R.Kelly – Der Ritter der Nacht

von 
Reportage
zuerst erschienen 2000 in Süddeutsche Zeitung
Der Mann hat sein Soul erfüllt: Ein Besuch beim König des Rhythm & Blues

In dieser Nacht fällt die Außentemperatur nicht unter 75 Grad Fahrenheit. Den ganzen Tag war der Himmel bedeckt, kein Luftzug blies herüber vom See, und jetzt, um 5.15 Uhr, zeigt die grün leuchtende Temperaturanzeige in einem Mietwagen auf dem Weg in die Larrabee Street, Chicago, Illinois, USA: 75 Grad Fahrenheit. Die Rock Land Studios liegen zwanzig Blocks westlich vom See entfernt, fünfzehn von der Einkaufsmeile Michigan Avenue, und doch hat die Stadt hier längst ihr Herz verloren. Tote Fenster, verlassene Industriebrachen, alte Lagerhäuser, aufgeplatzte Straßen, mittendrin ein gut fünf Meter hoch umzäunter Schotterparkplatz um ein zweistöckiges Gebäude.

Den Komplex hat R. Kelly vor ein paar Jahren gekauft. Draußen hängt noch das Schild mit dem alten Studio-Namen; niemand soll wissen, wer hier lebt und arbeitet. Das Licht im großen Raum für Gesangsaufnahmen ist gedimmt, das Aroma von einem halben Dutzend brennender Duftkerzen erfüllt die Luft. Durch ein Verbindungsfenster erkennt man im Dunkeln des Nebenraumes, dem eigentlichen Studio, im fluoreszierenden Licht von Computerbildschirmen die Gestalt R. Kellys. Vor wenigen Minuten noch hat er mit einer Sängerin etwas aufgenommen, sie hier im Schein der Kerzen, er dort drüben, durch die Glasscheibe nur schemenhaft erkennbar. Es scheint fast, als habe bis eben eine akustische Liaison zwischen beiden stattgefunden, die Stimmung einer verlorenen Liebesnacht hängt über der Szenerie. Eine kurze Sequenz der Aufnahme lässt Kelly wieder und wieder über die Lautsprecher spielen. Noch ist die Nacht nicht vorbei, und sie ist allein schon deshalb unendlich, weil es kein Fenster gibt, das die Wirklichkeit hereinließe in diese dunkelbraun getünchte Phantasmagorie eines Musik- Studios. Der König des Rhythm & Blues trägt eine Sonnenbrille, als er den Gesangsaufnahmen-Raum betritt, die Sängerin ist verschwunden.

Robert Kelly ist kein Frühaufsteher, er ist ein Nachtarbeiter; insofern vollziehen die gängigen Fotos und Videos, die fast ausschließlich in der Nacht aufgenommen sind, nur Kellys Lebenswirklichkeit. Die Figur R. Kelly spielt den Ritter der Nacht, den Mann, dem die Frauen vertrauen. Im realen Leben ist Robert Kelly der Sänger, der mit Balladen wie „I Believe I Can Fly“, „Gotham City“ oder „If I Could Turn Back The Hands Of Time“ berühmt wurde; der Musiker, der jedes seiner Stücke allein schreibt, einspielt, arrangiert und produziert; der Songwriter, der Künstler wie Michael Jackson, Celine Dion oder Whitney Houston mit Hits versorgt. Kellys Leben ähnelt in seiner monotonen Wiederkehr dem eines Schichtarbeiters. Abends wirft er, der als Junge Basketballprofi werden wollte, mit Freunden ein paar Körbe; dann geht er ins Studio, arbeitet bis in den Morgen, manchmal schläft er ein paar Stunden in einem Nebenraum des Studios, darauf folgen hin und wieder ein paar Erledigungen im Tageslicht.

Danach fängt alles wieder von vorne an, sieben Tage die Woche, immer wieder. Die Sonne sieht Robert Kelly nur selten. Es scheint, als böten eine rituelle Wiederholung von Abläufen und die Gleichförmigkeit von Strukturen Kelly Sicherheit in einer Welt, die jemand wie er doch auf seinen Fingerkuppen jonglieren sollte wie einen bunten Basketball. Es gibt jedoch nur äußere Anhaltspunkte für eine wie auch immer geartete seelische Zerrüttung – die Geschichten über seine panische Flugangst treffen zu, und ja, wenn ihn jemand fragt, warum er stattdessen nicht mit dem Schiff reise, dann antwortet er: Schon mal was von der Titanic gehört? Seinen Vater hat Kelly nie kennen gelernt, seine Mutter starb vor sieben Jahren. Robert Kellys Texte erzählen häufig vom Verlust und von der Einsamkeit, von der Abwesenheit der Liebe und Zuständen mentaler Verdüsterung. Wie real oder fiktiv diese inneren Monologe tatsächlich sein mögen, sie gehen auf in der Figur R. Kelly, dem schwarz gewandeten Sexsymbol, dem melancholischen Ladykiller. Möglicherweise ist Robert Kelly nur ein Getriebener seines Ehrgeizes, ein hyperfokusierter Workaholic, der sämtliche Störfaktoren, die ihn von seinem Schaffen ablenken könnten, systematisch eliminiert hat. Herausgekommen sind dabei 30 Millionen verkaufte Tonträger und ein Lebensentwurf, den

niemand geschenkt haben möchte.

Die Geschichte des 32-Jährigen beginnt wie so viele afro-amerikanische Biografien in einem typischen großstädtischen Sozialbauviertel der USA, das in den achtziger, neunziger Jahren der innerstädtischen Teufelsspirale aus Gangs, Gewalt und Drogenhandel zum Opfer fiel. Spätestens, als er 13 Jahre alt ist, brechen die willkürlichen Gesetze der Hood von South Chicago unauslöschlich ein in sein Leben: Ein paar Burschen, die es auf sein Fahrrad abgesehen haben, schießen ihn ohne Vorwarnung an, er wird an der Schulter verletzt.

Von dieser Zäsur aus nimmt seine Geschichte jedoch nicht den Lauf all der Hip-Hop-Legenden vom mythisch-gewalttätigen Überlebenskampf auf der Straße, der die Gedanken und Taten der Menschen für den Rest ihres Lebens weiter zu bestimmen scheint, ihre Identität in Extremen, ihren Wertekanon, Sprachduktus und Machismo, ihre Kunst. Robert Kellys Geschichte ist die einer musikalischen Initiation durch seine High-School-Musiklehrerin Lena McLin, die ihn als 16-Jährigen Stevie Wonders „Ribbon In The Sky“ vor Schulkameraden singen lässt. Das Gefühl, von einem anonymen Publikum geliebt zu werden, das er damals erstmals spürte, prägt sein Leben bis heute. Von diesem Tag an wollte er kein Basketballprofi mehr werden.

Die Zeiten, in denen R. Kelly weit und breit der einzige nennenswerte männliche Interpret  im  R&B-Geschäft  war, sind vorbei. Seit seinem letzten, insgesamt vierten Album „R“ (1998), das mit acht Millionen verkauften Exemplaren das vielleicht letzte epische Werk des alten, songorientierten, vom Soul der sechziger Jahre abgeleiteten R&B war, hat sich fast alles verändert. Der neue R&B wird von Produzenten wie Timbaland bestimmt, nicht mehr von Songwritern wie R. Kelly. Aus dem einst als kosmetischen Hausfrauenschmock verunglimpften R&B, dem vorgeblich verweichlichten Bruder des Hip-Hop, haben Klangchirurgen wie Timbaland unterdessen den führenden Sound der Zeit gemacht, indem sie futuristische Visionen entwarfen, ver- schachtelt in extrem kurzen, extrem bearbeiteten Samples von erhabener Schroffheit. Hätte er einen Hang zur Paranoia, dann dürfte sich R. Kelly auch ansonsten umstellt fühlen: Der Soul-Kollege D’Angelo beispielsweise hat in seinen Songs und Videos mittlerweile zu einer virtuosen Intimität gefunden, die den Balladenkönig Kelly ein wenig seifig aussehen lässt. Und selbst bei R. Kellys Plattenfirma Jive bedrohen Plastikprodukte wie N’Sync, die Backstreet Boys oder Britney Spears den Stellenwert des einstmaligen Umsatzkönigs.

Er weiß, dass sein neues Album „TP2.com“ ein Zeichen setzen muss, und nicht zuletzt deshalb klingt wohl jedes der 19 neuen Lieder zeitgenössischer und detaillierter produziert als alle vorherigen. Manchmal entfährt ihm ein mittelschnelles Stück, als wolle er beweisen, dass er mehr kann als nur den eleganten Soundtrack liefern für verschmuste Liebesnächte. Der King of R&B ist unter Druck, aber doch Staatsmann genug, die Konkurrenz gelassen zu fixieren. Er holt zum Schlussmonolog aus. „Ich glaube, es gibt immer einen gewissen Wettbewerb, der einen dazu bringt zu sagen: Wow, ich will etwas machen, was so großartig ist wie die beste Musik, die gerade auf dem Markt ist, oder etwas noch Besseres. Als ich anfing, da gab es niemanden da draußen, der Texte sang wie ich, der mutig genug war, auf einer Platte das zu sagen, was er wirklich fühlte. Niemand drückte sich so sinnlich und sexuell in seiner Musik aus wie ich. Seitdem aber hat sich einiges getan, und ich begrüße wirklich jeden Einzelnen, der mir nachfolgen möchte oder mich vielleicht sogar überholen will.“

Dann steht R. Kelly auf und geht hinüber in die unendliche Nacht seines dunklen Studios, zu den Apparaturen, Instrumenten, grün fluoreszierenden Computerbildschirmen. Der König des R&B will sein Reich verteidigen, schlafen kann er später immer noch. Irgendwann einmal. Die Duftkerzen sind herunter gebrannt, im Erdgeschoss wedelt derweil ein Studiomitarbeiter den Linoleumfußboden. Als sich die schwere metallene Eingangstür des Komplexes öffnet, hat draußen ein neuer Tag begonnen. Die Sonne steht hoch über einem dunkelblau- en Himmel, die Luft scheint merkwürdig klar, obwohl die Temperatur bald 85 Grad Fahrenheit übersteigen wird. Vom See herüber weht ein friedlicher Wind, die Stadt atmet auf, und die Menschen gehen zur Arbeit.