Die Viererkette

von 
Bericht
zuerst erschienen am 15. August 2010 in Tagesspiegel
Auf der Nordseite des Hauptbahnhofs gibt es auf einer großen Brache viel Schutt und Zugluft. Nur vier Imbissbuden versuchen, diesem Ort einen Sinn zu geben. Doch seit die Busse hier nicht mehr halten, fehlt die Laufkundschaft. Ein Bericht vom Kampf ums Überleben.

Unlängst verglich Meinhard von Gerkan, Architekt des Berliner Hauptbahnhofs, die Gegend hinter dem Bahnhof mit einem sehr speziellen Landschaftstyp: „Das Nachbarschaftsmilieu kann in der sibirischen Steppe kaum trostloser sein.“ Typische Merkmale der Steppe sind ausgeprägte Winterkälte und sommerliche Trockenheit, feinerdige Böden und einförmiger Bewuchs; höchstens Nagetiere leben in ihr. Und was noch? In der Steppe von Moabit drängen sich vier Imbisse aneinander, die einzige menschliche Ansiedlung weit und breit, auf der Invalidenstraße gelegen, der nördlichen Seite des Bahnhofs. Die Imbissbuden und der Glas-Stahl-Palast stehen einander gegenüber. Aus der Sicht des Bahnhofs ist das ein beleidigender, aus der Sicht der Imbisse ein guter Witz. Vier kleine Imbisse trotzen der Kargheit der Steppe – und dem Fastfood-Angebot im Bahnhof. Wie schaffen die das?

Super-Döner ist eindeutig the place to be, wenn man in der sibirischen Steppe Hunger und Durst hat. Mustafa Koz, der Besitzer, macht meist schon morgens um sechs Uhr auf, er ist immer der Erste in der Viererkette und schließt als Letzter. Der Dönerspieß ist mit Tomaten gespickt, er macht die kleine Bude im Sommer viel zu heiß und im Winter nicht warm genug. Mustafas Augen glühen vor Überarbeitung, und wenn man ihn eine Weile beobachtet und ihn täglich in der Imbisszelle stehen sieht, wird klar: Dieser Mann arbeitet sich kaputt. Wenn er lächelt, dann für Sekundenbruchteile.

Links von Super-Döner liegt der beißende Gestank von altem Fett in der Luft, der Stand „Original Thüringer Bratwurst“ ist schuld daran, dann kommt „City- Pizza“, schließlich „Asia Wok“ und dann direkt der Bushof, wo die Omnibusse auf ihre Reisegruppen warten. Rechts neben Super-Döner führt der selten benutzte Zugang in die Tiefe der U55, auch Kanzler- U-Bahn genannt, dahinter wieder nur Schutt und Tristesse und Container der österreichischen Baufirma Porr, ausgeleuchtet von der Sonne.

Es ist Werktag, die Bauarbeiter verlassen die Gruben zur Mittagspause, Zeit für Mustafas Standard-Dialog über den Tresen hinweg.

„Hallo, mein Freund.“

„Ich hab Hunger“, sagt der Bauarbeiter mit Neonweste und Helm, ein Stammkunde.

„Soße? Ohne Soße?“

„Mit Soße.“

„Kräuter? Knoblauch? Scharf?“

„Drei Jahre Garantie?“, entgegnet der Bauarbeiter.

„Halbe Stunde Garantie“, sagt Mustafa. Hundertmal am Tag verspricht er seinen Kunden die „Schmeckt-Garantie“ und grinst dabei. Und vielleicht bezieht sich diese Garantie gar nicht auf die Döner, die ordentlich aussehen und schmecken, sondern darauf, dass er jeden Tag hier steht, lächelt und arbeitet, obwohl Standort und Job die Hölle sind.

„Irgendwas muss man ja arbeiten, oder?“, sagt er. „Sag mir einen anderen Ort, wo ich hingehen kann.“ Seitdem die BVG im vergangenen Winter die Bushaltestelle an die Ecke Heidestraße verlegt hat, ist das Geschäft deutlich härter geworden. Wer verweilt hier noch? Mustafa hat zum Glück Stammkunden, die steigen für ihn auch vom Rad ab, die anderen drei Buden fangen Rollkofferreisende und Teenager-Gruppen ab, die das Schicksal ihnen zuführt – damit sie sich an fetttriefenden Würsten und belanglosen Bratnudeln stärken, bevor sie ihr eigentliches Ziel erreichen. Nur die Sicherheitsleute, Busfahrer, Fahrgastbetreuer und Bauarbeiter sind verlässliche Kunden. Die kommen so oft, dass sie mit den Imbissen eine Vereinbarung getroffen haben: Sie zahlen für den Kaffee nur die Hälfte.

Mustafa trägt spitz zulaufende, schmale Koteletten, seine Haare glänzen vor Gel. Er ist seit einem Jahr verheiratet. Gerne würde er seine Frau holen, die in der Türkei lebt, erzählt er. Sie lernt Deutsch und wartet darauf, ihrem Mann helfen zu können. Doch die Ausländerbehörde gestatte es ihm nicht, erzählt er, seine Einkünfte als Selbstständiger seien der Behörde zu niedrig, um eine Familie zu ernähren. Er hat schon den dritten Anwalt, es ist ein schwerer Weg zum Glück.

Aber wer hinter die Dönerbude schaut, der weiß: Mustafa ist zäh, er gibt die Hoffnung nicht leicht auf, denn er pflanzt Erdbeeren, Tomaten und Sonnenblumen, in einer Erde, die aus nicht viel mehr als Sand und Schutt besteht. Der Wind treibt Kippen, Dönerreste und Servietten in die Beete. Tische und Stühle hat Mustafa vor die Pflanzen gestellt, Super-Döners Gartenterrasse. Die Busfahrer sitzen hier und rauchen, mit einem Kaffeebecher in der Hand, in den Strawberry Fields der Steppenlandschaft.

„Mustafa, der Architekt von diesem Bahnhof hat über die Gegend gemeckert.“

„Was sagt er?“

„Er findet, dass es hier nicht schön ist. Dass hier nichts Schönes steht.“

„Hier bei mir?“

Nein, gemeint hatte Herr von Gerkan das, was kommen wird, wenn die vier Imbisse längst auf dem Müll liegen: Hotels und eine Shopping-Mall. Überraschungslose Investorenpläne und Bebauungen, für die man nicht nach Berlin fahren muss, um sie zu sehen. Sie sind finanziell riskant, sozial fragwürdig und technisch schwierig. Die Spree und der hohe Wasserstand behindern eine leichte Erschließung des Bodens.

Eine gemütliche Nachbarschaft gab es am Lehrter Bahnhof noch nie. Die Invalidenstraße entwickelte sich schon im 19. Jahrhundert zu einer hässlichen Ost-West-Route. Über drei Kilometer lang war sie, voller Blut, Schweiß und Dreck, hier bildete sich die Gründerzeit ab: Drei Fernbahnhöfe (Lehrter, Stettiner und Hamburger Bahnhof), Maschinenbaufabriken, Exerzierplätze, Kasernen, die Militärakademie, das Invalidenhaus, ferner ein Zuchthaus und die Charité siedelten an ihr. Durch die Mauer und den Kalten Krieg entstand ein Niemandsland – und so wurden aus Mitte und Moabit Stadtrandgebiete. Nun soll alles anders werden, dank bester Lage. Wird es das?

Frau Becker sieht müde aus. Die Fahrgastbetreuerin arbeitet im Rahmen einer Weiterbildung seit anderthalb Jahren auf der Invalidenstraße. In einer giftgrünen Jacke, eine Tasche mit Info-Material umgehängt, steht sie mit einer Kollegin an der verwaisten Bushaltestelle vor dem Super-Döner. Sie hilft Orientierungslosen, die mit Rucksäcken, Stadtplänen und Ausflugsideen über die Steppe taumeln und schließlich am Fels der Hoffnung stranden, dem Super-Döner. Wo ist dieses Museum, der Hamburger Bahnhof? Wo das Sozialgericht, der Bus 245? Wo der verdammte Airport-Express?

„Nicht lebendig“ sei die Gegend, meint Frau Becker. Die Investorenpläne interessieren sie nicht, sie zuckt mit den Schultern. „Dann kommt eine S-Bahn dazu und ein Hotel. Ansonsten ändert sich hier gar nichts.“ Sie isst häufig bei Mustafa, nur vergangenen Winter nicht, da hat sie im Bahnhof Schutz vor der Kälte gesucht. Im Winter war dieser ungeschützte Teil der Invalidenstraße wohl der kälteste Platz der Welt.

Jetzt wirbelt ein warmer Wind Sand auf, die Werbetafel von City-Pizza fällt um, die Mittagszeit ist fast vorbei. Der Mann in der Pizzabude hat es am schwersten, er konnte in zwei Stunden nur zwei Pappbecher Kaffee verkaufen. Erst Anfang Juni eröffnete sie, zwischen Bratwurst- und Asia-Imbiss gequetscht und wie die anderen drei von mannshohen Kühlschränken flankiert.

Der Mann am Stand heißt Dursun, er macht den Job als Aushilfe und eigentlich nur aus Gefälligkeit, sagt er. Der Chef sei ein Freund, der nur wenig Erfahrung mit Gastronomie besitze. Er dagegen habe einmal einen eigenen Pizzaimbiss betrieben. Seit 1973 lebt er in Berlin, jetzt in Wittenau, hat dort einen Schrebergarten. Vor 30 Jahren hat er mit seiner Familie vor dem Reichstag gegrillt, jetzt erkennt er die Gegend nicht wieder. Lange spricht er vom Garten und den Radtouren, die er mit seiner Frau macht. Er reicht einen Kaffee über die Theke und sagt: „Die anderen Kollegen glauben, du kommst vom Finanzamt, die verstehen nicht, warum du so viele Fragen stellst, warum du so lange hier rumstehst.“

Das erklärt, wieso sich Mustafas Miene in der letzten Stunde so verdunkelt hat. Wieso er sein genaues Alter nicht verraten wollte und sein Garantie-Lächeln endgültig verging, als die Frage kam, wie viele Döner er am Tag verkaufe. Das erklärt auch, wieso die Asiatin vom Bratwurststand plötzlich an besonders schweren Verständigungsschwierigkeiten litt.

„Kann es sein, Dursun, dass der Ort so unwirtlich ist, dass sich die Imbissleute keinen harmlosen Grund mehr vorstellen können, wieso hier jemand mehr als ein Viertelstündchen verbringt?“

„Vielleicht.“

Wenn der Vermieter der Imbissbuden, Dr. Anselm Franz, von dem Standort am Hauptbahnhof spricht, hält er sich nicht lange mit Beschönigungen auf. Der 42-jährige Unternehmer hat sein Büro in der Backfabrik in Prenzlauer Berg, aus dem fünften Stock kann er hinunterschauen auf einen Brunnen und eine sogenannte Piazza. Er ist, mit seinem Kompagnon, Erfinder der „bboxx“, einer Imbissbuden-Variante, die an einen Kleincontainer erinnert, transportabel und individuell dekorierbar ist und schnell an Wasser, Strom und Gas angeschlossen werden kann. Alle Buden am Hauptbahnhof sind bboxxen.

Die Imbissleute sprechen freundlich von ihm, und wirklich, er hat Charme. „Ich habe keine Angst vor der Wahrheit“, sagt er. Seine Idee sei eigentlich erfolgreich – nur ausgerechnet an der prominenten Lage sei es der hässlichste Standort geworden. Die bboxx war seine Antwort auf den Konflikt zwischen ambitionierter Stadtplanung und unansehnlichen Imbiss-Provisorien. Am Ballongarten am Checkpoint Charlie funktioniere das, sagt er. Am Hauptbahnhof sei man vielversprechend gestartet, Marken wie Subway und Dunkin Donuts interessierten sich anfangs. „Als die Busse noch hielten, hatte der Ort noch Flair.“

Jetzt ist da nur Ödnis – und kein vernünftiges Wirtschaften mehr möglich. „Meine Mieter machen sich selber etwas vor.“ Die fünfte, leer stehende Bude will er nicht vermieten, noch mehr Billigkonkurrenz wäre für seine Mieter fatal.

„Eine optische Katastrophe“ nennt er das, was er da sieht. Die Treppen für die begehbaren Dächer der Boxen musste er abbauen lassen, weil einige Mieter ihren Müll darauf abluden. „Diese Imbisse am Hauptbahnhof rentieren sich für mich nicht, und wahrscheinlich schaden sie sogar dem Image meiner Firma“, sagt er. „Aber ich kriege es einfach nicht übers Herz, diesen Leuten aus Schönheitsgründen zu kündigen.“ Er hoffe, sagt er noch, dass der Grundstückseigner ihm bald kündige. Dann hätte sich das Problem sozusagen von selbst erledigt.

So zieht sich der Übergang in eine neue Zeit dahin. Die Steppe bleibt bestehen, mit allen Widrigkeiten, noch überleben die Imbissbuden in ihr.