Begegnung mit Peter Handke

Essay
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Fassung des Autors
Unveränderter Tagebucheintrag von Joachim Lottmann anlässlich eines Wienbesuches vor fast dreißig Jahren

Wien, den 19. Januar 1990

Die Zeitschrift „Der Standard“ hatte für mich ein Vier-Sterne-Hotel mit pompöser k.u.k.-Fassade gemietet. Vor dem Frontfenster sah ich, auf einem Bänkchen sitzend, Peter Handke.

Es war der zweite Tag meines Aufenthaltes in Wien. Peter Handke fütterte Tauben. Das Bänkchen gehörte zu einem kleinen Park oder auch Kinderspielplatz. Die wenigen Bäume trugen keine Blätter. Es war Winter, der 18. Jänner 1990, am frühen Nachmittag, besser Mittag, um 12.45 Uhr. Vor dem Schriftsteller stand eine Fernsehkamera, natürlich mitsamt Kameramann. Neben Handke auf dem Bänkchen saß ein ihn interviewender Redakteur.

Die Sonne schien hell, winterlich-alpin, dennoch war es kalt, eine gute Mischung. Der kleine Park oder auch Kinderspielplatz am Rudolfsplatz schien, wie die Bühne des nahen Burgtheaters ausgeleuchtet, überschaubar und quadratisch zu sein. Ich stand am Fenster. Neben mir flatterten Fahnen, die man an der Fassade des Hotels angebracht hatte. Ich wußte sofort, daß es Peter Handke war. Zwischen mir am Fenster und ihm auf der Bank lagen nur ungefähr zwanzig Meter, dennoch konnte ich ihn, da ich kurzsichtig bin, nicht erkennen, und hätte ich nicht gewußt, daß er es ist, so hätte ich ihn keineswegs identifizieren können.

„Guck mal, das ist Peter Handke,“ sagte ich zu meiner Freundin Anja Fröhlich.

Wir gingen nach unten.

Meine Freundin war es peinlich, vor Handke stehenzubleiben und ihn anzustarren, sodaß wir einmal um den Platz gingen. Der Platz war ja nicht groß, vielleicht viermal fünfzig Meter. Dann, als ich immer aufgeregter wurde, fragte mich Anja, wer denn dieser Handke sei und was mich mit ihm verbände. Ich sagte, ich hätte ihm als Kind und als Studienanfänger Briefe geschrieben und er habe mir sogar in rührender Weise geantwortet. Ich würde diesen Menschen seit 25 Jahren verfolgen, er habe mich geprägt wie sonst nur Adenauer und Knut Hamsun, die beide tot seien. Ich war ein vier Monate alter Embryo, als Hamsun starb, sagte ich, und ein achtjähriges frühentwickeltes Kind, als Adenauer starb. Handke dagegen lebte noch, aber ich lernte ihn nie kennen!

Beim Zeitgeistmagazin „Der Wiener“ suchten ihn mehrere Reporter seit über zwei Jahren. Ich selbst hatte ihm mehrmals hinterherrecherchiert. Ich hatte mich mit seiner Tochter angefreundet, um auf seine Spur zu kommen. Die Tochter hatte bereits „Mai Juni Juli“ gelesen. Sogar mit der Mutter hatte ich mehrmals telefoniert. Sie hieß Libgart Schwarz und lebte in Berlin. Die Tochter hieß Amina, war Anfang zwanzig und legte in einer heruntergekommenen Wiener Disco, einem Rauschgiftlokal, Platten auf. Der Vater stand Abend für Abend in einer Ecke des Lokals und sah seiner Tochter liebevoll zu, aber das erfuhr ich erst später.

Handke hatte viele Bücher über seine Tochter geschrieben. Wie alle Schriftsteller hatte er mit dem Problem „Schriftsteller und Frau“ zu kämpfen, das heißt, die Unvereinbarkeit des Schriftstellers mit der Welt, die sich ja auch auf die Frauen bezog, löste er durch Herstellen einer eigenen kleinen Frau, einer Tochter – wie das vor ihm fast alle anderen Schriftsteller getan hatten. Die Töchter verübten in ihrem 27. Lebensjahr in aller Regel Selbstmord. Handke schien das aber nicht zu wissen; es blieben ihm in jedem Fall noch ein paar Jahre.

Ich sah aus dem Fenster. Diese Fensterscheiben waren drei Meter hoch und einen Meter breit. Die Mauern waren anderthalb Meter dick. Der Ausblick auf den Platz vom zweiten Stock aus, wo ich logierte, hatte etwas Befreiendes. Man hörte Kinderstimmen, das ferne, beruhigende Geräusch alter Automotoren, das Flügelschlagen der Stadtvögel, das Gekrächze von Raben und Krähen. Peter Handke wirkte mit seinen langen Haaren und dem runden, gutmütigen Gesicht wie ein Taubenmutterl.

Tatsächlich pickten zu seinen Füßen Tauben irgendwelche Körner auf. Ich stellte mir vor, noch immer am Fenster zu stehen und unter mir Peter Handke zu sehen, wie ein König auf der Balustrade. Handke mußte mich von hier unten so gesehen haben. Anja fragte mich, was ich Handke denn als Student und Kind geschrieben hatte. Ich antwortete, wahrheitsgemäß übrigens, daß ich geschrieben hätte, wie leid er mir täte, da er doch ein recht verlassener Mensch sei. Anja lachte etwas ungläubig.

Obwohl die Temperatur beim Gefrierpunkt lag, hatte man Gefühle des bald ausbrechenden Frühlings. Es war, als läge Blütenstaub in der Luft. Ein paar Arbeiter luden Bretter von einem Lastkraftwagen ab, ließen sie laut zu Boden fallen. Die Zeitung „Der Standard“ meldete, daß sich 20.000 Armenier freiwillig zum Kampf gegen die Aserbaidschaner gemeldet hätten. Die Leute dort schienen lange keinen Krieg mehr erlebt zu haben. Dabei waren die Deutschen doch in Baku ebenso wie in Stalingrad und Moskau, hatten gewütet, gesprengt und zerstört. Offenbar umsonst.

Da ich hin- und herschwankte, ob ich Peter Handke nun die Hand schütteln sollte oder nicht, und dabei offenbar zu keinem Ergebnis kam (am Abend zuvor hatte man im Burgtheater Handkes Stück „Das Spiel vom Fragen“ uraufgeführt, wobei es Beifall für den Regisseur Peymann, aber Buh-Rufe für den in letzter Minute auf die Bühne gezerrten, schüchternen Autor Peter Handke gegeben hatte), fragte mich Anja, warum es mir in 25 Jahren denn nicht gelungen sei, den Schriftsteller aufzuspüren. Ich sagte, er habe keine Adresse. Alle würden ihn suchen, niemand fände ihn; daß er jetzt in Wien sei, läge einzig an der Premiere seines neuen Stückes „Das Spiel vom Fragen“ am Vorabend.

Anja sagte, sie wolle nun telefonieren gehen, ich könne ja bei Handke bleiben, sie käme wieder. Sie ging.

Ich stand etwa sechs Meter neben Handke und hörte, was er sagte. Ich guckte unbeteiligt. Das Interview war gerade zuende. Ich dachte, daß die Kriegsbegeisterung im Kaukasus die Wiederkehr eines Phänomens bedeutete, das in dem 1938 gedrehten, farbigen Spielfilm „Vom Winde verweht“ für jeden Bewohner der westlichen Hemisphäre abschließend behandelt wurde. Tatsächlich zeigten die Vorgänge in diesem Zipfel der Erde einen gewissen Kultur- und Zivilisationsunterschied zwischen West und Ost. Letzten Endes schlugen sich diese Völker auch deswegen so sinnlos die Köpfe ein, und nicht aus dem anderen, so naheliegenden Grunde, daß sie nichts zu essen hatten.

Gut, daß der Osten endlich bankrott ging. Eine abstoßende Firma war das wahrlich gewesen. Ich zog eine 0,33-Literflasche Coca Cola und einen Flaschenöffner aus dem Mantel, öffnete arglos die Cola und begann zu trinken.

Nach ein paar Schlucken beschloß ich dann doch, Handke die Hand zu drücken. Ich lockerte mich, bügelte meine hochgezogenen Angstschultern herunter und ging langsam und gespielt locker auf Handke zu, das heißt, ich bewegte mich ungefähr in seine Richtung, keinesfalls zielstrebig, um ihn nicht zu erschrecken. Der Zeitpunkt war gut gewählt: Unmittelbar nach einem Interview ist ein an sich schüchterner Mensch immer am offensten.

„Sie sind Peter Handke?“ fragte ich, fügte nach dem ersten geglückten Blickkontakt, der Arglosigkeit auf beiden Seiten vermittelt hatte, gleich ebenso arglos hinzu, so, als sei alles in Ordnung und nicht der Rede wert, als wüßte er schon Bescheid: „Ich bin Joachim Lottmann. Ich weiß nicht, ob der Name…?“ Handke dachte nach, mußte aber ein bißchen verlegen den Kopf schütteln, wobei er mich hilfesuchend ansah, als würde ich ihm vielleicht aus seiner peinlichen, kurzfristigen Gedächtnislücke heraushelfen. Ich fuhr nachsichtig lächelnd fort: „Oh, ich habe Ihnen vor zwanzig Jahren Briefe geschrieben, ganz normale Briefe, wie man das so macht, und Sie haben mir sogar geantwortet.“

„Vor so langer Zeit, waren Sie da überhaupt schon geboren?“ fragte er und verteilte damit gleichzeitig eine Art Kompliment.

„Oh ja, 1972, ‚Der lange Brief zum kurzen Abschied‘ war gerade draussen, da war ich vierzehn Jahre alt, seitdem ist das für mich ein Bezugspunkt gewesen. Ich habe das immer verfolgt, auch später als Student. Ich schrieb immer einfach an den Suhrkamp-Verlag, und die leiteten das weiter.“

„Richtig, ich wollte eben schon fragen, woher Sie meine Adresse hatten. War das schon Paris, damals?“

„Weiß ich jetzt…nicht, es ging ja, wie gesagt…über Suhrkamp in Frankfurt.“

Der Fernsehreporter kam vorbei, es gab eine kleine Ablenkung, die ich gleich dazu nutzte, mich zu verabschieden und Handke aus diesem Anlaß um den begehrten Handschlag zu bitten. Ich sagte: „Na, ich wollte ja bloß…“

„Was machen Sie denn jetzt?“ wollte Handke noch wissen. „Ach, ich war in den 80er-Jahren ein Modeschriftsteller, habe da ein paar Bücher damals gehabt, und hier in Österreich, wo die Uhren langsamer gehen, hält man mich immer noch für aktuell, deswegen habe ich hier gelesen, gestern Abend. Ich komme gerade aus dem Hotel da.“

Ich zeigte auf das Vier- oder Fünf-Sterne k.u.k.-Hotel, ein bißchen bemüht zwar, aber Handke war, wie erhofft, davon beeindruckt. Er dachte wohl, daß einer, der aus solch einem Hotel kommt, kein durchgedrehter Attentäter sein könne. Die Vögel piepsten frühlingsvoll, ein motorgetriebenes Dreirad fuhr vorbei. Handke riß seinen rundlichen Taubenmutterl-Kopf in Richtung Hotel herum und wieder zurück. Seine Miene hatte sich aufgehellt. Er sagte nun, näherkommend, sehr persönlich:

„Sie sehen so… verlassen aus!“

„Ach, Sie wissen ja, die Entwurzelung. Ohne die bräucht’ man ja gar nicht erst anzufangen.“

„Wo haben Sie denn gelesen? Bei welchem Verlag haben Sie denn…?“, fragte Handke jetzt sehr interessiert.

„Bei Kiepenheuer & Witsch bin ich gewesen…“

„Beim lieben Wellershoff also.“

„Nein, mein Lektor war und ist offiziell noch immer: Helge Malchow.“

„Kenne ich nicht.“

Ich musste an den Lektor des Ammann-Verlages in Zürich, Hans Jürgen Balmer, denken, der, wenn ich seinen Namen nun nannte, vom Meister mit einer anderen Reaktion als diesem fast mißtrauischen „Kenne ich nicht“ bedacht worden wäre. Balmer war Deutschlands größter Handke-Fan und war schon zweimal bis auf drei Meter Abstand zu ihm vorgedrungen, jeweils auf Partys während der Frankfurter Buchmesse. Handke, da war ich mir sicher, war dabei auf ihn aufmerksam geworden.

Ich dachte plötzlich, Handke sei mein Cousin Gordon. Dasselbe Gesicht, bestimmt dieselbe Lebenseinstellung. Nur war Handke fünfzehn Jahre älter und somit fünfzehn Jahre besser als Gordon. Künstler sind einfach nur Leute, die ohne es zu wollen, zehn Jahre vor den anderen leben. Bei Handke waren es gleich 15 Jahre, also ist er ein besonders radikaler Künstler. Nichts macht einen einsamer als diese seltsame Zeitvorgabe. Die übrige Menschheit zerquetscht einen dafür, wie eine wild gewordene Rinderherde einen Cowboy ohne Pferd. Das Pferd ist immer die Frau und wirft einen ab, und wenn man Pech hat, gerade in dem Moment, wenn die Rinder ganz nah sind im Galopp. Die meisten Künstler trinken sich daraufhin zu Tode. Wer es nicht tut, hat meine Bewunderung. Handke gehört dazu, allen Geschichten über seine Besäufnisse zum Trotz, denn ich bin mir sicher, daß er nur in den ganz wenigen Momenten trinkt, in denen er auf andere Menschen trifft. Er lebt aber fast das ganze Jahr über allein. Ich beantwortete seine Frage::

„Im Konzerthaus habe ich gelesen; im Theater im Konzerthaus, auf Einladung von Tex Rubinowitz.“

„Heute?! Heute Abend?“ Ich verstand sein Interesse nicht, das mit Zerstreutheit einherging. Er sah mich mit vorgestrecktem Taubenmutterlkopf an, als wäre es für ihn interessant, selbst die Lesung miterleben zu können.

„Nein, gestern Abend habe ich gelesen.“

Der Fernsehreporter kam wieder und wollte Handke wegziehen. In dem Moment griff ich beherzt nach Handkes Hand:

„Wissen Sie, es macht ja auch nichts. Ich fand es nur verblüffend, da gibt es die Überschneidung von zwei Lebenslinien, fünfundzwanzig Jahre lang hat sich der eine auf den anderen innerlich ausgerichtet, und nun, am Ende meiner Laufbahn als Schriftsteller, treffe ich den auch noch, das ist kurios. Ich wollte Ihnen aber nur die Hand schütteln. Bitte, Herr Handke, drücken Sie mir einfach die Hand und dann haben wir es hinter uns.“

Er streckte mir wirklich seine Hand hin, die kalt war. Wir schüttelten uns die Hände, ich wollte mich abwenden, aber Handke meinte, er ginge jetzt mit der Fernsehcrew in ein Restaurant, und ich könne doch mitkommen. In genau diesem Augenblick tauchte Anja Fröhlich auf, direkt vor unseren Augen, wieder wie auf der Bühne, wieder so abgesprochen und auf die Sekunde genau, daß man nur an eine Bühnensituation denken konnte, die Bühne des Lebens sozusagen. Wir beide, Handke und ich, guckten wie gebannt mit offenen Augen auf die uns entgegenkommende Anja Fröhlich. Wir warteten ihren Auftritt, ihren Einsatz ab und sagten kein Wort. Als sie vor uns stehen geblieben war, sagte ich:

„Anja Fröhlich.“

Peter Handke schien tatsächlich von ihr sogleich angetan zu sein. Er hatte vielleicht ein Gespür für diese Art Mensch, für die besondere Frau. Vielleicht zuckte ihm, gleich als er sie sah, durchs weiche Bewußtsein, daß das die einzige Frau wäre, die einen Schriftsteller ertragen können würde, also sogar ihn, und womöglich hatte er deswegen so gebannt ihr Näherkommen beobachtet. Vielleicht fand er auch nur, daß sie eine besonders schöne Frau sei und hatte sich den für Schriftsteller typischen, geradezu pawlowschen Reflex noch immer nicht abgewöhnen können, allen Enttäuschungen und selbstauferlegten zölibatären Verpflichtungen und Gelöbnissen (die er auch seit 1973 einhielt, wie man sich erzählte) zum Trotz. Oder sie erinnerte ihn bloß an Marie Colbin, vom Typ her.

Handke gab Anja die Hand und verdoppelte sofort sein Bemühen, uns zum Mitessen zu bewegen. Plötzlich war es mehr als „nur eine Geste“. Ich merkte deutlich, daß es ihm nun wichtig wurde, uns dabei zu haben. Immerhin war der Umgang mit Medienleuten, Reportern, Fernsehcrews und Kamerahaltern eklig für einen wie ihn.

Aber, ich wehrte nun ab. Ich hatte meinen Händedruck bekommen und wußte nun nicht mehr, was ich noch von Handke darüber hinaus hätte bekommen sollen. Ich sagte daher, daß ich verabredet sei und erst telefonieren müsse. Handke erklärte noch mehrmals, wo er zu finden sei, nämlich in dem Lokal vor unseren Augen namens „Zum braunen Hirsch“ und daß wir unbedingt kommen sollten. Ich zog es aber vor, erst einmal mit Anja ins Hotel zu gehen und mich mit ihr zu beratschlagen. Handke trug übrigens ein ausgebessertes Hemd, dessen Kragen wohl von ihm selbst geflickt worden war, sowie einen alten preußisch-blauen Anorak.

„Warum sollen wir denn nicht mitgehen?“ fragte Anja dann.

„Ja, warum eigentlich nicht?“ fragte ich ratlos.

„Du hast ihn 25 Jahre gesucht, und er lädt dich zum Essen ein – also solltest du da dann auch hingehen.“

Ich war zu aufgeregt, um mit ihr über seelische Feinheiten zu diskutieren. Auf den ersten Blick hatte sie recht, und dieser erste Blick war sowieso immer derjenige mit der größten Wahrheitsdichte. Also gingen wir zum Braunen Hirschen. Im Grunde konnte ich jetzt nur noch verlieren.

Ich konnte mir jenen unvergeßlichen Augenblick der Biographienüberschneidung wieder zerstören. Ich sagte noch einmal zu Anja, daß es nur um den Schnittpunkt gehe und daß ein Punkt die kleinste mögliche, auf Null zugehende Berührung sei, und daß die vermittels des herzhaften Händedrucks bereits geschehen sei.

Aber wir gingen.

Der Braune Hirsch hatte sieben Räume, und im letzten und siebenten saß Handke.

Ein beklommenes Gefühl beschlich mich, als ich Platz genommen hatte. Wozu saß ich noch hier, wie ein launiger Medienhase, wie ein interessierter Mitmensch aus der Fernsehcrew, wie ein berufsbedingter Mitsitzer am Prominententisch, wie Gabi Dohmke aus der Presseabteilung, wie ein Schwabe, der sein Buchexemplar signieren läßt, wie ein versteckter Reporter von irgendeiner Illustrierten? Aber ich saß nun da, direkt neben Handke, der wiederum Anja gegenübersaß und ihr in die Augen sah.

Wie immer, wenn ich mich elend fühle, brechen Lügen und Übertreibungen aus mir heraus.

„Kennen Sie den Künstler Wolfgang Flatz? Er hat sich mit Teer übergossen, angezündet und ist als lebendige Fackel brennend vom Hochhaus auf die Straße gesprungen.“

Handke schüttelte irritiert den Taubenmutterlkopf. Ich machte weiter.

„In Österreich stehen sie ja alle in der unsäglichen Tradition von diesem sogenannten Nitsch und Otto Mühl. Wir mußten gestern abend ebenfalls derartiges über uns ergehen lassen.“

„Ja, wir waren auf einer ganz seltsamen Veranstaltung“, pflichtete Anja bei (wir hatten uns nämlich im Museums Quartier österreichische Kunst angesehen).

„Die Nitsch-Ausstellung gestern. Lebendiges Ochsenblut und so weiter…“. Ich machte eine Handbewegung, als wolle ich das leidlige Thema abschneiden. Es war mir auch wirklich unangenehm, davon etwas gesagt zu haben. Ich schwieg lieber.

„Eigentlich gibt es gar keine Themen zum Schreiben mehr. Ich jedenfalls habe keins“, sagte Handke, „im Dorf sind die wahren Dramen, aber das ist zu klein. Ich komme nämlich aus einem kleinen Dorf im deutsch-slowenischen Grenzgebiet. Das eine Dorf heißt Deutsch-Windisch, das andere Slowenisch-Windisch. Da hat es immer Haß und Tragödien gegeben. Im zweiten Weltkrieg sind die Slowenen von der Wehrmacht direkt zu den Partisanen gegangen, und später…“.

Er erzählte alles von seinem Heimatdorf. Am Ende sagte er wieder, er habe kein Thema.

„Aber das ist das Thema des nächsten Jahrhunderts“, rief ich euphorisch und leicht übergeschnappt aus, „die rassistischen Konflikte. Gorbatschows Schicksal entscheidet sich damit und mit ihm alles was mit erster, zweiter und dritter Welt, also der ganzen Welt, zusammenhängt.“

„Darüber könnte ich nie schreiben, zum Beispiel über Jugoslawien. Ich würde darüber auch niemals etwas lesen wollen.“

„Doch, doch. Sie schreiben Ihre normalen Dorfgeschichten, und der Verlag verkauft es als eine Allegorie auf das Weltproblem des nächsten Jahrhunderts.“

„Nein, ich will lieber über das Nichts schreiben.“

„Weil Sie die Dorfgeschichten sich schon längst von der Seele geschrieben haben. ‚Über die Dörfer‘… ‚Wunschloses Unglück‘.“

„Ja“, sagte Handke, „da habe ich mich immer unangenehm berührt gefühlt. Man schreibt über etwas, das es gibt, und verdoppelt es damit. Ich weiß dann immer nicht, wozu. Nein, schön ist es nur, über das Nichts zu schreiben.“

Der Fernsehreporter beugte sich wieder vor.

„Gestatten, BEILHARDT.“ Er machte eine Kunstpause, sodaß sich mir der Name mächtig einprägen konnte, fragte dann mit irrwitzig angestrengter Aufmerksamkeit, wie ich hieße. Ich mußte ihm meinen Namen buchstabieren. Da ich ihm den Gefallen tat, ging er noch einen Schritt weiter und erzählte eine Anekdote. Handke sei ja ein ganz besonders lieber Mensch, auch wenn er sehr ausfallend werden könne, wozu er auch jedes Recht der Welt habe, nicht wahr, da wolle er um Gottes Willen nicht dreinreden, und daß er so ein lieber Mensch sei, sei für ihn, den Fernsehredakteur, ganz klar, vor allem sei es lieb gewesen, wie er, der Peter Handke, ihm, dem Fernsehredakteur, die Hand auf die Schulter gelegt und dabei gesagt habe –

Handke unterbrach ihn mit der Bemerkung:

„Deine Suppe wird kalt.“

Es war das einzige Mal, daß er ihn duzte, sonst siezten sich die beiden. Devot lachend schlürfte der Mann hurtig die Suppe weiter.

Handke stellte mir nunmehr folgende Frage:

„Sie sprachen mir vorhin davon, ein ‚Modeschriftsteller‘ gewesen zu sein. Wie meinten Sie das?“

Er hatte sich also tatsächlich etwas von dem, was ich gesagt hatte, gemerkt. Glück stieg in mir auf.

„Ja, außer Rainald Goetz hat Kiepenhauer & Witsch alle 80er-Jahre-Modeliteraten umeinander versammelt. Wenn Sie möchten, stelle ich Ihnen eine kleine Bibliothek zusammen. Ich weiß ja, daß Sie im Ausland waren und nicht zum Lesen kamen.“

„Genau so ist es gewesen. Zehn Jahre war ich weg. Ich habe nichts mitgekriegt.“

Ich sagte, ich könne die kleine Auswahl an den Verlag schicken.

„Dann kriege ich das in zwei Monaten. Da ich keine Adresse habe. Wenn Ihnen das nichts ausmacht…“

Einer aus der Fernsehcrew hatte das Wort ‚Adresse‘ in den falschen Hals gekriegt und rief über den Tisch:

„Was ist eigentlich Ihre Adresse, Herr Handke? Die habe ich nämlich gar nicht.“ Er zückte schon seinen Filofax-Adressbuch. Handke lächelte nur. Er ging gar nicht darauf ein, und dennoch, da er lächelte, mochte sich die Wirkung, zumindest bei mir, nicht einstellen, also die Wirkung der Demütigung. Anstatt eingeschüchtert zu sein, rückte ich etwas vor und wiederholte meinen Vorschlag, ihm eine kleine Bibliothek der 80er-Jahre-Autoren zusammenzustellen. Handke sagte, es gebe eine Kölner Schule, habe er gehört.

„Ja, kann schon sein. Der neue Name, den man wieder einmal bemüht hatte, hieß, glaube ich ‚Neue Deutsche Literatur‘“, führte ich zerstreut aus.

„Ich lese aber eigentlich gar nichts oder höchst selten“, sagte Handke, „ich weiß gar nicht, ob ich diese vielen Bücher dann lesen will.“

„Vielleicht sollte ich Ihnen lieber etwas Kleineres zusammenstellen…“, überlegte ich laut und sah ihn dabei nachdenklich forschend an. Er begann plötzlich zu lachen. Es brach aus ihm heraus:

„Der ist ja ein Schelm!“ das rief er in Anjas Richtung, wobei sich, von seinen Augen ausgehend, Lachfalten über den gesamten Taubenmutterlkopf ausbreiteten, über die Ohren hinweg, bis zum Hals, ja auch den Hals hinunter weiterlaufend, bis sie im geflickten Hemdkragen verschwanden. Sein erstes Urteil, ich sei ein verlassener Mensch, erweiterte er in diesem Moment. Ich weiß nicht, wie er zu dieser plötzlichen Eingebung, ich sei ja ein Schelm gekommen war, einen Zusammenhang gab es nicht. Das war schon genial. Den immer noch wartenden Kameramann mit dem Filofax-Adressbuch beschied Handke, daß er keine Adresse besitze.

„Warum eigentlich nicht? Warum machen Sie das?“ fragte ich ihn eindringlich. Der große, alte Mann antwortete nicht, wohl aber auch deswegen, weil ihn die Frage ein bißchen in Verlegenheit brachte. Sein „Weil ich es so will, weil es mir Spaß macht“ klang, als er es doch noch sagte, hilflos und wenig durchdacht.

„Rainald Goetz habe ich übrigens einmal in der Hand gehabt, und zwar dieses…“

„Irre?“ sagte ich, überzeugt davon, er meinte dieses Buch, könne kein anderes meinen.

„Ja, oder so ähnlich, ‚Kontrolliert‘ heißt es.“

„Ah ja.“

„Hat mir ganz gut gefallen, dieses GETROMMEL im Kopf, das dann entsteht. Zwischen diesen Trommelstellen gibt es manchmal so Zwischenstücke, Lieder, die sehr schöne Beschreibungen sind. Das mochte ich sehr.“ Er nickte anerkennend, hob und senkte artig den Taubenmutterlkopf.

Nun rückte zu meiner Überraschung Anjas Oberkörper ein gutes Stück zu Handke, und sie stellte ihm eine wichtige, ernstzunehmende Frage:

„Ist es für Sie nicht schrecklich, diese Interview-Situation durchzustehen, hier zu sein?“

„Ja, so ist es!“, stieß Handke aus. Er schien sich vor Ekel geradezu zu schütteln.

„Schrecklich. Ich leide sehr darunter!“

„Fühlen Sie sich durch solche Situationen nicht beschmutzt?“

hakte sie nach.

„Ja, beschmutzt durch mich selbst. So fühle ich mich dabei. Ich beschmutze mich selbst. Das ist ganz entsetzlich, ich mache es auch nicht mehr. Ich mache auch keine Lesungen mehr. Die letzte habe ich 1973 gemacht. Damals war gerade „Der kurze Brief zum langen Abschied“ herausgekommen und ich fuhr durch all die kleinen Orte in Deutschland. Ich habe da gemerkt, daß Deutschland ein Land ist, eine große Fläche. Das wußte ich bis dahin nicht. Ich dachte immer, da gibt es Städte, München, Stuttgart, Berlin und so, und nichts weiter. Aber damals lernte ich Deutschland als Land kennen. Es gab 200 oder 300 Mark pro Lesung, und die hab ich dann vertrunken.“

Es klang, als habe ihm seine letzte, für alle Zeiten letzte Lesungsreise doch gut gefallen. Aber er bestand darauf, nie mehr zu lesen, aus Selbstbeschmutzungsabwehr-Gründen. Ich sagte: „Interviews selbst und Lesungen selbst sind ja gar nicht so schlimm. Man kann Gegenfragen stellen, schweigen, die anderen irritieren, nur die Stunden danach sind so unerträglich, wenn man noch mit den Leuten zusammensitzen muß und man nichts mehr unter Kontrolle hat.“

Ich sprach genau von dem, was wir gerade taten. Handke nickte eifrig:

„Ja, ja, furchtbar, furchtbar…“.

Dann erzählte er wieder von seiner Lesetournee:

„Nach der Lesung saß ich immer mit den Fans zusammen, alles so 16jährige Jungen, die kein Geld hatten, in so kleinen Städten wie Straubing. Und am Ende waren die 200 oder 300 Mark immer weg. Weil die ja kein Geld hatten.“

Er lächelte versunken. Ich sagte:

„Heute wäre das anders. Das war sicher gut, daß Sie das damals gemacht haben und nicht heute. Heute kämen 50jährige Frauen und keine 16jährigen Jungen mehr zu Ihrer Lesung.“

FÜNFZIG…jährige Fr…?“, fragte Handke schockiert.

„Ja, 50jährige Frauen. Ihre Bücher sind ja lange nicht mehr so verboten inzwischen…“

Er sah mich daraufhin mit gekränktem Blick an, mit großen, offenen, verletzten Augen, was mich auf der Stelle verstummen ließ. Nein, nein, ich wollte mit ihm keine dumme Diskussion über damals und heute anfangen, über Radikalität und am Ende noch ‚Anpassung‘. Ich sandte ihm einen Blick, der sofort klarmachen sollte „kein Wort darüber, Peter!“ Wir lehnten uns zurück.

„Sagen Sie, was stand eigentlich drin in den Briefen, die Sie mir vor zwanzig Jahren schrieben?“ fragte der große Esoteriker der Jetztzeit, der Mythos des Kulturbetriebs, die Verehrung selbst, die neben mir saß.

„Ach, nichts weiter, also daß Sie mir leid getan hätten, weil Sie doch einmal aus einer avantgardistischen Bewegung, also aus einer Gruppe, gekommen waren und nun zwischen allen Stühlen saßen und keine soziale Heimat mehr hatten, also daß die vormalige Solidarität…“

Ich wollte etwas über das Heimatgefühl unter den Linken sagen, und daß wir beide doch heimlich den Linken angehörten, und er ließ mich nicht ausreden, aber es schien ihn irgendwie anzurühren, was ich da angeschnitten hatte, denn er wurde nun recht persönlich:

„Ich habe mir gleich gedacht, als ich Ihren Kopf sah, daß Sie irgendwoher aus dem Sorbengebiet kommen müßten. Nur ein Sechzehntel vielleicht, kann das sein?“

Es fiel mir schwer, darüber zu sprechen. Noch nie hatte ich mit einem Deutschen darüber gesprochen. Aber es stimmte:

Mein Urgroßvater mütterlicherseits hatte einst in Guben, der heutigen Wilhelm-Pieck-Stadt, gelebt. Es ging die Sage, daß er ursprünglich zu der nur 20.000 Köpfe zählenden Volksgruppe der Sorben gehört haben sollte. So sagte ich unter Stocken:

„Mein Urgroßvater war Sorbe und Wende. Aber aufgewachsen bin ich in Straubing, da wo Sie ihre letzte Lesung gehalten haben.“

Ich war damals 15 und besaß kein Taschengeld, wie alle meine Freunde zu jener Zeit, die diesen Tag nicht vergessen werden. Ich selbst war allerdings nicht bei der Lesung, da ich gerade an dem Tag meine Großeltern besuchte, die in Hamburg wohnten. Die ganze Woche über war ich in Hamburg gewesen und hatte im Garten Federball gespielt, manchmal auch Johannisbeeren gepflückt.

Der ORF-Redakteur drängte sich wieder vor, begann ein Gespräch über Essen und Trinken. Handke wehrte sofort ab. Nein, vom Essen verstünde er nichts, nein, von Trinken auch nicht. Dann ließ er sich aber doch in eine Konversation über Reiseziele hineinziehen. Wahrscheinlich hatte der deutsche Dichter ein Erbarmen, zumal das ganze Drehteam auf ihn zu starren begonnen hatte.

„Ich liebe Kastilien, die sandigen Hügel dort, die, wenn die Sonne untergeht, durch die Brechung des Lichts grünlich-perlmuttern schimmern.“

Er erzählte einen vom Pferd, wie die Kölner sagen. Das schien mir der rechte Zeitpunkt zu sein, mich zu erheben. Ich hatte ja nur für ein paar Minuten an seinem Tische sitzen wollen oder auch sollen. So stand ich auf, griff nochmal zum Colaglas und leerte es mit den Worten: „Wir müssen jetzt gehen. Ich trinke auf die Überwindung der rassistischen Gegensätze überall in der Welt“.

So schüttelte ich dem Mann aus Slowenisch-Windisch ein zweites Mal die Hand.

„Ein Stück über Jugoslawien werde ich dennoch nicht schreiben“, sagte Handke.

Jugoslawien, was sagte er da? Ich verstand ihn nicht ganz, sagte daher:

„Heißt es eigentlich Wendisch oder Windisch, dieses Dorf aus dem Sie kommen?“

„Windisch. Es gibt auch einen windischen Dialekt, eine Abart des Slowenischen. Diese Sprache ist aber nirgendwo fixiert worden. Es gibt kein Dokument dieser Sprache, sie existiert nur in gesprochener Form.“

„Eben eine windige Sprache, wie der Name schon sagt“, sagte ich etwas verlegen. Anja Fröhlich gab ihm auch noch die Hand und wir verließen beklommen-zielstrebig den Braunen Hirschen. Die Beklommenheit rührte von der Abschiedsspannung, die naturgemäß immer dann auftritt, wenn zwei übersensible Menschen sich verabschieden.

Als ich wenig später vom Hotelfenster aus erneut auf die Parkbank schaute, war sie leer. Kein kleines, rundliches Kapuzenmännlein saß mehr darauf und fütterte Tauben.

Der Wind blies tote Winterblätter vor sich her, den ganzen Fußweg entlang.