetscht drin stünde, allen Folgen der Seifenknappheit ausgesetzt, er hörte doch nichts als den selbstredenden Jammer der Menschheit und dazu eine arme Frauenstimme, die ihm beständig zuruft: „Bitte vorgehn! jemand noch ohne Fahrschein? Vorgehn, bitte vorgehn!“ Und der Regen regnet jeglichen Tag, und wieder drängt ein Troß aus Wallensteins Lager an, und jetzt pressen sie Tornister und Rucksäcke hinein, und – dennoch hat der Gedanke noch Platz, der uns alle beherrscht, weil wir im unerforschlichen menschlichen Ratschluß gefunden haben, daß das Leben mit Not, Tod, Kot viel schöner ist. Aber halt, wenn noch Platz für Disziplin ist, so reichts auch noch für den Ehrbegriff. Die arme Stimme hat einem, der nicht vorgehen wollte, wiewohl er ein Hauptmann war, zugerufen, daß er keine Bildung nicht habe, denn sie wußte nicht, daß er ein Hauptmann war, weit er als solcher nicht bezeichnet war, sondern Zivilkleidung trug. Trotzdem erhielt er von der vorgesetzten Behörde den Auftrag, die Klage einzubringen. Sie hatte „Vorgehn!“ gerufen, er aber rief, er wolle „den Platz nicht verlassen“. So hätte sie merken müssen, daß die Zivilkleidung nur ein Schein war. In der Verhandlung sagte sie, so etwas sei ihr, die „im Kriege in der Elektrischen an vieles gewöhnt sei“ – sie meinte aber den Weltkrieg –, noch nicht vorgekommen. Der Hauptmann fragte sie erregt, ob sie ihn, da er in Zivil war, wohl für einen Drückeberger gehalten hätte. Sie erwiderte, solche Gedanken lägen ihr fern, denn „was hat der Krieg mit der Elektrischen zu tun?“ Der Richter verurteilte sie, denn der Zivilist war ein Militär. All das gibt es, während es all das gibt! Auf einer Flucht rief einer, der zu befehlen hatte, einem, der zu gehorchen hatte und dem ein Knopfloch offen stand, aus dem Automobil zu: „Sie dort! Equipieren Sie sich!“ Und viele, die nicht mehr fliehen konnten, lagen in der Drina. In einem Krakauer Spital werden mit solchen, die an einer Gasvergiftung darniederliegen oder von einem Bauchschuß soweit hergestellt sind, Salutierübungen gemacht. Wunder über Wunder! Es sind die alten Ornamente zum neuen Wesen des Todes. Aber da dieser, frisch aus der Retorte entsprungen, noch keine neuen erfinden konnte, so kann die Macht der alten Ornamente nicht entbehren. Denn nicht allein dulce, auch decorum muß es sein! Nur daß die Macht den neuen Tod zu ihrer Erhaltung braucht, nur daß die alte Herrschaft nicht lieber abdankt, als ihre Stellung der Chemie zu verdanken, daß die Insignien auf die Chemikalien angewiesen sind – das ist es, was unsere siegende Kultur unrettbar dem Gifttod geweiht hat. Die Menschheit, die ihre Phantasie an die Erfindungen verausgabt hat, kann sich deren Wirksamkeit nicht mehr vorstellen – sonst würde sie aus Reue eben damit Selbstmord verüben! Aber da sie auch ihre Menschenwürde an die Erfindungen verausgabt hat, so lebt und stirbt sie für alle Macht, die sich solches Fortschritts gegen sie bedient. Die Unvorstellbarkeit der täglich erlebten Dinge, die Unvereinbarkeit der Macht und der Mittel, sie durchzusetzen, das ist der Zustand, und das technoromantische Abenteuer, in das wir uns eingelassen haben, wird, wie immer es ausgeht, dem Zustand ein Ende machen.