Norah Vincent, Self Made Man

Buchempfehlung
zuerst erschienen 2006 in der NZZ am Sonntag

In einem sehr schwachen Moment wird jede Frau einmal den Wunsch gestehen, ein Mann sein zu dürfen – und sei es auch nur für einen Tag. Herauszufinden, wie es ist, einen Männerkörper zu haben. Unangestrengt Macht auszuüben. Mit Frauen flirten. Die Fronten wechseln.

Norah Vincent hat sich diesen Wunsch erfüllt. Die 35jährige ist nicht transsexuell. 2003 kündigte sie ihren Stellung als Journalistin und lebte eineinhalb Jahre als Mann. Was sie dabei erlebte, hat sie in einem Buch aufgeschrieben, dessen Lektüre für Frauen und Männer geradezu schädelsprengende Erkenntnisse bringt. Zum ersten Mal steht hier aufgeschrieben, was es in unseren Gesellschaften bedeutet, ein Mann zu sein. Und wie Frauen sich gegenüber den Männern verhalten. Kurz: „Self-Made Man“ wird das überraschendste und wichtigste Buch nächster Zeit sein.

Das Aufregende daran ist vor allem die Perspektive, die Norah Vincent einnimmt. Sie beobachtet nicht eine fremde Kultur, die durch dieses Beobachtetwerden sich anders benimmt – Margret Mead hatte so in den dreißiger Jahren die Geschlechterverhältnisse in  Neuguinea zu erforschen versucht. Norah Vincent bleibt in der Männerwelt unerkannt. Durch den Druck, nicht entdeckt werden zu wollen, wird sie gezwungen, männliche Verhaltensweisen zu erlernen. Miss Vincent agiert als eine Mischung von Stuntman und Soziologin. Sie beobachtet nicht nur, sie durchlebt es. Durch ihren vollen Einsatz von Körper und Seele wird die Reporterin reichlich belohnt.

Erstaunt stellt sie fest, wie umstandslos eine Männerfreundschaft zustande kommt: „Diese Solidarität unter Gleichgeschlechtlichen sollte uns Frauen mit dem Feminismus beigebracht werden. Den Männern muß niemand sagen, daß Brüderlichkeit eine Stärke ist. Das ist ihnen klar.“ 

Als Norah, die sich nun Ned nennt, ihren ersten Handschlag von einem anderen Mann erhält, bemerkt sie den Unterschied, der nicht – wie Simone de Beauvoir es behauptete – klein ist, sondern tatsächlich riesengroß: „Dieser Mann, den ich noch nie zuvor getroffen hatte, gab mir die Hand und es gab mir ein echtes Gefühl. Er hieß mich willkommen. Die meisten Frauen, denen ich jemals die Hand gegeben, hatten dabei etwas Wesentliches zurückgehalten. Als ob wir uns in ständigem Wettkampf miteinander befinden würden. […] Begrüßungen unter Frauen erscheinen mir häufig als gespielt und herzlos, voll falscher Gefühligkeit. Sich umarmende Frauen sind wie zwei gleichgepolte Magnetstücke, die von der Konvention gegeneinandergegedrückt werden sollen. Frauen berühren sich an den Armen und Wangen, aber nur flüchtig. So flüchtig es eben der Höflichkeit geschuldet ist. Das geschieht aus Gewohnheit und des schönen Scheines wegen. Eine hohle Geste, die wir nur geben, weil sie uns abverlangt wird.“

Das sind harte Worte. Keine Autorin und kein Autor konnte es bislang wagen, so etwas aufzuschreiben. Und wenn, dann wäre der Mann eben Frauenhasser genannt worden. Und die Frau? Wahrscheinlich frustriert oder krank. Eher beides. Aber weder Norah als Ned, noch die Frau Norah Vincent hassen Frauen. Im Gegenteil: Miss Vincent ist lesbisch. Sie hat es, wie Ned, von Natur aus auf Frauen abgesehen, was wesentlich zu ihrer gelungenen Maskerade beiträgt. Denn Vincent will, daß Ned andere Frauen kennenlernt, um mit ihnen Sex zu haben. Jedenfalls treibt „er“ es ziemlich weit. Hierbei ist noch ein Wort zu der Maskierung fällig: Norah Vincent ist ein herber Typ. In ihrer Rolle als Mann verstärkte sie ihre männlichen Gesichtszüge durch eine resolute Brille, Crewcut-Frisur und einen täuschend echten Dreitagebart, der in einer komplizierten Prozedur aufgetragen wurde. Zudem hatte sie sich 15 Pfund Muskelfleisch zugelegt. Ein Sprachtraining hatte sie männliches Atmen und deren Sprechweise gelehrt.

Derart verwandelt lernt sie alleinstehende Frauen über das Internet kennen. So lange es über Schriftverkehr lief, ging alles gut. Die Frauen waren entzückt von den sensiblen Gedichten, den einfallsreichen Emails, die sie von diesem Mann namens Ned erhielten. Wenn sie sich dann auf ein Rendezvous im Starbucks einließen, wurde es reichlich kompliziert: „Sie beschrieb mir zwei Stunden lang ihre qualvolle Scheidung und alle Umstände, die dazu geführt hatten. Sie war völlig am Ende, ein Zwangscharakter, der in seiner eigenen Herzschmerz-Leier gefangen war. Sie tat mir leid, aber es ging ihr ja nicht schlechter als anderen Frauen. Im übrigen war ich ziemlich unwillig, gleich beim ersten Date zu ihrem Therapeuten gemacht zu werden.“

Daß die Frauen außerdem kaum fähig waren, sich auf den Mann gegenüber einzulassen - heißt: auch ihm einmal zuzuhören - erstickte mehrfach hintereinander jede mögliche Beziehung im Keim. Ned fragt eine Frau, ob sie eigentlich ausschließlich in ihrem Kopf lebe „‘Oder nimmst Du auch noch andere Menschen wahr?‘ Darüber dachte sie einige Sekunden nach, ohne das geringste Anzeichen, mir die Frage übelgenommen zu haben: ‚Ja, ich glaube, ich lebe irgendwie schon in meinem Kopf.‘“

Anzunehmen, daß die schriftliche Anbahnung zu diesen eher kopflastigen Partnerinnen geführt hatte. Aber Ned versucht auch eine direkte Variante: In einigen Bars spricht er sie direkt an. Eindeutig, um flirten zu wollen. Vor allem erntet Ned dort Zurückweisungen und kommt zu dem Schluß: „Es ist ein Wunder, daß Männer und Frauen überhaupt jemals zueinanderfinden. Ihre Signale sind zwangsläufig gegensätzlich. Ihre Verhaltensweisen sind von Grund auf entgegengesetzt. Als Frau hatte ich es viel leichter andere Frauen kennenzulernen. Es gibt die Frauensprache, die es auf eigentlich befremdende Weise ermöglicht, sofort draufloszuquatschen mit einer anderen Frau.“

Erstaunlich ist nämlich, was passiert, wenn Norah Vincent die Maske fallen läßt, und sich anderen Frauen – den kopflastigen und solchen aus Bars – als Frau zu erkennen gibt: Groß ist die Erleichterung und sogleich setzt die Neugierde ein. Diese – und vielleicht ist es nicht nur Neugierde – führt dann in mehreren Fällen so weit, daß die Frauen nun plötzlich doch mit ihr ins Bett wollen – mit Norah, wohlgemerkt, nicht mit Ned „Für die meisten Frauen ist Sex eine Begleiterscheinung. Es ist der Dampf, der aus der Maschine quillt. Das Feuer entsteht im Gespräch. Es geht um ‚Kannst Du mich zum Lachen bringen? Sprichst Du mit mir?‘ Es geht nicht um ‚Bist Du reich und hast einen großen Penis?‘ Ich glaube, es geht sogar weniger darum, ob der andere ein Mann ist oder eine Frau. Es geht allein um: ‚Bist Du für mich da und hörst mir zu?‘“

Norah Vincents Erkenntnissen zufolge ist es Sex – die Lust ihn haben zu wollen, die Furcht, es könnte darauf hinauslaufen, der Bammel vor Zurückweisungen - der eine Verständigung zwischen Männern und Frauen so schwer macht. Das ist nichts Neues. Aber durch dieses einzigartige Experiment wird es fühlbar gemacht. 

Um herauszufinden, wie Männer sich unter sich verhalten, checkt Norah Vincent, die Katholikin ist, als Ned in ein Kloster ein. Dort, in der isoliertesten aller Männergemeinschaften bekommt sie zu spüren, daß sie trotz Maskerade kein Mann ist. Die inneren Antennen der Mönche melden, das mit Bruder Ned etwas nicht stimmt. Nachdem sie herzlich aufgenommen wurde, distanzieren sich die Brüder allmählich von ihr – wie Norah Vincent herausfinden muß, geschieht dies zum Schutz vor Ned, den sie der Homosexualität verdächtigen. Denn Norah Vincent ist zwar prima verkleidet, sie hat einen Bart und geht und spricht wie ein Mann – aber sie fühlt anders. Und deswegen ist ihr Verhalten nicht männlich. Im Kloster lernt Ned, daß Männer ihr Gefühle anders äußern als Frauen. Was heißt: Sie tun es selten bis gar nicht.

Hier erreicht Norah Vincent einen Punkt, von dem aus sie sich der Männerwelt nicht anzunähern schafft. Sie ist eine Frau, perfekt in männlicher Hülle gekleidet, aber sie kann nicht aus ihrer Haut. Sie will mehr geben, mehr an Gefühl, an Zuneigung, an Verständnisbereitschaft, als Männer es einem Geschlechtsgenossen zugestehen.

Es ist der Moment, da das Buch Züge einer Kriegsberichterstattung bekommt: Norah als Ned findet sich eingeschlossen zwischen der geradlinigen Front der Männer, die sie nicht passieren kann und dem verwirrend abgefassten Gebiet der Weiblichkeit, das sie verlassen hat, um den Frauen als Mann gegenüberzutreten. Doch auch dies ist eben nicht leicht, wie sie feststellen muß, denn: „So sehr die Frauen sich auch einen Mann wünschten, der die Kontrolle übernehmen würde, wollten sie gleichzeitig einen, der sich verletzlich zeigt. Einen Mann, der seine Facetten hatte und sich öffnen konnte[…] So war ich zwar, aber deswegen nahmen die Frauen wiederum an, ich sei in Wahrheit wohl homosexuell[…] Von einem Mann wurde erwartet, den Feminismus in jeder Hinsicht zu unterstützen, Frauen als gleich anzuerkennen und so zu behandeln, dabei  aber traditionell männlich zu bleiben, die Frau wie eine Dame zu behandeln, sie zu führen und die Rechnung im Restaurant zu bezahlen.“

Dieses schiefe Männerbild läßt sich nicht nur nicht erfüllen – es macht beide Seiten, Männer wie Frauen nur unglücklich. Bei Norah Vincent äußert es sich in Zorn und Selbstzerfleischungen. Irgendwann ist sie so weit, daß Ned ähnliches Gedankengut hegt wie jener Mann mit dem ehrlichen Handschlag, den sie zu Anfang ihrer Reise zum Mittelpunkt der Männlichkeit kennengelernt hatte. Der hatte ihr, nachdem sie ihm Ned’s wahre Identität enthüllt hatte, gesagt: „O Ihr verfluchten Frauen! Ihr könnt nichts auf sich beruhen lassen, oder? Ihr wißt nie, wann Schluß sein muß. Das ist der Grund, weshalb ihr verdroschen werdet.“

Ähnliches von einer Frau zu lesen – selbst wenn sie es in der Maske des Mannes tut – ist erhellend. Das macht dieses Buch eben wichtig. Und Norah Vincent gebührt von beiden Lagern ein großer Applaus.