Im Maul des Wals

Reportage
zuerst erschienen 2000 in mare Nr. 23, S. 102-112
Fassung des Autors
Auf der Azoreninsel Pico wurden Wale vom Ruderboot aus mit Harpunen gejagt. Die alten Männer erzählen

Gleich fängt der Gottesdienst an. Also wird es wohl wieder nichts. Nur mal angenommen, es gibt diesen Mann hier in Sao Mateus wirklich, dann ist er jetzt in der Kirche. Wer im Maul eines Wals war, gebissen wurde und überlebte, der ist auf der Azoreninsel Pico mit Sicherheit gläubig. Der Pfarrer mag da gestern ja was anderes erzählt haben, vielleicht hat er einfach Ärger mit dem Mann. Der ist sicher gläubig und im Gottesdienst, jetzt, wo ich an seiner Tür stehe. Hier, mittendrin im Atlantik sind doch alle katholisch. Und demütig, weil sie, wo sie auch sind auf ihrer kleinen Insel, immer diesen riesigen Berg vor Augen haben. Der Vulkankegel ist die Insel, er gibt ihr ja auch den Namen. Die Menschen sind hier nur Gäste, die geduldet werden.

Wenn es den Mann gibt, dann ist er wie alle anderen an diesem Sonntag in der kleinen, weiß getünchten Kirche, deren Glocken gerade schlagen. Gibt es ihn? Oder ist der Mann, der im Maul des Wales war und dennoch lebt – ein Phantom? Überall wird die Geschichte erzählt. Als ich sie zum ersten Mal hörte, habe ich sie geglaubt. Beim nächsten Mal kamen die Zweifel. Ich habe mir die Geschichte bestimmt zehn Mal angehört. Einige Tage war ich ganz sicher: Das ist ein Märchen, kann nur ein Märchen sein. Und jeder alte Mann auf der Insel, mit Ausnahme von Joao de Macedo Alves, erzählt es, um zu zeigen: Ich war ein Walfänger.

Aber keiner kennt den Mann oder wenigstens dessen Namen. Ich stehe nur noch aus Prinzip hier vor dem flachen, weißen Haus mit den Tomatenstauden davor, ich stehe hier, um mir danach sage zu können: Wusste ich es doch, so was gibt es nur in der Bibel.

Gil Brun Avila war der erste, von dem ich die Geschichte hörte. Er und Leonel Ferreira waren wie immer am alten Hafen gegenüber dem flachen Haus, in dem das Walfangmuseum von Lajes ist. Sie standen im Regen. Auch wenn die Tür des Walfangmuseums auf ist, wirkt es geschlossen. Eine dicke geteerte Holzbohle, eingeklemmt zwischen vier senkrechten, rostigen Metallstangen, zwingt die Besucher, einen großen Schritt rein oder raus zu machen. Neben dem Eingang liegen weitere dicke Holzbretter. Sie werden abends vor der Tür aufgebaut, um Meerwasser, das oft über die Kaimauer und die Straße rüberkommt, abzuhalten.

Gil und Leonel waren groß in Form, sie zogen ihre Jack-Lemmon-Walter-Matthau-Nummer besonders liebevoll-brutal durch. Endlich neue Zuhörer. Jeden Tag aufs neue saß ich unter dem Betondach am Hafen, bekam den eiskalten Wind und manchmal das Salzwasser ins Gesicht und hörte die alten Walfänger-Geschichten.

Immer war es ein Fest. Besonders, wenn Leonel Ferreira seine große Geschichte: „Als der Wal Gils Schädel knackte – das ist lange her, aber man merkt es Gil noch heute an“, erzählte. Erzählte? Er zelebrierte sie. „Man merkt es Gil noch heute an.“ An dieser Stelle lacht er boshaft. Beim ersten Mal drängte sich Gil dazwischen um die Geschichte von dem Walfänger den der Pottwal quer im Maul hatte zu erzählen. Der Mann habe überlebt, „hat jetzt am Bauch Narben“ sagt Gil. Aber er kenne ihn nicht, „das muss irgendwo anders auf der Insel gewesen sein“. Gil zwinkert mit dem rechten Auge.

„Glück gehabt!“ ruft Leonel übertrieben laut, und alle, die hier unter dem von vier Betonpfeilern und nur einer Betonwand gehaltenen Betonflachdach in den Pfützen des hereingewehten Salzwassers auf dem Betonfußboden stehen, alle ahnen, jetzt kommt sie. Die Geschichte vom Pottwal, vom Riesen, der Gils Schädel brach, irgendwann Anfang der 70er Jahre. Jahreszahlen kennen die alten Walfänger nicht. Leonel sagt, es war vor dreißig oder zwanzig Jahren. Gil grunzt nur, „ist lange her“. Leonel, 72, auf der Steinbank am alten Hafen, hat die Hände wie immer in den Taschen seiner hellbraunen, kurzen Windjacke, grinst sein teuflisches Grinsen.

Es zeigt zuerst Humor und Wärme. Aber wenn man es genauer betrachtet, kommt darunter etwas diabolisches, brutales hervor. Leonels Mund ist ganz schmal und die Augen sind plötzlich riesengroß und glänzen. Der Blick passt gut zu Sätzen wie: „Vor kurzem kam im Fernsehen ein Bericht über Walfang. Sie sagten, wir seien böse zu den Tieren gewesen.“ Er macht kunstvoll Pause und sagt dann genussvoll: „Die haben recht.“ Im Museum führt er mir die Harpunen vor. Das sind wüste, rostige Dinger, spitz und scharf. Sie haben einen widerlichen Mechanismus, der dafür sorgt, dass sich ein zehn Zentimeter langer Eisenstab direkt hinter der Spitze im Walfleisch querstellt, sobald die Harpune mit der Schnur zurückgezogen wird. Leonel klappt das Metall aus und sagt: „Ouch! Das tut bestimmt weh.“ Dann lacht er kurz und hart. „Lass uns zu Gil gehen, dann zeige ich dir, wie man mit so einem Ding richtig trifft. Man braucht viel Technik.“

Richtig schlecht kommen die alten Walfänger auf den Azoren im Rückblick nicht weg. Sie fingen, im Vergleich zu den japanischen und norwegischen Industrieschlachtschiffen, nur wenige Wale. Und nur die im Gegensatz zu anderen Walarten eigentlich nie vom Aussterben bedrohten Pottwale. Alle anderen ließen die Männer in Ruhe. Denn nur die Pottwale gingen, wenn sie tot waren, nicht unter. Das „flüssige Gold“ in ihrem Riesenschädel, der ein Drittel ihres Körpers einnimmt, ließ sie an der Oberfläche treiben. Das Öl wurde früher vor allem an die Kosmetikindustrie verkauft.

Sie benutzten nur Harpunen und Lanzen, nie Netze, nie Feuerwaffen. Jeder der alten Männer, die früher in den kleinen, mit sieben Mann besetzten Kanus, auf Walfang gingen, betont: Die Tiere hatten eine faire Chance. Oft entkamen Wale. 1952 wurden auf den neun Inseln der Azoren knapp 700 getötet, so viele wie nie zuvor und nie mehr danach. 1984, im letzten offiziellen Fangjahr, waren es sechzig. Nie wurden mehr als ein Zehntel aller weltweit getöteten Wale in den besonders walreichen Azorengewässern erlegt. Selbst Greenpeace hatte in den 80er Jahren mitgeteilt: Rund um die Azoren hätte man eine Ausnahme vom Fangverbot hinnehmen können.

Leonel Ferreira blickt hämisch in die Runde, sechs ehemalige Walfänger schauen ihn fordernd-fragend an. Sie haben die Geschichte schon hundertmal gehört, sie wissen, auch diesmal wird sie wieder gut sein. Gil spielt mit: Er, das Opfer von Leonels Attacke, geht ein paar Schritte weg, zieht die Schultern hoch, grinst und macht laut „pfft“. Einige lachen jetzt schon.

Leonel lästert mit tiefer, rauher Stimme: „Gil sagte, harpunier das Vieh! Ich sah genau, das wird nichts. Aber wenn dein Oficial sagt, harpuniere!, dann würdest du auch deine Frau harpunieren. Also warf ich die Harpune, obwohl ich nur die Flosse sah.“ Leonel traf den Wal nicht richtig, aber der traf das Kanu mit der Schwanzflosse. Es zerbrach. Um den Knall zu beschreiben, holt Leonel beide Hände aus den Jackentaschen, macht Fäuste, dreht die Handrücken nach unten und lässt die Finger hochschnellen. Sie sollen die Holzstücke des kaputten Kanus sein oder die Besatzung, etwas, das durch die Luft ins Wasser fliegt.

Gil donnerte gegen eine Planke, seine Schädeldecke knackte, er verlor das Bewusstsein. „Häh, häh, häh“ kichern einige Zuhörer. Gil fiel ins Meer, überlebte, weil ihn die anderen schnell ins Wrack zerrten. Das einem Fremden so zu erzählen, ist Frevel, zumindest wenn Gil in der Nähe ist. Das darf nur der alte Leonel.

Gil, 76, ist der Don der Walfänger in Lajes. Sein Gesicht ist hager, die Haut rauh, wettergegerbt, voller Bartstoppeln. Seine Augen springen hin und her, ständig. Immer ist er in Bewegung, quirlig, zappelig, schnell. Doch seltsamerweise wirkt er dabei nicht hektisch, nur rastlos. Nie sitzt er am Morgen, wenn die alten Walfänger sich am Hafen treffen und auf die Steinbänke niederlassen. Gil steht oder geht, auch wenn er spricht, umher, das genaue Gegenteil von Leonel, der stundenlang mit den Händen in den Taschen dasitzt, redet und dabei Ruhe ausstrahlt.

Gils Ruf als Kommandant von Walfang-Kanus ist legendär. Keiner hat so viele Tiere erlegt, keiner so große, keiner war so oft, so lange, so erfolgreich draußen auf dem Meer. Deshalb gehen die Leute noch heute, dreizehn Jahre nach dem offiziellen Walfangverbot und zehn Jahre nach dem Walfang über die Straße zu Gil ,um ihm händeschüttelnd Respekt zu bezeugen.

Gil fing mit vierzehn Jahren an. Damals gab es in den Walfänger-Kanus noch keine feste Besatzung. Wenn der Ausguck die Rakete in die Luft schoss, rannten alle zum Hafen, die ersten sieben waren im Boot. Später wurde die Mannschaft eines Kanus ein festes Team. Der Oficial stand hinten an der Steuerpinne, als uneingeschränkter Boss. Gil: „Wer zu nett zu seinen Leuten war, der fing keinen Wal.“ Vorne im Kanu stand der Mann mit der Harpune, der zweite in der Hierarchie. Wie der Oficial und der Ausguck, der den Wal gemeldet hatte, bekam er zwei Anteile vom Wal. Die anderen fünf im Kanu, die Ruderer, je einen.

Die Neulinge kamen hinten zum Oficial und mussten sich nach vorne arbeiten. Alle hatten andere Jobs, waren Fischer, Hafenarbeiter, Bauern, Hirten. Wenn die Rakete am Himmel war, ließen sie alles fallen und rannten zu den Kanus. Viel Geld war mit dem Walfang nie zu verdienen. Die Besitzer der Fabriken, in der die Wale zu Lebertran und Öl verarbeitet wurden, bekamen ihren Teil, ebenso die Firmen, die die Kanus stellten.

Die Walfänger konnten das ganze Jahr über in den Läden und auf dem Markt anschreiben lassen. Was sie am Ende des Jahres ausbezahlt bekamen, reichte gerade, um die übers Jahr angesammelten Schulden zu tilgen. Gil Brun Avila hat 1975, das zeigen alte Unterlagen im Walfangmuseum, am meisten von allen Walfängern verdient: 22533,20 Escudos, das waren damals etwa 200 Mark.

Es gibt viel zu beachten beim Umgang mit Gil. Man lädt Gil nie zum Essen ein. Er würde ablehnen, und es wäre ihm peinlich, weil alle wüssten, warum er ablehnt: Gil kann mit Messer und Gabel nicht umgehen, er isst nur mit den Fingern, geht deshalb nie auswärts essen. Also: Keine Einladung zum Essen!

Mach keine Witze über Gils Fahrzeug! Das ist ein überdachtes, hellblaues, dreirädriges Moped, das ein Auto imitieren soll. Gil darf kein Auto fahren, weil er Analphabet ist. Eigentlich dürfte er auch kein Moped fahren ohne schriftliche Führerscheinprüfung. Aber da wird in Lajes für den großen Gil die Ausnahme gemacht. Witze über das Dreirad mit dem 35 km Schild erst, wenn Gil selbst einen gemacht hat! Als Gil mir am zweiten Tag vor den Augen vieler alter Walfänger besonders herzlich die Hand zum Abschied gibt, bricht er einen Bann. Ab jetzt reden sie alle mit mir.

Ich höre: Man spricht nie in Gils Anwesenheit über seinen einzigen Sohn. Der starb mit 21 Jahren bei einer Explosion der Walfabrik von Lajes, einen Kilometer westlich vom Hafen. Ein Boiler hatte zuviel Druck, ging in die Luft, als Walknochen zerkocht wurden. Gils Sohn war der einzige Tote.

Gil hält sozusagen Hof. Es stürmt, die Wellen sind hoch, knallen gegen die schwarzen Steine, ab und zu kommt Wasser über die Mauer. Er reagiert nie auf Wasserspritzer, erzählt – das präsentiert er als besonderen Leckerbissen – wie er mal ins Wasser fiel und Walkot ins Gesicht bekam. „Der Wal hatte Angst, der hat sich in die Hosen gemacht, ich schnappte gerade nach Luft und bekam die Wal-Scheiße in den Mund.“

Gil gibt nicht an, er ist nie der Held seiner Geschichten, das ist immer der Wal, der entkam, der mit dem Kopf oder der Schwanzflosse ein Boot zerschlug. Die Geschichten, die für Gils Ruf hier im Ort sorgen, erzählt er nicht. Die höre ich später von anderen, und ich höre immer viel Respekt in den Stimmen.

Beispielsweise als Gil gegen jede Erfahrung sagte: „Wir bleiben!“ Alle anderen Boote, seine Konkurrenten, ruderten weiter, nachdem der Wal abgetaucht war. Gils Leute murrten. Das war etwas Besonderes auf einem Walfangkanu, wo der Oficial uneingeschränkte Befehlsgewalt hatte. Aber Gil setzte sich durch und zwang mit all seiner Autorität die Mannschaft vierzig Minuten lang stillzuhalten. Der Wal, achtzehn Meter, kam ganz nahe bei Gils Kanu wieder hoch. Sie erlegten ihn. An einem Tag, an dem alle anderen keinen bekamen.

Als ich ihn danach frage, ist es ihm peinlich und er sagt nur: „Die Fontäne war anders als sonst, es war nur ein Gefühl, ich kann es nicht erklären, so was muss man im Blut haben.“ Diesen Satz, „das muss man im Blut haben“, benutzen die Walfänger alle. Sie haben es im Blut, die anderen nicht. Glaubt er an die Geschichte mit dem vom Wal gebissenen Mann? Gil zieht die Schultern hoch und schweigt lange, bevor er sagt: „Das kann niemand erfunden haben, dafür ist es zu verrückt. Das traut man sich nur zu erzählen, wenn es stimmt.“ An diesem Tag hat mir das eingeleuchtet.

Gil hatte gesagt, der Mann könne nicht aus Lajes sein. Das wüsste er sonst. Es gibt und gab natürlich ein paar Leute, die nicht mit ihm reden. Aber das sind andere Geschichten. Eine davon: Bevor Gil Leonel als Harpunier in sein Kanu holte, hatte Gils Schwager achtzehn Jahre den Job. Fünfzehn Jahre davon sprachen die beiden kein Wort miteinander. Warum? Es gibt nur Gerüchte: Gil, andere Frauen, wütende Gattin, tobender Schwager. Gil knurrt dazu nur: „Er war ein guter Tracador.“

Sie waren ein gutes Team, trotz des wortlosen Streits an Land und zu Wasser.

Einer, der mit den beiden im Kanu war, erzählt: „Gil sagte zu mir, Francesco, sag diesem Wichser da vorne, er soll harpunieren. Ich gab das weiter und bekam die Antwort: Sag dem Mann ohne Eier da hinten, er soll mich näher an das Vieh bringen. Keiner im Kanu hat gelacht, erst später an Land.“

Harpunier und Oficial, die mussten sich blind verstehen, exakt aufeinander abgestimmt handeln. Nachdem Gils Schwager starb, kam Leonel als Harpunier in Gils Boot. „Gil befahl, harpuniere!, also warf ich die Harpune, man macht immer, was der Oficial sagt.“ Das ist hier die Regel, bedingungslos. So hatte es Leonel von Kleinauf gelernt: „Auf dem Boot bestimmt nur der Oficial. Aber nur auf dem Boot.“ Dann sticheln sie wieder liebevoll, erzählen, wer wann wo kotzen musste, wer wie mal über Bord fiel und wie klein wessen Hoden sind.

Die Walfänger töteten fast nur Weibchen und Jungtiere. Die sind in Horden unterwegs. Wurde ein Tier getötet, sammelten sich die anderen um die an der Oberfläche treibende Leiche. Dieses Beistandsverhalten machte die Wale zu einer guten Zielscheibe. Hatte man einen, bekam man noch mehr. Männchen, die bis zu zwanzig Meter lang und siebzig Tonnen schwer werden können, sind dagegen vorsichtige Einzelgänger. Sie können eine Stunde unter Wasser bleiben, einiges länger als die Weibchen, sind deshalb schwerer zu erlegen. Dennoch erzählt fast jeder Walfänger, er habe früher nur Männchen gejagt.

Das ist gelogen, und weil sie, um als ehrenwerte Helden dazustehen, lügen, dachte ich, die Geschichte mit dem vom Wal gebissenen Mann ist auch eine Lüge. Die soll zeigen, wie gefährlich sie lebten. Die Geschichte ist eine Wandersage. Dachte ich. Allerdings eine, die nur auf der Insel wandert. Ein moderner Mythos. Dachte ich. Kurz darauf sah ich die Narben und sprach mit dem Mann. Die Geschichte ist wahr.

Leonel berichtet mir am nächsten Tag, als Gil nicht zuhört, weil er auf dem Steintisch Makrelen fürs Mittagessen ausnimmt, stolz: „Mit Gil habe ich mal einen neunzehn Meter Wal geholt, neunzehn Meter. Ich hatte nie Angst um mein Leben, ich hatte nur vor einer Sache Angst. Dass wir dieses Vieh nicht kriegen würden.“ Gil drückt seinen linken Daumen in die Unterseite der Makrele, bis sie platzt. Nun räumt er mit dem Zeigefinger die Innereien raus, wirft sie in die Plastiktüte und den Fisch in den Eimer, schnappt die nächste und ruft: „Was erzählt der da? Man sollte ihm kein Wort glauben. Leonel, erzähl die Geschichte von Braque!“

Der war Tracador eines anderen Bootes. Francisco Braque starb, weil sein Fuß sich im Seil verfangen hatte, als der harpunierte Wal tauchte. Er blieb fast eine Stunde unter Wasser. Als der hochkam, haben Gil und Leonel ihn getötet. Am Ende des achtzig Meter langen Seils hing Braque. „An dem Tag haben wir keinen Wal mehr gefangen, alle gingen an Land“, erinnert sich Leonel.

Die alten Männer in Lajes, Ribeiras oder Sao Roque erzählen immer Geschichten von Kameraden, die bei der Jagd auf die großen, eigentlich aber völlig ungefährlichen Säugetiere starben oder schwer verletzt wurden. Erzählen, wie oft eine Schwanzflosse ihr Boot zertrümmerte, wie sie ins Meer fielen. Die Geschichten sind für sie wichtig, weil sie belegen, wie gefährlich die Jagd war. Die Männer brauchen das.

Viele von ihnen wanderten in den sechziger und siebziger Jahren in die USA oder nach Kanada aus. Dort hatten sie Drecksjobs, lebten in Ghettos, lernten kaum englisch und bekamen nicht den Respekt, der ihnen auf Pico als Walfänger zustand. Ein Scheißleben ohne Walfang sei das in Amerika gewesen, brummt Toni Domingos Avida, 51. Wie die meisten kam er zurück, wie Leonel, der ein paar Jahre in San Diego als Schweißer arbeitete. Wie alle, ohne Ausnahme, hatte er nichts anderes zu tun, als sich sofort wieder einen Platz in einem Walfänger-Kanu zu besorgen.

Das war wichtig für das Ego. Hier wurden richtige Männer gebraucht. Wenn sie sich am Hafen trafen und erzählten, kamen die Kinder, hörten ehrfurchtsvoll zu. Gute Geschichten waren auch beim hundertsten Mal noch gut. Avida grinst wie Leonel, als ich ihn frage: „Glauben sie an die Geschichte von dem Mann im Walmaul?“ Er antwortet nicht. Joao de Macedo Alves, 65, hat sie auch mehrmals gehört. „Ich glaube einfach nicht, dass sie stimmt.“ Alves war mehr als zwanzig Jahre Walfänger in Sao Roque, an der Nordseite von Pico. In der alten Walfabrik steht er im Halbdunkeln, ächzt ab und zu, weil seine Wirbelsäule schmerzt und erzählt nur Geschichten, die er selbst erlebt hat. Dabei wirkt er hart, obwohl er eine weiche Stimme hat und ein rundes, friedlich wirkendes Gesicht mit roten Pausbacken. Sein Onkel Timeo starb, als eine Walflosse ihm sämtliche Rippen brach und den Nacken. „Wir holten ihn tot aus dem Wasser.“ Dann nuschelt er einen Satz mit dem Wort „schlabbrig“.

Joao Alves war dabei, als ein Harpunier den Wal getroffen hatte und mit der Lanze töten wollte. Er warf sie in dem Moment, in dem der Wal sich aufbäumte, „und die Lanze traf den Schenkel des Harpuniers, da kam eine Blut-Fontäne. Er war tot, als wir an Land kamen, und überall war Blut.“ Einmal starb in einem Kanu direkt neben dem, in dem Joao Alves saß, ein Mann an einer Herzattacke, „vor Aufregung“. Joao lacht. Ein anderer, der nicht schwimmen konnte, fiel ins Wasser, als ein Wal das Kanu rammte. „Er ertrank.“ Joao zuckt die Schultern.

Er bleibt sachlich, und deshalb wirken Sätze wie: „Es waren gute Zeiten, die besten meines Lebens“ brutal, nachdem er zuvor alle Todesfälle aufgezählt hatte, bei denen er dabei war. „Man konnte nie viel Geld verdienen, aber es war etwas, das man nicht wegen Geld tat.“ Da sei noch eine Geschichte, die er unbedingt erzählen müsse. „Aus Respekt vor den Walen.“ Er war auf dem Motorboot, das die Kanus nach draußen zog. Ein Wal, „gut achtzehn Meter“, wurde harpuniert, zerschlug das Kanu und floh. Ein zweites Boot harpunierte den Wal, der zerbrach auch dieses und floh aufs Meer raus. Ein drittes Boot bekam den Wal, und der zerbrach auch dieses.

„Er war ein Kämpfer. Er hatte eine Chance und er hat sie genutzt.“ Joao sagt das ehrfurchtsvoll. Er selbst habe mal Walzähne von ganz nah gesehen. „Der Wal ging direkt auf unser Boot, er biss es kaputt. Ich fiel auf den Boden, ganz flach. Als ich mich aufrichtete, sah ich ihm direkt in sein rechtes Auge. Dreißig, vierzig Zentimeter Abstand zum offenen Maul. Gerade als ich mich zur Seite rollte, kamen die riesigen Zähne von unten hoch.“ Joao hebt die gefalteten Hände, nimmt sie ganz, ganz langsam etwa dreißig Zentimeter auseinander. „So groß und spitz. Wale haben nur unten Zähne.“

Er formt mit den Händen ein offenes Maul. „Im Gebiss des Wals kann man nicht überleben.“ Er lässt das Maul zuschnappen. „Der wäre tot, so ist das nun mal, Berufsrisiko.“ Mit zwölf Jahren kam er das erste Mal auf ein Kanu. Vier Jahre früher als üblich. „Ich war ein großer Junge und mein Vater Oficial.“

Plötzlich geht er drei Schritte weg vom Fenster in den schwarzen Schatten eines fünf Meter hohen Boilers und erzählt mit einer völlig veränderten Stimme: „Ich war dreizehn, mein älterer Bruder war auch dabei, es war schlechte See, schlimmes Wetter, hohe Wellen. Wir töteten zwei Wale, aber wir konnten sie nicht halten, wegen des Wetters, wir mussten die Taue kappen.“ Ich gehe ihm nach in den Schatten.

Und sehe: Der Mann weint. Tränen rollen langsam seine Wangen hinunter. Er geht weiter nach hinten, tiefer ins Dunkle. „Das Wetter war so schlecht, wir konnten nicht zurück durch die Brandung, wir waren mehr als 24 Stunden draußen, ohne Nahrung, es war schlimm, mein Bruder und ich fragten Vater, Papa, wir haben Hunger, und er musste sagen, ich habe nichts für euch, Jungs. Am nächsten Morgen kamen wir an Land, mühsam. Wir aßen schnell etwas, da kam die nächste Rakete. Wir gingen wieder raus und töteten einen Wal. Das war ein Triumph.“ Er kommt aus dem Schatten zurück. Sagt lange nichts. Dann: „Die Geschichte vom Mann, den ein Wal biss, ist unwahrscheinlich. Wenn einer was weiß, ist es Joao. Der kennt alle.“ Dass er aber Joao kennt, ist ein Glückstreffer. Die alten Walfänger verlassen ihre Dörfer nie, auch die die mal ausgewandert sind, bleiben in ihren Dörfern, gehen nie raus. Joao aber war mal hier im Walfangmuseum mit einem Fernsehteam. So hat er ihn kennengelernt.

Joao Goncalves, 65, ist seit vierzig Jahren Look-out. 31 Jahre stand er im Dienst der Walfänger auf dem Vigia da Queimada, dem weißen, zweistöckigen Turm zwischen Lajes und Ribeiras. Er suchte sechs Tage die Woche mit dem Fernglas den Horizont nach Walfontänen ab. Dann kamen ein paar Jahre Pause wegen des Fangverbots, „in der Zeit war ich daheim und hatte Krach mit meiner Frau.“ Jetzt ist Joao Goncalves wieder auf dem Turm. Er arbeitet für die Wal-Watcher, die Touristen in Gummibooten möglichst nahe an Wale ranfahren.

Der Turm steht auf einem ins Meer ragenden Vorsprung, der Look-out kann von hier das Wasser an der gesamten Nordseite der Insel beobachten. Goncalves sitzt in einem etwa acht Quadratmeter kleinen Raum auf einem Holzhocker. Sein Fernglas ist mit einem Lederriemen auf einem Holzgestell festgebunden, zwei kleine Walknochen sind daran genagelt. Sie sorgen dafür, dass das nichts wackelt. Joao starrt hinein und bewegt es mit dem Oberteil des Gestells langsam nach Westen auf der Suche nach Fontänen. Die ist eineinhalb Meter hoch, immer vier Grad nach vorne und ganz leicht nach links geneigt, sagt er. Auf der festen Fläche unter dem Fernglas sind Grad-Angaben.

Joao Goncalves hat den Ruf, ein menschlicher Taschenrechner zu sein. Sieht er einen Wal und ein Boot, muss er die Geschwindigkeiten schätzen, ausrechnen, wie schnell das Boot in welche Richtung fahren muss, um direkt auf den Wal zu treffen und die Anweisungen per Funk weitergeben. Keiner kann das so gut wie Joao. Er ist mit dem Fernglas am Ende der Skala angekommen, bewegt das Gestell jetzt langsam zurück nach Osten. Das macht er ohne Pause, jeden Tag.

Draußen scheint die Sonne, drinnen ist es bitterkalt, der Wind pfeift durch den Spalt. „Wir können keine Glasscheiben reinmachen, die Sonne würde reflektieren.“ Nur das kleine Heiligenbild, das mit zwei Nägeln an dem weißen Kalk befestigt ist, bewegt sich nicht. Das Geräusch des Winds übertönt die Musik aus dem Kofferradio und auch das, was Joao sagt.

Er ist eine Quasselstrippe, redet, redet, redet. Hört Fragen nur selten und macht den Eindruck, er sei zu lange allein auf dem Turm gewesen. Das ist ein Mann, der Selbstgespräche führt. Er hat Nachholbedarf, will sprechen, antwortet auf drei- oder viermal gestellt Fragen nicht. „Ich sehe 22 Meilen draußen noch einen Wal.“ Könnte stimmen. „Ich habe von hier einen Blickwinkel von 270 Grad.“ Klingt unwahrscheinlich. Aber er beharrt darauf.

Er war noch nie in einem Walfängerkanu. „Ich habe von hier oben genug Wale gesehen, ich muss nicht auf das Wasser.“ Jede Anekdote, jede Geschichte mit einem toten Walfänger – Joao erzählt sie. Auch die von dem Mann, der vom Wal gebissen wurde. Wo finde ich den Mann? Beim zweitenmal sagt er: „Serge kennt ihn.“ Serge? „Ja, Serge hat mal die Narben gesehen.“

Serge Viallelle, 37, ist der Erfinder des Whalewatching. Der Franzose aus Lyon kam vor sieben Jahren nach Pico, fing klein an und hat inzwischen drei Schlauchboote und die größte Touristenattraktion auf den Azoren. Er und seine Leute bringen im Sommer Urlauber dorthin, wo Look-outs Wale gesehen haben. Viallelle hat eine Theorie zum Walfang auf den Azoren: „Das war eine Machonummer. Die sind noch Anfangs der Achtzigerjahre rausgerudert und sagten, die Wale hätten Angst vor Motorengeräuschen. Bullshit! Ich war mit Motorbooten schon so nahe an Walen dran, dass ich sie berühren konnte. Die Tiere sind sehr zutraulich. Walfänger haben diese lächerlichen Wettbewerbsgeschichten, die Wettläufe zu den Booten und immer dieses: Wer kriegt den Wal? Hätten die sich abgesprochen, hätten sie viel mehr erwischt. Die brauchten das einfach so. Dann erzählen sie immer, wie groß die Männchen waren, die sie töteten. Die haben nur Weibchen und Junge getötet.“

Ja, den Mann mit den Narben gebe es, jeder erzähle doch von dem. Nein, er kenne ihn nicht. „Ich habe ihn gesucht, monatelang. Meine Idee war, die Pfarrer zu fragen. Wer sowas überlebt hat, ist hier gläubig. Aber ich habe ihn nicht gefunden.“ Am nächsten Tag frage ich ihn: Warst du bei allen Pfarrern? Er sagt: Bei allen. Am nächsten Tag frage ich: bei wirklich allen? Er antwortet: ja, bei allen. Nur der von Sao Mateus war damals weg, bei einem Seminar auf dem Festland.

Der Priester ist ein netter, älterer Mann mit einem großen Problem. Er sagt: „Ja, die Geschichte stimmt.“ Später: „Ja, ich kenne den Mann.“ Aber er sagt nicht den Namen, und sagt nicht, wo er wohnt. Warum? Zu laut sagt der Pfarrer: „Er überlebt mit Gottes Hilfe und nur deshalb, und er kommt nur manchmal zum Gottesdienst.“ Der Priester ist empört, will nicht, dass bekannt wird: Trotz des biblischen Erlebnisses im Maul des Wals ist der Mann nicht strenggläubig und lässt ab und zu einen Gottesdienst ausfallen. Der Pfarrer will den Namen dieses Mannes nicht in den Mund nehmen.

Der wohnt in Sao Mateus, an der Tankstelle rechts ab, leicht bergauf, sein Haus steht genau in der Kurve. Sagt die Frau, die dem Pfarrer den Haushalt führt. „Nein“, die Narben habe sie nie gesehen, aber sie kenne ihn von klein auf. Heute Morgen habe sie ihn gesehen. Über den Wal-Biss habe er aber noch nie gesprochen, der Mann wolle da nicht darüber reden, „obwohl alle ihn danach fragen, seit damals, immer wieder“.

Das Haus in der Kurve. Ich klopfe. Eine Frau öffnet. Ihr Bruder sei in den Weinbergen, komme spät abends zurück. „Kommen sie morgen wieder.“ Ja, ihr Bruder sei mal vom Wal gebissen worden. Aber da wolle er nicht darüber sprechen. „Na gut, dann kommen sie morgen nochmal. Aber sie werden keinen Erfolg haben. Vielleicht ist er in der Kirche, vielleicht nicht, versuchen Sie es einfach hier.“

Sonntag, am frühen Abend geht die Fähre, das ist meine allerletzte Chance. Die Kirche beginnt gerade. Vielleicht ist er doch dort, manchmal geht er ja. Vielleicht ist er zuhause. Ich klopfe an die schwarz gestrichene Holztüre. Jose Silveira Jorge öffnet. „Nein, meine Schwester hat mir nichts gesagt. Nein, ich gehe heute nicht in die Kirche, ich bin nicht besonders gläubig.“ Aus Deutschland? Um etwas über den Walfang auf Pico zu erfahren? So weit? Das fasziniert ihn. Ja, er habe Zeit, und klar, würde er von seiner Walfängerzeit erzählen.

„Mein Vater war Oficial. Wie meine beiden Brüder wurde ich Walfänger. Mein Bruder wurde von einem Wal getötet. Die Schwanzflosse brach sein Genick.“ Wir sitzen in der Küche. Sie ist klein, die Decke keine zwei Meter hoch, der Raum wirkt wie ein Holztisch mit vier Wänden drumherum. Die Mikrowelle auf der schmalen Vitrine ist ein Fremdkörper. Jose sagt: „Ich bin nicht reich, aber ich kann leben.“

Er war zweimal als Oficial drauen, war sieben Jahre Tracador. „Ich war sechs Jahre Look-out. Nach meinem Unfall.“ Unfall? „Ja, ich hatte einen Unfall. Aber da will ich nicht darüber sprechen.“ Er holt eine halbvolle Flasche Anisschnaps, Gläser und Wasser. Doch, er will darüber sprechen, er braucht nur noch Zeit. Später holt er eine zweite, volle Flasche, kein Wasser mehr. Die Atmosphäre ist witzig, weil er weiß, worauf ich raus will, was ich hören und sehen will. Er wartet und amüsiert sich.

Und irgendwann am Nachmittag steht der Mann mit dem dicken Bauch auf, zieht sich den grau-blauen Pullover und das weiße Hemd aus der Hose, zeigt seinen weißen Speckbauch. Nachdem ich gelallt hatte: ich bin aus Deutschland hierher gekommen, ich muss die Geschichte hören, ich will die Narben sehen. Sie sind auf der rechten Seite. Ein nach rechts flachgelegtes Y, die drei Stränge haben Verästelungen, die Nähte. Mit beiden Händen kann Jose Silveira Jorge die Narben nicht bedecken. „Da hat mich ein Wal gebissen.“ Er sagt das feierlich. Es muss so um 1960 gewesen sein. „Ich war noch keine dreißig.“

Erzählen Sie bitte! Und jetzt erzählt er, er habe so lange geschwiegen, habe nie mehr darüber reden wollen, weil ihn anfangs alle immer danach fragten, ständig. Aber aus Deutschland hierher wegen des Walfangs, das gefällt ihm. „Wir sind nur zu sechst im Boot, ich bin der Tracador, der Wal dreht sich immer nach rechts, zu sechst können wir ihm nicht folgen. Also stoppen wir. Plötzlich kommt der Wal direkt auf uns zu, er schlägt zweimal mit dem Kopf gegen das Kanu. Ich und zwei andere fallen raus. Mein Onkel ist noch im Kanu und schreit ganz panisch: Gib mir deine Hand! Ich sage: Moment! Da ist was an meinem Rücken. Ich greife nach hinten und fühle das Maul. Es ist glitschig. Meine Hand ist im Maul. Er beißt zu, ich bin im Maul drin, die Hand.“ Er hebt seine rechte hoch. „Und mein Bauch. Der war damals schon dick.“

Ja, doch, es macht ihm Spaß, die Geschichte zu erzählen, er genießt sie, als habe er lange auf die Gelegenheit gewartet. Seit mindestens zehn Jahren habe ihn keiner mehr gefragt. „Das hat mich schon gewundert.“ Vielleicht hätte er zuvor schon geredet. Vielleicht. Jetzt redet er auf jeden Fall. Setzt sich wieder. Schenkt nach. „Alle schreien. Aber mir tut nichts weh. Der Wal drückt mich gegen das Boot, rammt mich immer wieder dagegen. Dann lässt er ab. Die Hand hat nichts abbekommen, mein Bauch hat geblutet, aber nicht mal arg. Ich hatte fast einen Monat lang schwarze Beine, voller Blutergüsse.“

War der ganze Bauch im Maul? „Nein, nur dieser Teil.“ Jose steht auf, packt mit beiden Händen die dicke Schwarte, drückt sie.

Der Wal entkam. Der Mann, der in seinem Maul war, machte mehrere Monate Pause, dann ging er wieder in ein Kanu. „Es ist wie ein Fieber, du willst auf ein Kanu, du willst den Wal und nichts anderes. Wenn du draußen bist, spielt alles andere keine Rolle, das Land ist weit weg.“