Der Irrsinn liegt im Auge des Betrachters

Essay
zuerst erschienen am 29. Juni 2012 in Die Welt
Ein letztes Gonzo-Abenteuer: Fünfzig Jahre nach seiner Entstehung kommt Hunter S. Thompsons erster Roman, das „Rum Diary", mit Johnny Depp in die Kinos

Es war der heißeste Tag des Sommers, und der Deckenventilator rührte lustlos in der stickigen Büroluft. Bester Laune verließ ich das Hochhaus, wo wir sonst mit mürrischen Gesichtern unsere Texte in die Tasten hauen, wenn wir nicht gerade Dartpfeile auf ein fotokopiertes Bild des Chefs werfen. Im Aufzug traf ich noch den neuen Jungredakteur, der mir eine Tüte gestrecktes Crack verkaufen wollte, um sein Gehalt aufzubessern, aber ich war noch verkatert von der letzten Nacht und lehnte dankend ab.

Draußen stieg ich in mein Auto, einen auf dubiosen Wegen aus dem Libanon reimportierten Mercedes CE 300, und bretterte ans andere Ende der Stadt, wobei ich zwei bis drei rote Ampeln überfuhr. Ich hatte das Schiebedach aufgekurbelt, im Radio lief „A Horse with No Name“. Zum Glück fand ich irgendwo in den Tiefen des Handschuhfachs eine warme Dose Bacardi Cola, sodass ich nicht völlig verdurstet war, als ich beim Kino ankam und den Wagen quer auf einen Behindertenparkplatz stellte. Die Pressevorführung zu „Rum Diary“, einer Verfilmung des ersten Romans von Hunter S. Thompson, hatte längst begonnen, als ich mich unter dem Gemurre der Kollegen in die Mitte der fünften Reihe drängelte, um dann gleich noch einmal umzukehren, denn ich hatte vergessen, mir unten an der Theke ein Sixpack eiskaltes Bier mitzunehmen.

Als ich endlich saß, die Nachbarn links und rechts hatten ihre Plätze gleich geräumt, war auf der Leinwand Johnny Depp in Großaufnahme zu sehen. Zuerst dachte ich, er sei geschminkt wie in „Edward mit den Scherenhänden“, „Charlie und die Schokoladenfabrik“ und all den anderen Phantastenrollen, die er in den letzten zwanzig Jahren gespielt hat. Aber diesmal sollte Depp nur blass und verkatert aussehen, so wie man eben aussieht, wenn man für ein paar Tage in einem Hotel in Puerto Rico gewohnt und in dieser Zeit für einen vierstelligen Dollarbetrag aus der Minibar getrunken hat. Das „Rum Diary“, das der amerikanische Schriftsteller und Journalist Hunter S. Thompson vor fünfzig Jahren geschrieben hat, handelt von einem Amerikaner von Anfang dreißig, der mit seinem Leben nichts Rechtes anzufangen weiß und in den karibischen Inselstaat aufbricht, um sich als Redakteur bei einer abenteuerlich korrupten Zeitung durchzuschlagen und, wie der Name andeutet, jeden Tag sehr viel Rum zu trinken.

Der Film lief so ab wie erwartet, ich sah Cabrios und Bowlingcenter, Traumstrände und Hafenspelunken, ich hörte cholerische Chefs herumbrüllen und drogensüchtige Reporter monologisieren, alles im strahlend-konservativen Stil der späten Fünfzigerjahre, und ich hätte die zwei Stunden im dunklen Saal für einen Erholungsschlaf genutzt, wenn ich mich nicht gefragt hätte, warum mich gerade dieses Jugendwerk von Hunter S. Thompson so begeistert hat, als ich es las - kurz bevor sich der Autor 2005 in seiner Farm in den Rocky Mountains mit einer 45er Magnum in den Kopf schoss, als wollte er dem eigenen Mythos noch im Tod ein Denkmal setzen.

Genau das, so dachte ich und legte die Beine auf die Lehne meines Vordermanns, ist der Grund für die Größe des Buchs und für die Banalität des Films. Das „Rum Diary“ entstand, lange bevor Hunter S. Thompson zu einem Klischee wurde, das er selbst und nach ihm so viele Journalisten und Popliteraten kopiert haben, ein Klischee, dessen Requisiten Hawaiihemden und Drogen, Cabrios und Spirituosen, Sonnenbrillen und Handfeuerwaffen waren. Zumindest die Waffen haben die meisten Nachahmer natürlich weggelassen.

Ich jedenfalls nahm die Sonnenbrille ab und rieb mir die Augen. Die Filmbilder wirkten plötzlich überbelichtet, wie Erinnerungen an einen Urlaub, den man nie erlebt hat. War das nicht das Geheimnis des „Rum Diary“ gewesen? Dass dieser Roman eine Zartheit und eine Schwermut besaß, die in den späteren Werken von Hunter S. Thompson mehr und mehr verschwand, bis am Ende nur mürrische Rüpelhaftigkeit übrig blieb? Dass es in dem Tagebuch nicht um ein abenteuerliches Leben ging, sondern eher darum, dass einem dieses Leben selbst dann entgleitet, wenn man es jagt, als sei es ein wildes Tier?

Auf der Leinwand begab sich Johnny Depp gerade, nachdem er in seiner verrückten Redaktion einen Aufstand angezettelt hatte, der im Buch gar nicht vorkommt, auf einen LSD-Trip, der im Buch ebenfalls fehlt. Das sollte wohl zeigen, wie der berühmte Gonzo-Journalismus funktioniert, den Hunter S. Thompson mit irren Reportagen über die Hells Angels oder das Kentucky Derby erfunden hat: Der Berichterstatter, der in der Ich-Form von seinen wilden Recherchen erzählt, verletzt die Grenze zwischen Subjektivität und Objektivität, Fakt und Fiktion, Beobachtung und Teilnahme. Geblieben sind davon heute jene Selbstversuche, bei denen Autoren für drei Monate auf ihr Handy verzichten.

Vielleicht ist die ganze Gonzo-Sache vorbei, dachte ich melancholisch und verließ den Kinosaal. Ich stand nicht mitten in der letzten Szene auf, kletterte nicht über alle Sitzreihen nach vorne, mein Schatten fiel nicht übergroß auf die Leinwand. Draußen - der Sommerhimmel hatte sich nicht blassrosa verfärbt - zerknüllte ich keinen Strafzettel, setzte mich nicht ins Auto und drehte nicht den Zündschlüssel um. Ich hob den Arm, das Taxi hielt gleich am Bürgersteig.