4859

Essay
zuerst erschienen in Numéro Homme Berlin #8, AW 2018
Fassung des Autors
Für den Ruhm muss Zeit vergehen. Über den so gut wie unbekannten Helden Witold Pilecki.

Einmal sagte eine Philosophin zu mir »Ein wahrer Held kennt seine Grenzen.«

Ich war der anderen Meinung.

Die Philosophen stehen fest in dem Bewußtsein, die älteste Wissenschaft der Menschheit zu betreiben. Also exisitiert demnach die Philosophie, seitdem es Helden gibt. Sie hat sogar, denkt man an Sokrates zum Beispiel, aus sich heraus selbst Helden produziert: lieber tot, als der eigenen Meinung abzuschwören; das eigene Leben einzusetzen — ist das etwa nicht heldenhaft?

Als Mamoudou Gassama im Mai dieses Jahres ein Kleinkind vor seinem sicheren Sturz aus dem vierten Stockwerk eines Wohnblocks rettete, rühmte man ihn als Spiderman von Paris. Volkshelden sind mittlerweile vor allem aus Fantasyfilmen bekannt. Dort retten sie während anderthalb Stunden die Welt, die allein deshalb droht unterzugehen, damit ein Held sie davor bewahren kann. Im Falle des Spidermans von Paris war es zudem noch so gewesen, dass das Kleinkind von seinem Vater unbeaufsichtigt die Brüstung des Balkons überhaupt erst erklettern konnte, weil der wiederum abgelenkt worden war. Und zwar durch sein Spielen mit Pokémon Go. Das schmälert zwar nicht unbedingt das Heldentum des Herrn Gassama. Aber irgendwie halt doch. Weil das Setting seiner heroischen Tat, der Grund für die Abwesenheit des Vaters banal ist. Zumindest im Vergleich mit den bedrohten Welten des Filmhelden Spiderman.

In Deutschland indes gibt es einen Bringdienst für Speisen aller Art namens Lieferheld. Banaler kann es aber wenigstens dann nicht mehr werden — wobei, wer weiß. Mit der Zeit wird es sich weisen. Und so wenden wir uns auf der Suche nach wirklichen Helden wie zwangsläufig der Vergangenheit zu. Anscheinend muss für den Ruhm des Helden auch Zeit vergehen, um seine Tat ins rechte Licht gerückt als eine heroische deutlich zu machen. Möglich, wir wissen es nicht genau, denn es gab vor einiger Zeit noch kein Internet und nur wenig früher noch nicht einmal Zeitschriften oder Zeitungen, davor nur sehr wenige Bücher, dass all die Helden erst nach lang erscheinender Zeit berühmt wurden. Und viele von ihnen erscheinen aus heutiger Sicht eher als Martyrer — auch das wiederum liegt an der verstrichenen Zeit, und wie sie uns geändert hat. In Berlin gibt es eine U-Bahnhaltestelle benannt nach Rosa Luxemburg. Jeanne d‘Arc wurde unsterblich gemacht mit einer genialen Zeile von Morrisey im Text für Bigmouth Strikes Again. Aber ausgerechnet in Deutschland ist mein Held Witold Pilecki so gut wie unbekannt. In Warschau gibt es immerhin einen kleinen Park, der nach ihm benannt wurde. Sowie im Rest des Landes noch hier und da Straßen. In Deutschland hingegen: nichts. Noch nicht einmal einen Parkplatz. Es gibt auch in keiner deutschen Stadt einen Stolperstein mit seinem Namen eingraviert. Noch nicht einmal ehrenhalber. Weil Herr Pilecki von Warschau aus nach Auschwitz deportiert wurde. Ordnung muss sein, das ist wahr. Es soll gerecht zugehen, insbesondere im Gedenken. Auch wenn das Schicksal des Helden mit der KZ-Häftlingsnummer 4859 ein außergewöhnliches war.

Witold Pilecki, Kolonnenführer einer Division der polnischen Infanterie, bittet im ersten Kriegsjahr 1940 darum, als Aufklärer ins Konzentrationslager Auschwitz eingeschleust zu werden. Da ist er selbst 39 Jahre alt. Man verleiht ihm eine falsche Identität, inszeniert einen Aufstand auf der Straße und zusammen mit den anderen Aufständischen und echten Aufständischen und Juden und Roma und Homosexuellen und Gottsuchern wird Pilecki in das Konzentrationslager verbracht. Es gibt Schläge zur Begrüßung, bissige Schäferhunde, ein wahllos herausgegriffener Mitinsasse aus dem Viehwaggon wird zur Einschüchterung erschossen, Witold Pilecki aber, der nur für wenige Minuten noch angeblich Tomasz Serafiński heißt, überlebt das Zeremoniell und bekommt seine Häftlingsnummer eintättowiert. Damit wird seine falsche Identität ausgelöscht, seine wahre ist es längst, denn die Nummer 4859 ist nicht wie bei dem Filmagenten die Lizenz zum Töten, sondern zum Getötetwerden.

Er bleibt dort länger als zwei Jahre. Es gibt ein Buch, von ihm geschrieben, darin hält er seine Erlebnisse fest. Es gehört zu den besten Texten, die ich je gelesen habe. Seinen ursprünglichen Plan, im Lager einen Aufstand der Häftlinge zu organisieren, muss er aufgeben. Aber er berichtet von den Vorgängen im Lager, das man bislang im Ausland für ein großes Gefängnis gehalten hatte. Durch die durch den Stacheldrahtzaun geschmuggelten Berichte Pileckis werden insbesondere die Engländer frühzeitig vom Vernichtungsprogramm der Nazis informiert. Unter anderem bittet 4859 darum, die Konzentrationslager zu bombardieren, um der deutschen Tötungsmaschine Einhalt zu gebieten. Wenn man sich für das Gefühl der Hoffnungslosigkeit interessiert, findet man in Witold Pileckis Text unvergessliche Beschreibungen. Mag sein, dass ein wahrer Held seine Grenzen kennt. Das Setting von Auschwitz jedoch ist grenzenlos. Gleich zu Anfang notiert 4859 über eine Gruppe von Häftlingen: »Sie waren keine Menschen mehr.«

Nach seiner Flucht aus dem KZ erlebt er die letzten Tage des Regimes auf polnischem Territorium, also irgendwie auch in Freiheit, aber das Setting bedeutet ja noch immer Krieg. Unter russischer Besatzung gerät er, Witold Pielecki, der als 4859 zum Held wurde, dann erneut in Gefahr. Die neue Politik fordert Opfer, man bezichtigt ihn des Verrates und erhängt oder erschießt ihn nach kurzem Prozess in einem Warschauer Gefängnis. Wahrscheinlich im Morgengrauen. 

Sämtliche Ehrungen, von denen für seine frühen soldatischen Leistungen während des russisch-polnischen Krieges, erhielt er posthum. Und ja: Man hat einen kleinen Park in Warschau nach ihm bekannt. Sein Grab gilt als verschollen. Man vermutet, seine Leiche wurde auf einer Müllkippe entsorgt.