Die Kinder sind in Ordnung

Essay
zuerst erschienen am 15. August 2010 in Welt am Sonntag Nr. 33, S. 68
… sangen einst schon The Who. Aber die Eltern, besonders wenn sie massenhaft auftreten, können eine Bedrohung darstellen. Zumindest eine der intellektuellen Art, wie Joachim Bessing feststellen muss

In seinem schönsten Roman, „Tomboy“ von 1998, schildert der Hamburger Schriftsteller Thomas Meinecke die Wahnvorstellungen eines inhaftierten Drogendealers in der Form von rückwärts sprechenden Zwergen, die den Zellengenossen zu Tode kitzeln wollen. Mir geht es mittlerweile ganz ähnlich. Dabei leide ich weder am Freiheitsentzug, noch darbe ich der Drogen, aber die Wahnvorstellungen habe ich trotzdem. Vermutlich ist es sogar die Wirklichkeit, die mir bedrohlich erscheint: Ich sehe Menschen mit Kindern. Sie sind überall.

Ich habe nichts gegen Familien, ich hatte selbst mal eine. Es war übrigens besagter Thomas Meinecke, der mich vor vielen Jahren, als ich ihm auf einer Party unter dem Einfluss einiger gemeinsam getrunkener Vollbiere von meiner Familienplanung erzählte, mit in etwa diesen Worten warnte: „Würde ich mir noch mal überlegen, dadurch verblödet man so ziemlich total.“ Was mir damals, nicht etwa aufgrund des konsumierten Bieres, so ziemlich total einleuchtete, da Meinecke selbst Vater einer minderjährigen Tochter war, von daher also wusste, wovon er sprach beziehungsweise abriet. Genutzt hat es aber nix, recht behalten hat er trotzdem: Das Elterndasein erwies sich als Verblödungsinstanz allerschärfster Ordnung. Und das hat – da ich mich mittlerweile ganz prächtig erholt habe, kann ich das lupenscharf beurteilen – weniger mit der persönlichen intellektuellen Ausstattung, mit dem einhergehenden Alterungsprozess oder mit den Hormonen zu tun als mit dem Umfeld. Denn mit Kindern umgibt man sich vor allem mit anderen Menschen, die auch Kinder haben. Das ist wie bei Hundebesitzern: Man kommt einigermaßen schräg rüber, bittet man hundelose Menschen, einen in den Park zu begleiten, um dort gemeinsam dabei zuzusehen, wie ein an einer Leine befestigtes Tier seine Exkremente in die Büsche abschlägt. Einem Menschen mit Hund wird das aber nicht auffallen, er wird wahrscheinlich dabei in sein Nogger beißen, n’importe quoi.

Kinder sind noch um einiges auffälliger als Hunde oder Tiere überhaupt (von Giraffen einmal abgesehen), da ihre Aktivitäten sich nicht auf das lautlose Herumscharwenzeln und Nahrung-Aufnehmen beziehungsweise Exkremente-Abgeben beschränken. Dazu kommt die Ähnlichkeit in Körperbau, Verhaltensweise und Äußerungsformen. Sie sehen: Es sind gar keine Wahnvorstellungen, und Thomas Meinecke, der Schriftsteller, hat überhaupt gar keine überschäumende Fantasie: Diese rückwärts sprechenden Kitzelzwerge, sie laufen frei herum.

Ich habe nichts gegen Kinder, ich finde sie herrlich! Der Einfallsreichtum eines Kinderkopfes im Verlauf nur eines durchschnittlichen Kinderalltags schlägt an Hakenreichtum und Farbenpracht die Fantasie beinahe aller Schriftsteller, die mir bekannt sind. Die Fragetechnik eines Kindes lässt jeden Journalisten, und sei er noch so hardboiled oder -baked und obendrein noch Kisch-Preis dekoriert: alt aussehen. Kinder sind fraglos gut. Wer das anders beurteilt, ist krank. So wie diese Irren zum Beispiel, die im Internet eine „Church of Euthanasia“ gegründet haben, um die Welt vor Überbevölkerung zu retten.

Nein: Die Kinder sind in Ordnung, wie The Who schon sangen. Aber die Eltern machen mir Sorgen. Was gewiss nicht so wäre, wenn sie hübsch zu Hause blieben, um dem Klavierspiel ihrer Kinder zu lauschen, oder ihre Tabakspfeifen schmauchten und mit den Zeitungen raschelten. Aber nein: Sie kommen zu mir ins Straßencafé, wo ich tatsächlich hin muss, um die Zeitung lesen zu können, denn meine Singlewohnung ist zu klein, um die Seiten ordentlich aufzufalten. Und, bitte, nochmals: Ich habe nichts gegen Kinder, aber das Erziehen in der Öffentlichkeit finde ich indiskret. Der Großteil dessen, worüber Eltern sich in der Öffentlichkeit mit anderen Eltern unterhalten, erscheint mir selbstbezogen und trist.

Neulich zum Beispiel, ich erzähle hier eine spontan erinnerte, noch nicht einmal bewusst nach ihrer Pointentauglichkeit gewählte Begebenheit, nimmt am Nebentisch ein Vater mit seinem ebenfalls die Söhne beaufsichtigenden Freund Platz. Der zuerst Sprechende nimmt seinen Fahrradhelm auch im Sitzen nicht ab, er ist ihm offenbar zum Teil der Straßenkleidung geworden, vielleicht ist es ihm aber auch schlicht zu viel des Aufwands, den Helm mal ab-, mal aufzusetzen. Dass dies andere, für solche Irritationen empfindliche Menschen wie mich – aber es kann nicht sein, dass ich weit und breit der Einzige bin! – erheblich in ihrer Konzentration auf die Zeitungslektüre stört, kommt ihm nicht in den Sinn. Wie auch? Kinder sind gerade deshalb so faszinierend, weil sie vollkommen auf sich selbst bezogen denken, empfinden und handeln. Gleichzeitig, eine Einzigartigkeit des menschlichen Nachwuchses unter allen Lebewesen, handelt es sich bei Kindern um physiologische Frühgeburten. Das heißt: In den ersten Lebensjahren geht mit ihrer Aufzucht ein hoher Betreuungsaufwand einher – rund um die Uhr, sonst geschehen Unglücke en masse (wer noch kein Kind hat: Einen Säugling können Sie noch nicht einmal unbewacht auf einer waagerechten Fläche liegen lassen, beispielsweise einem Wickeltisch – er wird gefahrwärts kullern!) Durch diese intensiv mit dem Kind verbrachten Jahre aber färbt der kindliche Solipsismus auf die Eltern ab – man könnte also zynisch behaupten, dass Kinder ihm eben mitnichten entwachsen, sondern ihn lediglich an ihre Eltern abstreifen. Dazu kommen noch gesellschaftliche Faktoren. Denn a) handelt es sich beim Kinderkriegen um eine Aktivität mit höchster gesellschaftlicher Akzeptanz – im Gegensatz zum Zigarettenrauchen oder Immer-dicker-Werden. Weshalb jegliche aus dieser Aktivität resultierende Verhaltensanomalie keinerlei Korrektur bedarf. Und b) kommt das Meinecke’sche Bieraxiom zum Tragen: Eltern befinden sich hauptsächlich in der Gesellschaft von Eltern. Die Möglichkeit eines Korrektivs elternspezifischer Verhaltensanomalien fehlt sozusagen qua natura.

Der Fahrradhelmträger also wandte seinen Blick nicht von den ein paar Meter weiter auf dem Bürgersteig spielenden Buben ab, während er seinem Freund erzählte, dass er den Wunsch seines Sohnes nach irgendeinem Legomännchen abschlägig beschieden habe. Doch nicht total! Und zwar habe er ihm den Vorschlag gemacht, eben dieses gewünschte Männchen aus Plastilin nachzukneten und zu formen. Was man dann auch prompt an einem der nächsten Spielnachmittage in Angriff genommen und vollzogen habe. Das Ergebnis, so der Vater, sei gelungen, und dem Sohn fehle rein gar nichts im Sinne einer gefühlten Differenz zum Naturvorbild „Lego“. Der selbst geformte – ganz dem Waldorfideal entsprechend ohne Gesicht gefertigt, darum ging es ihm offenbar – sei „ebenso gut wie der gekaufte, vorgefertigte Legomann“. Männchen sagt man nämlich nicht, das verzerrt die Proportionen schon im Vorwege, gewissermaßen gedanklich. Aus demselben Grund sind, wo wir schon dabei sind, Legosteine an sich abzulehnen: Weil Kinder durch Legosteine dazu verführt werden, Gebilde zu errichten, die allein aufgrund der Noppentechnologie sich aufrecht halten. Das aber, so ein anderer Vater, vielleicht war’s auch eine Mutter, bei einer anderen Gelegenheit: „verbiegt den Kindern den statischen Sinn“.

Ganz gleich, ob der statische Sinn nun der ominöse siebte ist, der ja vor allem in den 70er-Jahren gern herbeizitiert wurde, oder ob es ihn vielleicht nur unter Abergläubigen gibt – ich zitiere hier Menschen, die andere Menschen zum Leben und Agieren in den zukünftigen Gesellschaften des aufgeklärten Westens befähigen sollen. Ich war nicht etwa bei den Quakern zu Gast. Natürlich sind nicht alle Eltern derart verbohrt und geradezu gemeingefährlich. Aber der von Thomas Meinecke beschriebene und von mir unterschriebene Verdummungseffekt wird zusätzlich zu den bereits beschriebenen Mechanismen noch durch zwei elternspezifische Schwachpunkte begünstigt: Schlafdefizite und Zeitmangel.

Dass gewaltsamer Schlafentzug kirre macht, dürfte durch den ungebrochenen Einsatz desselben als Mittel zur Geständniserzwingung hinreichend bewiesen sein. Der Säugling muss in den ersten Jahren alle paar Stunden mit Flüssignahrung versorgt werden. Die Befüllung dauert in etwa zwanzig Minuten. Stellen Sie sich doch versuchsweise mal eine Woche lang jede Nacht einen Wecker, der sie alle drei Stunden aufweckt. Dann bleiben Sie zwanzig Minuten wach, versuchen wieder einzuschlafen, bis dann der Wecker … Nach einer Woche sprechen wir uns wieder. Ihr Wille wird sich in ein Salatblatt verwandelt haben. Nach einer weiteren Woche ist dieses gedünstet. Und selbst wenn ich ihnen dann einreden wollte, dass Leitungswasser unschädlich wird, wenn Sie den Wasserhahn mit Kupferdraht umwickeln, würden Sie nicken – nur um rasch Ihre Ruhe zu haben. Wenn ich beim nächsten Besuch fragte, wo denn der Kupferdraht an Ihrem Wasserhahn sei, würden Sie einen kaufen – nur um… genau.

Da die elterliche Schlafsituation auch dann nicht besser wird, wenn das Kleinkind feste Nahrung zu sich nimmt, weil dann die Zähne kommen oder die Albträume oder das Bettnässen, muss man sich Eltern als gründlich und genüsslich über Jahre weich gekochte Salatblätter vorstellen. Denn wenn der Schlaf wieder ungestört vonstattengeht, fangen die Beziehungsprobleme an. Auch damit terrorisieren Eltern ihre Umwelt: mit ihrem häuslichen Unglück, das sie nicht wahlweise in der Öffentlichkeit austragen, sondern weil es gar nicht mehr anders geht. Denn entweder die Konflikte äußern sich permanent, also auch im Straßencafé; oder man bemüht sich dort einer extrem aufgesetzten Freundlichkeit, die in Wahrheit nichts anderes bedeutet als passive Aggression. Man hört das liebevolle Gurren der Mutter, während der von seinem appetitanregenden Joint etwas zu redselig gewordene Vater seinen Freunden eine Indienurlaubsanekdote nach der anderen auftischt. Und während die Mutter, die der Kinder wegen „wieder“ nicht mitkiffen wollte, so freundlich mit den Kindern spricht, ahne ich, der ob Lautstärke und Mannstärke gezwungen ist, das alles zu bezeugen, dass sie, die ihre Kinder liebende Mutter, ihrem Mann, dem Vater, heute Nacht noch zeigen wird, dass man im Schlaf sehr wohl auch schweigen kann. Was fangen diese Eltern bloß miteinander an, wenn die Kinder einstmals zu Ende erzogen sind?