Schnitzler-Feier

von 
Feuilleton
zuerst erschienen am 21. Juni 1912 in Die Fackel, Nr. 351/352/353.

Als er fünfzig Jahre alt wurde, mußte er dem Ansturm der Bewunderung entfliehen und den ereignisvollen Tag fern von Wien, „irgendwo am Meere“, zubringen. Es hat Dichter gegeben, die älter wurden und unbelästigt von Gratulanten an ihrem Wohnsitz bleiben konnten. Unsere Explosionen haben keine Ursache mehr. Die Zeit ist ein Knockabout: eine Flaumfeder fällt, und die Erde dröhnt. Wie kann ein Zarter so von Begeisterung umtobt werden? Es ist im Geschlechtscharakter der Generation begründet. Sie alle sind Söhne des Hermes und der Aphrodite, und ein Kräftiger könnte ihnen nur beweisen, daß sie Weiber sind. Die Position Schnitzlers im Weichbild der Gegenwart soll damit nicht geleugnet, sondern zugegeben werden. Dem Unbeträchtlichen, das sie sich zu sagen hat, vorbestimmte Form zu sein, ist auch etwas, das von der Gnade einer schöpferischen Notwendigkeit stammt. Auch diese Zeit hat ihre Dichter, die sie sich aus der Unfähigkeit schafft, Dichter gegen die Zeit zu sein. Ein Zeitdichter aber darf auch nicht mit solchen verwechselt werden, die sich die Zeit hält und die unter dem Diktat des fremden Bedürfnisses schreiben. Sie sind bloß das Zubehör und nicht der Ausdruck der Überflüssigkeit, und Arthur Schnitzler, ein konzentrierter Schwächezustand, soll mit dem Geschmeiß nicht verglichen werden, das Musik macht, weil sich der Ernst des Lebens erholen will. Er steht zwischen jenen, die der Zeit einen Spiegel, und jenen, die ihr einen Paravent vorhalten: irgendwie gehört er in ihr Boudoir. Nicht nur in seinen Anfängen; viel mehr noch später, als er nachdenklich wurde und ihr sagte, daß sich über uns ein Himmel wölbt und daß man nie wissen kann, wie die Sache ausgehe. Schnitzlers Seichtigkeit war das Abziehbild eines Jahrzehnts der schlechten Gesellschaft und als solches von Wert für ein weiteres Jahrzehnt; Schnitzlers Esprit war die Form der für ein Zeitalter maßgebenden Männerschwäche. Schnitzlers Tiefe, mit dem Verlust der Liebenswürdigkeit bezahlt, ist der karge metaphysische Rest, der sich ergibt, wenn Anatol Kaiserlicher Rat wird oder sagen wir, Conseiller imperial. Da der Autor die Verwandlung dieses Lebenstypus in Treue mitgemacht hat, so kann ihm die Liebe jener nicht fehlen, die, ohne die Nichtigkeit ihres Daseins zu erkennen, von dem Vorhandensein einer Unendlichkeit sich überzeugen lassen und denen nach dem schicksalswidrigen Handel ihres Tages gut und gern die Erkenntnis einleuchtet, daß wir nur Marionetten sind in der Hand einer höheren Macht und was dergleichen Gedanken mehr sind, die, jenseits der Kunst vorgetragen, weniger sind als eine Zibebe, welche ein Dichter anschaut. Schnitzler wird immer etwas bleiben, was als eine Verständigung zwischen Ibsen und Auernheimer, der Gesellschaft die Befassung mit Problemen erleichtert. Aber ich glaube beinahe, daß seine Lebemänner Gestalten sind und seine Ewigkeit ein Feuilleton. Helfen die Anwälte seiner Vertiefung, helfen die Worte, die sie finden, nicht diesem Verdacht? „Hier waltet auch schon das Schicksal, wie Schnitzler es ansieht, jenes Schicksal, das Pointierungen liebt …“ Das Schicksal ist ein besseres Feuilleton als jenes, dem dieser Satz entnommen ist, das Schicksal dürfte fast schon mehr ein Leitartikel sein. Ich glaube, daß nur ein Mangel an Plastik von den Gegenständen zu den „Zusammenhängen“ abschweift, und die fertige Vorstellung, daß „der große Puppenspieler uns alle an unsichtbaren Fäden hält“, nur eine Ausrede ist für das schuldbewußte Unvermögen, die Stricke zu sehen, mit denen wir uns strangulieren. Wenn die höhere Macht, deren Hand uns zu fassen kriegt, ein Dichter ist, dann braucht er die Verantwortung nicht auf das Schicksal abzuwälzen, und dann erst hat er das Recht, es zu tun. Nichts ist begrenzter als die Ewigkeitsidee, zu der ein Tändler erwacht, und von dem, was die Liebe mit dem Tod vorhat, davon hat ein Schnitzlerscher Sterbemann noch nicht die leiseste Ahnung; wenn auf solch amouröse Art die Zeit vertrieben ist, folgt nichts nach, und Herzklopfen war nur eine physiologische Störung. Daß Schnitzler Arzt ist, damit mag es zur Not zusammenhängen. Daß Medizin und Dichtung sich in ihm wundersam verknüpfen, ist uns bis zum Unwohlwerden von den Feuilletonisten auseinandergesetzt worden. Das, worauf es ankommt in der Kunst, das Patientenerlebnis, haben sie weder behauptet, noch hätten sie es zu beweisen vermocht. Um Dichter zu sein, muß man nicht eigens Laryngologie studiert haben, ihr etwaiger philosophischer Hintergrund läßt sich mit der Praxis bequem ausschöpfen, und wenn man selbst in der Medizin gedanklich weiter vorgedrungen wäre, als der Beruf erfordert und erlaubt, so würde das noch immer nichts neben der geistigen Eigenmächtigkeit bedeuten, die im künstlerischen Schaffen begründet ist. Nur eine Plattheit, deren Jargon von einem, der sich über den Tod Sorgen macht, behauptet, er mache sich über den Tod Gedanken, scheint es auch für ein geistiges Verdienst zu halten, und wenngleich Schnitzler gewiß besser ist als jene, die ihn so richtig verstehen, so hat sein Werk doch Anteil an der Banalität einer Auffassung, die es mit der zweifelhaften Geistigkeit der Medizin zu verklären sucht. Diese ist ihr „die geheimnisvolle Wissenschaft, die geradenwegs in die Geheimnisse des Menschen und des Lebens hineinführt“. Ein Rachenkatarrh ist die Gelegenheit, um alles zu erfahren, und wenn man den Leuten nur tief genug in den Mund hineinsieht, so weiß man auch, was sich im Herzen tut. Schnitzler ordiniert zwar nicht mehr, aber von der alten Gewohnheit kann er nicht lassen: „er auskultiert noch immer, wenngleich ohne Hörrohr, er klopft die Menschen im Gespräch sorgfältig ab, er fühlt ihnen den Puls und er schaut ihnen in die Augen.“ Versteht sich: nur bildlich, und es kommt trotzdem nicht mehr heraus als bei der Ordination. So ist nämlich das Leben, daß es nicht so ist. Es läßt sich nicht in allegorische Artigkeiten „einfangen“, und hat überhaupt etwas gegen diese Beschäftigung, deren Schlagwort die Marke aller um Schnitzler gruppierten Literatur ist. „Der Duft und die Farbe, der Zauber und die musikalische Anmut dieser Stadt“, solches läßt sich zur Not von diesen zarten Schindern „einfangen“ — das Leben nicht. Dort helfen hundert Assoziationen, die schon durch hundert Hände gegangen sind, und ein Hautreiz genügt, um den, der am Grinzinger Bachl spazieren geht, zum Dichter zu machen. Der Dichter vor dem Leben hat leider einen schweren Stand, und ihm ist es geradezu überlassen, alles, was noch nicht ist, zum Dagewesensein zu steigern. Was haben die Laubsägearbeiten dieser Schnitzler und Abschnitzler mit dem Chaos zu schaffen? Was die Sorgfalt der äußern Form mit der ordnenden Gewalt des Sprachgeists? Was geht den guten Geschmack die Kunst an? Der Schöpfer wird keinen Augenblick „nachdenklich“; würde ers, es wäre um die Kreatur geschehen. Dem Denker ziemt es, nicht verstanden zu werden. Aber der Nachdenkliche wird so gut verstanden, daß er für den Denker gehalten wird, versteht sich von jenen, die nicht einmal nachdenklich sind. Es geht ihm so, wie dem Gutgelaunten, den die Humorlosigkeit für einen Humoristen hält. Schnitzlers Melancholien lassen sich bequem von jenen „aufzeigen“ — auch eine neue literarische Beschäftigung —, die sich nicht einmal die Gedanken machen können, die ihnen längst vorgemacht sind. Kaum einen Festartikel habe ich gelesen, in dem nicht erkannt war, daß Schnitzler aus den Bezirken der Erotik „ins weite Land gegangen“ sei, aus den Problemen des gesellschaftlichen Lebens „den Weg ins Freie gefunden“ habe, hierauf „dem Ruf des Lebens gefolgt“ sei und „den einsamen Weg beschritten“ habe, „um in den ›Marionetten‹ zu den tiefsten Aufschlüssen vom Puppenspiel des Lebens zu gelangen“. Wie es für den Künstler zeugt, daß jeder, der sich mit ihm befaßt, immer wieder mit seinen Worten seine Werte zu fassen bekommt, so ist die stereotype Berufung auf jene allzu schmackhaften Symbole für deren Bereiter charakteristisch. Die Schicksalsküche stellt andere Genüsse her als Bilderrätsel und Buchtitel, die jeden ausgewachsenen Anatol nachdenklich stimmen, und die Hingabe ans Grenzenlose, die das Rathausviertel mitmacht, ist mir verdächtig. Es ist ein Aberglaube, daß der Künstler für das Klischee nicht verantwortlich sei, das mit ihm fertig wird, und so glaube ich, daß ein Buch, durch welches „mit Stundenglas und Hippe Freund Hein schreitet, vom Eingang zum Ausgang“, nicht zu hoch über dem Niveau leben kann, auf dem solche Vorstellung zustandekommt. „Man hört das Schnitzlersche Problem anklingen, die ewige tieftraurige Frage des Dichters überhaupt“; aber solcher Frage ist solches Ohr nicht unerreichbar. Die Zusammenhänge des Schicksals sind dunkel genug, aber bei weitem nicht so verdächtig wie die eines Buches. Das Schnitzlersche Problem, das neue, wächst im Schnitzlerschen Milieu, dem alten, es ist ein Ornament, wie alles Höhere, das für ein Inneres gesetzt wird. Es ist eine fertige Sache wie der liebe Gott, an den sie glauben, weil er einmal da ist, aber mit einem Glauben, der nicht stark genug wäre, Gott zu schaffen, wenn er nicht Gott sei Dank da wäre. Fertig hat Schnitzler das ganze Inventar dieser Unendlichkeit übernommen, die sich über dem irdischen Boudoir so gut wie über der irdischen Handelskammer wölbt. Fertig bis auf die Nomenklatur ist die ganze Vorstellung seiner Romanwelt. Eine „Bertha Garlan“ ist nicht in Wien zuständig, sondern aus einem Roman nach Wien gekommen, um in einen Roman wie in eine Pension einzuziehen. Auch das Wienertum von mehr konfessioneller Färbung zieht von der vorrätigen Poesie an, und es entsteht neben einer „Frau Redegonda“ ein „Dr. Wehwalt“, der gewiß Wigelaweia getrieben hat, ehe er in unsere Mitte kam. Es ist wohl möglich, daß die Reporter recht haben, wenn sie behaupten, „die Wiener Gesellschaftskreise hätten eine Zeitlang im Tone der Schnitzlerischen Dialoge geplaudert, geflirtet, verliebt, zärtlich und melancholisch getan“, wie nach Wildes Ausspruch die englische Natur die Präraffaeliten nachgeahmt habe. Denn die Natur geht so gern mit der Kunst wie die Unnatur mit der Unkunst. In der empfänglichen Niederung jener Wiener Gesellschaft, die für die lebensbildende Kraft Schnitzlerscher Dialoge in Betracht kommt, dürften sich solche Verwandlungen schon zugetragen haben, und die Bedeutung Schnitzlers als eines Befreiers gebundener Unkraft, Dichters eines bestimmten Lebenscottages, soll keineswegs geleugnet werden. Merkwürdig in die Irre geht diese Intimität nur, wenn sie höhere Anforderungen an ihren Autor stellt, und von ihm mehr will, als ihrer eigenen Gesundheit zuträglich wäre. „Vielleicht gibt er uns das reine Lustspiel, vielleicht auch den großen Roman …“ Nun, hier werden keine Kräfte gereizt, die imstande wären, die Daseinsform jener Kreise unmöglich zu machen, die ihren Geschmack zu solcher Begehrlichkeit steigern. Der tiefen Erkenntnis des Literarhistorikers Weilen stimme ich zu: „Daß Schnitzler bisher das Beste, was in ihm lag, noch nicht gegeben, ist die sicherste Gewähr für seine weitere Entwicklung“; so weit gehe ich noch mit. Aber dann höre ich die nachdenkliche Frage: „Soll sie uns das ersehnte deutsche Lustspiel schenken, das zu schaffen er wie kein anderer berufen scheint? Wir wissen es nicht. Aber eines scheint uns sicher: Wenn er erst klar und deutlich den Ruf des Lebens vernimmt, dann hat er gefunden, was er mit so unermüdlichem Eifer, so strenger Selbstzucht sucht: den Weg ins Freie.“ Und indem ich zweifle, ob dieser Weg zum deutschen Lustspiel führt, sucht mich eine Plaudertasche zu überreden: „Wer weiß, vielleicht schenkt er der deutschen Bühne schließlich doch noch das Lustspiel, das viele seiner Freunde und Verehrer von ihm erwarten … Daß er noch kein größeres geschrieben hat, würde nichts beweisen, denn das Lustspieltalent reift auch bei den Berufenen spät und entwickelt sich langsam.“ Sie können es nicht erwarten, die Verantwortlichen der Entwicklung; dieses Trauerspiel sehnt sich nach einem Lustspiel — und es ist schon da, denn die Gesellschaft steht besorgt vor ihrem brütenden Dichter, mästet ihn mit Zureden, und es kommt nichts heraus. Wie sollte es? Das Lustspiel „gibt“ man denen nicht, die es wollen, und gibt jener nicht, von dem sie es wollen. Gibt nicht die Liebenswürdigkeit eines Talentes, das sich in üble Laune verzogen hat, weil die gute Laune eben nicht zum Lustspiel langte. Schnitzlers Tendenzen waren so dünn, daß sie wohl oder übel einer Weltanschauung weichen mußten. Es ist das Los der Süßwasserdichter, daß sie die Begrenzung spüren, sich unbehaglich fühlen und dennoch drin bleiben müssen. Am genießbarsten sind sie noch im Abschildern ihres Elements. Aber sie suchen vergebens mit derselben oratorischen Weitläufigkeit Anschluß an Meerestiefen, wie ehedem an das Festland der sozialen Gesinnungen. „Er ficht“, hieß es damals, „gegen das gesellschaftliche Vorurteil, welches den Gefallenen die einstige Verfehlung nicht vergißt und den Weg zu späterem Glücke versperrt.“ Schon faul! Er ficht gegen die Verführung der Theaterdamen durch kleine Gagen. Er ficht gegen das Duell. Das ficht uns nicht an. Die Rebellion eines sozialgemuten Schnitzler konnte die Gesellschaft ertragen. Es ist jene Freiheit, zu der sie fähig ist, und die hundertmal schlimmer ist als die doch irgendwo von einem geistigen Punkt gerichtete Unfreiheit. Selbst Schnitzlers Humor wird keine Verwirrung stiften. Er blickt jetzt empor. Aber hat etwa der Autor des „Reigen“ die Hoffnung auf die große Lache geweckt, zu der nur der Blick von oben auf Menschliches fähig wäre? Seine erotische Psychologie geht auf eine Nußschale der Erkenntnis, langt darum nicht zum Aphorismus, nur zur Skizze, die in der Form über dem Wiener Feuilleton, im Einfall unter dem französischen Dialog steht. Dieser Humor geschlechtlicher Dinge lebt von der Terminologie und erst recht von deren Unterlassung: dem Gedankenstrich. Dieser Blick auf Physiologisches kommt nicht von der Höhe, und darum kommt auch die Metaphysik Schnitzlers nicht von den Abgründen. Schnitzlers Separee und Schnitzlers Kosmos sind von einem Wurzellosen angeschaut. Die geistigen Spitzen der Schnitzlerschen Welt stechen in die Augen: jeder weist darauf hin, das Zitat, das in den meisten Festartikeln wiederkehrt, ist wirklich „die Formel Schnitzlers“: diese Predigt der „Unbeirrtheit“. Sie könnte das Erlebnis eines großen Ethikers sein, aber er würde sie schwerlich in solchem Text halten: „Jeder muß selber zusehen, wie er herausfindet aus seinem Ärger, aus seiner Verzweiflung, oder aus seinem Ekel, irgendwohin, wo er wieder frei aufatmen kann. Solche Wanderungen ins Freie lassen sich nicht gemeinsam unternehmen, denn die Straßen laufen ja nicht im Lande draußen, sondern in uns selbst. Es kommt nur für jeden darauf an, seinen inneren Weg zu finden. Dazu ist es notwendig, möglichst klar in sich zu sehen, den Mut seiner eigenen Natur zu haben, sich nicht beirren zu lassen.“ Das ist mit Augen zu greifen. Unbestreitbar, daß auf solchem Weg ins Freie nicht gemeinsam zu spazieren ist; das liegt in der Natur dieser Allegorie, die in dem Vergleichsobjekt leider nicht restlos aufgeht. Der „innere Weg“ ist ein einsamer Weg, führt aber auch zum Romantitel. Jeder in sich, Gott in uns alle. Aber es ist, weiß Gott, weniger Glaube, weniger Metaphysik als das bekannte Insich-Geschäft der neueren Psychologie. Schnitzler ist ihr dichterischer Ausdruck, wie jene Kulturschwätzerin versichert, die jetzt jeden Abend um sechs nachsieht, ob nicht schon etwas Kunstgewerbliches unter unserm Bette steht. Sie hat noch nie „an“ die Pflicht der Kunst, uns die Lebensnotwendigkeit zu schmücken, vergessen, aber sie begreift alles, was Kultur ist, und fragt deshalb an Schnitzlers Geburtstag: „Begegnen wir nicht gleich an der ersten Gabelung seines Entwicklungsganges der unbewußten Anwendung der Mach’schen Ich-Lehre, die in der Zergliederung des Ich-Bewußtseins gipfelt?“ Traurig genug, aus dem Mund eines Weibes eine solche Frage zu hören. Aber recht hat sie schon. Schnitzler ist wirklich einer jener psychologischen Bittsteller, denen die eigene Tür vor der eigenen Nase zugeschlagen wird, jener gehemmten Eindringlichen, die vor der Bewußtseinsschwelle umkehren müssen und darüber unglücklich sind: außer sich. Wirklich einer von jenen, die auf der Lauer liegen, wenn sie vorübergehen. Aber hier ächzt nur als schmerzliche Neugierde intellektueller Nerven, was in den großen Versuchern als die tragische Sehnsucht wehrhafter Gehirne brüllt. Es ist — wenngleich in der ehrlichsten und saubersten Art — der Typus, der aus einem fehlenden Ich zwei macht. Das weiß sogar der Hermann Bahr, daß diese Form von Verinnerlichung nur innere Schwäche ist: „Furcht von Menschen, die sich bewahren wollen, weil sie noch nicht wissen, daß dies der Sinn des Lebens ist: sich zu zerstören, damit Höheres lebendig werde“. Immerhin, wenn Schnitzler sich bewahren will, wird doch etwas mehr lebendig als wenn Bahr sich vergeuden will; aber Höheres kommt dort und da nicht heraus, und es ist peinlich, den Attinghausen von Ober-St. Veit, der seinen Uli vom Griensteidl nicht mehr erkennt, mit dem Aufgebot der letzten Gradheit in einen Lehnstuhl von Olbrich zurücksinkend, verkünden zu hören: „Ich kann Dir heute nichts anderes sagen, nichts besseres wünschen, Du bist mir zu lieb. Du bist mir zu lieb, denn täusche Dich doch nicht: Du bist kein Hofrat unserer Pharaonen, laß Dich nicht dazu machen …. Bescheide Dich nicht, ergib Dich nicht an Wien, erhöre Dich selbst! Vorwärts, aufwärts, werde was Du bist!“ (Stirbt.) Wie anders Dörmann. „Wohl dir“, ruft er, „daß du gegangen den selbsterwählten Pfad, daß Sinnen und Verlangen ausreiften dir zur Tat. Es grüßt dein reines Wirken, es drückt dir warm die Hand von anderen Bezirken — ein Freund aus ›Jugendland‹“. Es kann, wiewohl die Sätze hier fortlaufend gedruckt sind, auch dem Laien nicht auf die Dauer verborgen bleiben, daß es sich um Verse, ja sogar um Reime handelt. Sie bringen mit stiller Nachdenklichkeit die Wehmut zum Ausdruck, die sich immer einstellt, wenn ein Dichter erkennt, daß er in ganz andere Bezirke gekommen ist, als in der Jugend geplant war, nämlich auf die Wieden und in die Leopoldstadt. Indem aber ein Libretto auf Empfehlung eines Zigarrenagenten von einem Fürsten Lubomirski zur Komposition angenommen wurde, zeigt sich, daß das Schicksal zwar seine Zusammenhänge, aber auch seine guten Seiten hat, und daß Baudelaire ein Pechvogel war. Von einer ähnlichen unbegründeten Schwermut erfüllt sind schon die Jugendgedichte Arthur Schnitzlers selbst, mit denen der ›Merker‹ seine Festnummer eröffnet hat, offenbar, um mit diesem aus Dämmer und Schimmer gewobenen Kitsch zu beweisen, daß der Jubilar nie ein Lyriker war. Der Merker werde bekanntlich, und wie er selbst wünscht, so bestellt, daß weder Haß noch Lieben das Urteil trüben, das er fällt. Da er keines zu haben scheint, so ist die Forderung leicht erfüllbar. Herr Georg Hirschfeld, dessen schicksalhafte Zusammenhänge mit der deutschen Literatur darin bestehen, daß er zuweilen mit Schnitzler durch die stillen Gassen der Wiener Vorstadt geht, da er an der Seite Gerhart Hauptmanns schneller überflüssig wurde und weniger profitieren konnte, dankt jenem nicht nur für das „Durchdringen in der Kunst, wo er sein ehrlicher Förderer geworden“. „In Maitagen, die Schnitzlers Geburtsfest umschließen“, sei er mit ihm gewandelt, und „nicht schwach an der Seite dieses Starken“ gewesen. „Leise, leise“ habe sich eine positive Lust am Dasein in ihm gemeldet. „Wie oft folgte ich Schnitzlers Blick, wenn er die schönen Mädchen der Josefstadt betrachtete, die Christinen (mit einem n) und die Schlagermizzis“. Leise, ganz leise zieht’s durch den Raum … Aber das ist ja von Dörmann und aus dem „Walzertraum“ — nein, „es zog ein holdes Grüßen durch die Luft. Ich aber, im Schatten dieses Dichters, durfte schauen und atmen, wortlos fragen zum reinen Wiener Himmel empor.“ Aber wahre Dich, Wien! mahnt Hirschfeld, anders als Bahr. Wahre Dich. „Du hast einen großen Dichter noch, der dein Erbe wahrt, dein unersetzliches Erbe.“ Dieser entartete Berliner verdient wirklich nicht, daß es eine Untergrundbahn gibt. Wir wollen ihn in Wien zuständig machen und ihn mit jenem andern Hirschfeld verwechseln, der plaudern kann. Ein Herr Ernst Lothar, den man gleichfalls verwechseln möchte, sagt, Schnitzler sei uns Führer gewesen, „hinaus zu den Grenzen des Letzten und Geheimnisvollsten“. Es kommt eben darauf an, wie weit man diese Grenzen steckt, das ist Standpunktsache, für manche Leute beginnt dort schon die Ewigkeit, wo ich noch den Zeitvertreib sehe, und manche stehen schon dort vor den Rätseln, wo andere nur eine Rätselecke finden. Es ist aber leider nicht zu leugnen, daß zwischen allerlei Feuilletonvolk auch die Dichter Wedekind, Heinrich und Thomas Mann die Gelegenheit, die sie anrief, benützt haben, um die Bedeutung des Schnitzlerschen Schaffens weit über alles in der heutigen Literatur vorrätige Maß anzuerkennen. Wenn man selbst die Liebenswürdigkeit, die der Anlaß zur Pflicht macht, abzieht, bleibt noch so viel übrig, daß für die kritische Potenz der Gratulanten nicht viel übrig bleibt. Sie sind wohl auch zur Kritik nicht verpflichtet. Wenn aber Frank Wedekind behauptet, daß Schnitzler ein Klassiker und der einzige Dramenschöpfer sei, der nach zwanzig Jahren deutscher Produktion lebe, so ist weder die Selbstlosigkeit solchen Lobes noch die Verkennung Hauptmanns begreiflich und die Frage gestattet, ob Wedekind wirklich die theatralische Haltbarkeit des „Weiten Landes“ oder die journalistische Haltbarkeit des „Freiwilds“ neben „Erdgeist“ und „Pippa“ für diskutabel hält. Solche Äußerungen eines von seiner Produktion auf gewerbliche Probleme abirrenden Genies sind unerquicklich und sollten von einer innern Zensur unterdrückt werden, solange es Redaktionen gibt, die ihnen Vorschub leisten. Ich glaube, daß Wedekinds Bedeutung für das deutsche Drama länger vorhalten wird als seine kritische Autorität, deren Äußerungen zugleich mit jenen Geistern veralten werden, denen sie gelten. Arthur Schnitzler „Meister“ zu nennen, möge Herrn Zweig überlassen bleiben, der es mit Recht tut, nicht ohne die beruhigende Zusicherung zu geben, daß seine Generation, wiewohl sie „anderes wolle“, die frühere nicht entwurzeln werde. Was sie will, die Generation des Herrn Zweig, weiß ich, und Herr Zweig weiß es auch. „In unserer Zeit, da die Kunst sich gern der Popularitätssucht, der Geldverdienerei, der Journalistik und Gesellschaftlichkeit kuppelt“, sei der Anblick Schnitzlers erfreulich. Nichts lenke mehr „von der Vista auf die Werke ab, als jene kleinen Unsauberkeiten des Charakters, die uns die Indiskretion der Nähe leicht preisgibt“. Herr Zweig kennt sich aus und hat ganz recht, wenn er Schnitzler von dem Drang zur Geldverdienerei, zur Journalistik und zur Gesellschaftlichkeit ausnimmt. Es ist nur die Frage, warum die neue Generation, die zu all dem inkliniert, die es weiß, und die ihr Ende bei der Neuen Freien Presse voraussieht, sich nicht lieber umbringt, und was Schnitzler anlangt, so ist gewiß zum Lobe seiner Person zu sagen, daß er sich nie um jene zweifelhaften Subsidien mangelnder Persönlichkeit umgesehen hat, sondern daß sie von selbst zu ihm gekommen sind. Schnitzler ist von ihnen umringt und sitzt in der Fülle aller Leere, ohne daß er das Talent jener Betriebsamkeit aufwenden mußte oder konnte, die heute den Wert ersetzt. Seine Position ist zwischen Bedeutung und Geltung, und eine geheimnisvolle Verwandtschaft mit ihm muß die Welt so hingerissen haben, daß sie ihm gern entgegenkam.