Das weiße Rauschen

von 
Essay
zuerst erschienen in Upon Paper

„Paper, this most recent writing material,
which has gradually displaced all others,
hides its origins in a thick darkness
that will likely never be illuminated.“

Wilhelm Wattenbach, Writing in the Middle Ages

Letzten Sommer betrat ich die große öffentliche Lesehalle der Asiatic Society in Bombay. Ich musste mich durch die überfluteten Straßen kämpfen, als einziger Mensch in Gummistiefeln stieg ich die Ein­gangsstufen der erhabenen weißen Säulenhalle hinauf, die sich in einen Wasserfall verwandelt hatte. Hinter einer Art Schultisch waren zwei Aufseher ins Gespräch vertieft und wiesen mich an, meinen Regen­schirm zu den anderen zu werfen. Über mir sirrten riesige alte Deckenventilatoren. Die Lesehalle war keineswegs kühler als die Monsunluft draußen, nur dass diese dort herumgewirbelt wurde, und sofern die Papiere nicht von der Feuchtigkeit verklebt waren, wurden sie sanft bewegt.

Ich fragte einen jungen indischen Studenten erstaunt nach den Ventilatoren, die mich eigentlich eher an Flugzeugturbinen aus den 50er-Jahren des letzten Jahrhunderts erinnerten. Und er fragte mich eben­so erstaunt zurück, wie wir denn unsere Bibliotheken in Deutschland klimatisieren würden. Ja. Was sollte ich da antworten. Ich wanderte vorbei an Schränken, hinter deren Glastüren sich angeknickte Bücher quetschten, an denen der schwarze Schimmel über die Rücken kroch (die wertvollen Bücher lagerten natürlich im Archiv), an verrosteten Karteikartenkäs­ten, deren Schubladen alle offen standen - ein feuchter Papierdschungel ohne einen einzigen Com­puter und mit einem für einen Ausländer vollkommen undurchschaubaren Bibliografiersystem, nur sterben­de Werke und das Gefühl, am Leben zu sein. Ohne ein Buch durchblättert zu haben, aber trotzdem be­glückt, ging ich wieder raus in den Regen.

Papier lebt, es reagiert auf seine Umgebung, es altert, es verliert sich, es wird restauriert oder zerrissen, es verbrennt unwiederbringlich und voller Lust und reißt dabei am liebsten ganze Bibliotheken mit in den Abgrund, es wird einem hinterhergeworfen oder es wird liebevoll in alten Manufakturen gefertigt, keines ist gleich, es wird verwahrt und geküsst, unter Kleidungsstapeln, in Tresoren, mit Locken von ver­storbenen Geliebten darin oder dem Wissen der Welt, das niemals stehen bleibt, uns aber deswe­gen die Gewissheit gibt, wir könnten das Wissen und die Welt für einen Moment halten und erfahren; und dann fallen vierblättrige Kleeblätter beim Blät­tern der Seiten heraus, getrocknet in veralteten Enzyklopädien, und tragen die Glücksversprechen unserer Großeltern.

Das Papier kann nicht verbergen, wann es bedruckt wurde. Immer ist es schon Geschichte. Wir halten immer auch die Geschichte um die Geschichte in Händen. Es ist magisch und altert wie man selbst, Es ist also wahnsinnig undemokratisch und materiell, Während mein digitales Dokument das Wort wieder in den Äther hebt, es wieder entmaterialisiert, wie viel­leicht ganz am Anfang der Menschheitsgeschichte, als man es gar nicht festhalten, sondern nur einem Minnesänger auf den Mund starren und hoffen konnte, dass man just an diesem Tag ein gutes Kon­zentrationsvermögen hatte und der Minnesänger keinen Sprachfehler oder fernen Dialekt. Jetzt ist ja alles aufgezeichnet, jedes Gespräch für immer auf meiner Festplatte (und für meine Exfreunde lesbar), aber auch irgendwie wieder im Äther. Oral - Papier - Digital. Das Papier ist uns so ähnlich, man kann es wahnsinnig schnell vernichten, es ist so anfällig und wehleidig, und dann wundert man sich doch immer wieder, wie diese Schriftrollen aus Papyrus in Ton­töpfen es so lange und zäh ausgehalten haben, wenn sie denn nicht gefälscht wurden. Meisterhände, die Patina erzeugen können. Aber auch da sind sie ja wieder so menschlich. Komödianten-Papiere und Vabanque-Bögen.

Papier ist die Haut des Gedankens. Es kann heilen und vor Verwünschungen schützen. Im alten China kurierte man mit der Asche von Papier verschiedene Krankheiten - bei Malaria beispielsweise nehme man „den ganzen Kalender des folgenden Jahres und verbrenne ihn zur Mittagsstunde des Drachen­bootfestes. Die Asche des Kalenders verpappe man und forme sie zu Pillen in der Größe von Pfeffer­körnern, von denen man frühmorgens fünfzig Stück mit Lianensaft schlucke“. Auch Zaubersprüche, auf kleine Papiere geschrieben oder gedruckt, wirk­ten Wunder. Man esse die Verwünschung einfach auf und bitte um die Heilung von Bauch- oder Geistes­krankheiten,

Eines Tages wird jeder Mensch ein MacBook besit­zen. Acht Milliarden gleich große Bildschirme, die auf alles zugreifen können und in die gleiche Matrix tippen, egal wie taub oder heiß die Finger sind, Aber wie viele Schichten von rechteckigen Papieren liegen überhaupt schon um die nackte Welt? Wer hat damit angefangen? Der Dichter Karl Immermann rief Anfang des 19. Jahrhunderts ganz erleichtert: „ich habe mich zu boden geworfen und habe die grüne erde geküszt, der ich nach der fahrt durch ein wüstes papiermeer nun erst wieder anzugehö­ren glaubte.“

Schon das Papier hat uns von der Erde abgelenkt, mit seiner Hilfe haben wir uns alternative Universen er­schaffen. Aufbewahren, sichtbar machen und abtau­chen. Wiesehr liebe ich es, von Papierschluchten verschlungen zu werden, in den Tiefen von Bibliothe­ken zu verschwinden und dem glücklichen Zufall zu vertrauen. Heute? Eine Einführung in die Esoterik, Morgen? Naturkunde mit Maria Sibylla Merian. Zum Ende des Verstehens komme ich ja sowieso nicht in diesem Leben.

Ich bin wieder angekommen in der Amerika-Gedenk­bibliothek in Berlin-Kreuzberg. Aus Trauer und Wut stößt sich mein Tischnachbar gerade seinen Kugel­schreiber zwischen den Rippen ins Herz, mehr aus Versehen, weil er den Klick-Mechanismus auslösen wollte. Wir leben im falschen Zeitalter, seufzt er, während er neben mir auf den Tisch sinkt.

Das ist ja auch kein Zeitalter gerade. Nach dem gol­denen, dem steinernen, dem geteerten und dem re­volutionären kommt jetzt das Zeitalter, das gar keines ist. Das Papier hat überlebt in den eingekauften Welten. Es schreibt immer den Text mit. Papier bindet Aufmerksamkeit wie Löschpapier, da es nicht ver­linkt ist, sondern einen Anfang und ein Ende hat. Mul­titasking wurde erfunden für indische Hungergeister oder für Rehe, die ihren Fressfeind beim Grasmahl im Blick behalten müssen. Große Kulturleistungen wurden durch die Fähigkeit zur Konzentration ermög­licht. Bibliotheken und Friedhöfe sind existenziell für den Menschen.

Eine Zeit lang kaufte ich in Läden für Haushaltsauf­lösungen Mappen voller alter Papiere, welche markiert waren von Linien für Architekten, Vergilbungs- und Kaffeeflecken oder Formularvordru­cken Damit ich mich nicht so alleine fühlte während des Schreibens, wie es mit einem neuen, weißen Block der Fall gewesen wäre. Die schönsten Sätze fielen mir meist auf den Rückseiten von Einkaufs­quittungen ein, überhaupt wurde, je kleiner das Pa­pier, mein Kopf umso größer. Ich habe auch schon versucht, getrocknete Ahornblätter zu beschreiben, die vom Druck der Stiftspitze zerbröselten, und kleine Stücke von Birkenrinde, worauf die Tinte je­doch gar nicht haftete. Und Birkenrinde bleibt auch nur auf einem Quadratzentimeter seidig und glatt, dann kommt wieder ein schwarzer Baum­borkenstriemen, so häufig wie bei einem Dalmati­ner die Punkte.

Man warte also mit einem Füllfederhalter und einem Stückchen Rinde auf den Weltuntergang. Oder man bringe ein Magazin heraus und verkaufe es bei doyoureadme? an blutleere Hipster. Die Kinder des falschen Zeitalters lieben das Papier. Ausgesuchte Ästhetik, individuelle Auflagen, abseitige Inhalte. Nie gab es so viele Läden für erlesene Papierwaren und in Leder gebundene Notizbücher auf säurefreiem Papier, damit der eigene Gedan­ke bloß bis ans Ende aller Zeiten überdauere und die Gelehrten später nicht so viel Arbeit haben mit dem Entziffern unserer Werke. Unsere Tagebü­cher sollen aussehen wie die von Patti Smith und Robert Mapplethorpe. Doch in meinem E-Mail-Ord­ner finde ich keine Einladung ins Chelsea Hotel, Stattdessen stapeln sich überall trockene Trostpflas­ter, die Magazine der letzten Saison, die man nie wieder anschaut, aber auch nicht wegwerfen will, weil wir unser ganzes Taschengeld reingesteckt haben. Man kann das Magazinpapier auch als Taschentuch für die Tränen in der Bilderinflation verwenden. Denn so richtig sieht uns keiner mehr.

Erst durch den Buchdruck wurden Bücher und damit Wissen unter die Menschen gebracht. Mit Guten­bergs Erfindung erblühte auch die Papierindustrie, Die Erfindung des Buchdrucks mit beweglichen Lettern wurde seinerzeit jedoch keineswegs als Re­volution gefeiert. Die „Schwarze Kunst“ war un­heimlich und magisch. Das Wort Gottes durch Blei und Druckerschwärze zu verbreiten galt als Frevel, Doch auf einer Lutherbibel von 1534 ist - in schwar­zer Schrift - zu lesen: „Gottes Wort bleibt ewig“ – unabhängig von der Verworfenheit des Mediums.

Die Worte verbreiten sich mit jeder medialen Revo­lution weiter und tiefer. Doch allein das träge Papier ist uns nahe. Wir werden uns immer hingezogen fühlen zum Körper des Wortes, sei es zum Menschen oder zum Papier. Auch wenn beide viel zu langsam und widerspenstig sind für den unendlichen digita­len Fluss. Soviel kann ja nicht bleiben. Das Papier dem Poeten? Die Frage ist, was uns weiterbringt, Vielleicht stellt man das Notebook wie im Büro eines Klosters auf der Bibel ab und lässt es seine Arbeit verrichten, und dann geht man in die Klos­terbibliothek und fertigt ganz leise eine Abschrift von etwas, an das man glaubt - in Schönschrift. Das Herzzerreißende der Dinge. Und dann wacht man auf in einer selbst geschaffenen Höhle, Papier quillt aus allen Ritzen, aus Körben und aus der Bade­wanne, es klebt an den Wänden, und man weiß nicht, wer das alles geschrieben und gesammelt hat, aber man hat das gute Gefühl, sein Leben mit den Händen greifen zu können.