„Take a puff, cracker!“

Reportage
zuerst erschienen am 14. Oktober 2012 in Der Freitag
Bevor sich Manhattan endgültig in Dubai verwandeln konnte, musste das Ghetto ausgelagert werden. Eine Reise den Hudson hinauf, nach Newburgh, ins Herz der Finsternis

Ich stehe im Joe Coffee in der Grand Central Station, unter dem von verzweifelten Menschen belagerten neuen Apple Store, in einem, wie die Aufkleber verraten, von Vogue, Elle, New York Times, Dwell und Monocle empfohlenen Kaffeeladen, in dem ein Latte 10 Dollar kostet, aber so unfassbar gut ist, dass man nach dem ersten Schluck vorübergehend zur Salzsäule erstarrt. Das ist ja fast lächerlich, denke ich mir, wie gut das ist, und lese auf meinem Touchscreen, dass Joe, um Emissionen zu vermeiden, die Kaffeebohnen von seinen Bio-Farmen in Nicaragua in Zukunft ausschließlich mit Segelbooten nach New York liefern lassen wird.

Die Bahnhofshalle hat Mauern in goldenem Beige, die im Schein schwerer Messingleuchten ein schmeichelhaftes Licht abstrahlen, in dem die Obdachlosen, die auf dem Marmorboden kauern, wie vergoldet aussehen.Und so funktioniert Grand Central auch nach einem  Jahrhundert noch hervorragend als Monument des Gilded Age, des sogenannten Vergoldeten Zeitalters, der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts, in denen eine amerikanische Oligarchenkaste ihre Milliarden stilvoll zur eigenen Verewigung verschwendete. Die Neuauflage dieses Zeitalters, denke ich mir, während ich tief unter Manhattan in einem antiquierten Regionalzug Platz nehme, wird Amerika andere Monumente hinterlassen: Ballon-Tierchen von Jeff Koons beispielsweise, oder Shopping-Mall-große McMansions größenwahnsinniger Hedgefonds-Proleten.

Der Zug poltert erst in Harlem ans Tageslicht, im neuen Edel-Harlem mit seiner Jazz-Folklore und seinen ironischen Soul Food-Lokalen, im besten von denen ich mir mit meiner Frau vor kurzem ein sogenanntes Uptown Fried Chicken geteilt habe, ein fröhliches freilaufendes frittiertes Bio-Schwarzfederhuhn aus der Region für 48 Dollar. Ich erinnere mich noch, wie es hier vor 20 Jahren war, wenn man nachts mit der 6 aus Soho nach Hause fuhr, in dieser betrunken einschlief und erst wieder in Harlem zu sich kam, war für einen als „Cracker“, wie man in Amerika als Weißer gelegentlich tituliert wird, als Knäckeweißbrot also keineswegs klar, ob man es heil wieder zurück in die bürgerliche Schutzzone am Central Park schaffen würde.

New York City war damals ein Kriegsgebiet, in dem sich über 2000 Morde im Jahr ereigneten, in dem HIV, Syphilis und Tuberkulose epidemische Ausmaße erreichten, vom Crackkonsum ganz zu schweigen. Dank ihres günstigen Preis-Leistungsverhältnisses verschlang die Armutsdroge Crack in den 80ern ganze Stadtteile, die South Bronx beispielsweise, heute das Investorenmekka SoBro, das schon in den 70ern über 40% seiner Gebäude und Einwohner an Gewalt, AIDS und Brandstiftung verloren hatte. Der Stadtteil bot ein Bild der Verwüstung, das an ausgebombte deutsche Städte nach dem Zweiten Weltkrieg erinnerte.

Irgendwann schlug der perverse Stolz der New Yorker auf die Unbewohnbarkeit ihrer Stadt in Panik um, die 1994 dann Rudy Giuliani ins Amt des Bürgermeisters spülte, einen rabiaten Spießbürger, der Kriminalität den Jihad erklärte, um die Stadt für Investoren und Touristen attraktiv zu machen. Es ging Giuliani um das Schlagwort „Lebensqualität“, das er in den folgenden Jahren robotergleich wiederholte, während er etwa seinen Plan zur Disneyfizierung des historischen Rotlichtviertels am Times Square implementierte. Alles Böse musste weg, die Armut, die Obdachlosigkeit, alles musste sauber sein. Und wo ist das Böse hin? Nach Norden.

Nach Newburgh, um genau zu sein, in eine malerische Kleinstadt von 30.000 Einwohnern 60 Meilen den Hudson hinauf, die während des Vergoldeten Zeitalters zu Wohlstand gelangte. Dank der Lage am Fluss boomten Handel und Industrie, in Newburgh wurden Backsteine, Textilien und sogar große Frachtschiffe produziert, die als Wracks heute über die Weltmeere verstreut liegen,vor dem tunesischen Cap Negre zum Beispiel, oder in der Jangtse-Mündung. Das Bürgertum belohnte sich mit Prachtbauten, das Erbe dieser Boomphase ist der größte Denkmalschutzbezirk im Staate New York, mit über 4.000 Häusern, die den Absturz der Stadt heute zumindest visuell ein wenig abfedern – nirgendwo gibt es architektonisch reizvollere crack houses.

Denn die Boomphase war schnell vorbei, schon nach der Großen Depression, vor allem aber nach dem Zweiten Weltkrieg setzte ein brutaler Niedergang ein, die Industrie wanderte ab und der Güterverkehr wanderte vom Wasser auf die Straße, sodass Newburgh die ökonomische Basis abhanden kam. Shopping Malls im Umland entzogen dem Einzelhandel die Grundlage, die Innenstadt verwahrloste, der Staat New York siedelte in den leerstehenden Altbauten immer mehr Sozialhilfeempfänger an und es dauerte nicht lange, bis Crack nach Newburgh kam, mit Gangs wie den Bloods und den Latin Kings, deren Soldaten sich fortan auf offener Straße Feuergefechte lieferten.

Mitte der 90er schwappte dann noch die von Giuliani losgetretene Welle aus Elend den Hudson hinauf, woraufhin Newburgh endgültig zur Schreckenslandschaft degenerierte: „Wenn man sein Kind hier nur 5 Minuten aus den Augen lässt, muss man sich schon Sorgen machen, dass es ermordet worden ist“, zitiert das New York Magazine eine örtliche Mutter, eine ehemalige Crack-Prostituierte, deren zwei jüngste Söhne vor ihrer Haustür erschossen wurden und deren Ältester wegen eines Gang-Mordes einsitzt. „Als würde man im Irak leben, das alles ergibt überhaupt keinen Sinn.“

In diese gescheiterte Stadt fahre ich mit einem Taxi hinein, vom Bahnhof in Beacon auf der anderen Hudsonseite, über die Montgomery Street, die in einem Newburgh-Monopoly die Schlossallee wäre. Auf einer Anhöhe über dem Fluss gelegen, ist sie von prachtvollen Herrenhäusern gesäumt, von denen in Manhattan jedes Einzelne einen zweistelligen Millionenbetrag kosten würde, für den man hier wohl die ganze Straße bekäme. Erste Hinweise auf Gentrifizierung sind zu sehen, Sanierungsarbeiten, Rosenbüsche, ein BMW in einer Einfahrt. Aber je weiter man nach Newburgh hineinfährt, desto desolater wird alles, viele Häuser stehen leer oder sind ausgebrannt, einige sind verbarrikadiert, zu Crackhäusern umfunktioniert, vor denen Dealer an der Straßenecke stehen und auf Kundschaft warten. Die Geschäfte scheinen zu laufen, Menschen halten in Autos, kaufen und fahren schnell weiter.

Auffallend ist, wie jung diese Dealer sind, noch in der Pubertät teilweise, wie auch einige der Prostituierten, deren Anblick mich dann doch ein wenig schockiert: Süchtige Teenager, die für Crack auf den Strich gehen, das kennt man heute ja wirklich nur noch aus dem Fernsehen. Ein Abgrund an Verrohung vor kaputten Relikten einer goldenen Vergangenheit – erinnert das hier tatsächlich an den Irak? Ich weiß es nicht, ich war noch nie im Irak, mich erinnert hier alles eher an „The Wire“, im Grunde müsste man Pauschalreisen hierher anbieten, kuratiertes Slumming für eine verwegene, Serien-affine Hipster-Avantgarde, die hier im Kugelhagel dann ironisch Crack rauchen könnte – wo gibt es das sonst noch, bitte?

Ich habe einen Termin mit Nick Valentine, Inhaber des örtlichen Frackverleihs und bis vor kurzem Bürgermeister von Newburgh, den ich in seinem menschenleeren Geschäft am Broadway treffe. Er hat eine silberne Haartolle, er sitzt auf einem Klappstuhl unter einer Stange Smoking-Jacken, die schon bessere Zeiten gesehen haben. Gegen Ende seiner zweiten Amtszeit war er 2010 mit Bundespolizei und FBI an der Planung einer groß angelegten Razzia beteiligt, mit der die Führung der Bloods und der Latin Kings vorübergehend dezimiert werden konnte.

Die Razzia sei natürlich ein schöner Erfolg gewesen, aber so lange es in Newburgh keine Arbeit gebe, werde sich auch nichts verändern, und eines sei sicher: die Fabrikjobs seien weg, sie kämen nie wieder zurück. Die einzige Rettung, auf die Newburgh hoffen könne, sei die „Brooklynisation“, also die Gentrifizierung durch Zuzug aus Manhattan, im Falle Newburghs wohl eher durch Zuzug aus Brooklyn, wie er sie schon langsam in Gang kommen sehe. Es seien in Newburgh durchaus schon einige Yuppie-Elemente zu beobachten.

Als ich ihn frage, ob man in Newburgh als solches einfach herumlaufen könne, ob die Straßen für mich als Cracker sicher seien, sagt er: Absolut, kein Problem, völlig ungefährlich, gut, möglicherweise würde ich scheel angesehen, wegen meines Outfits – erst jetzt wird mir klar, wie unpassend ich gekleidet bin, in Slippern, einer Krawatte mit Eulen darauf, einem Blazer im Jachtklubstil – aber etwas zuleide tun werde mir wohl niemand.

Und mir passiert tatsächlich nichts, außer, dass mir ständig Crack angeboten wird, während ich die paar Häuserblocks den Broadway hinab zum Wherehouse spaziere, einem Bierlokal, das ich im Zuge meiner Recherche im Vorfeld als geeigneten Ort ermittelt habe, um außer Lebensgefahr auf meinen nächsten Geschäftstermin zu warten. Im Wherehouse läuft „The Rain“ von Oran‘ Juice Jones und sofort muss ich an meine Kindheit denken, die ich in Manhattan verbracht habe, in einem Apartmentgebäude an der 73ten Straße, in dem Sigourney Weaver, die in den „Alien“-Filmen die unbezwingbare Weltraumkriegerin Lieutenant Ripley spielte,  unsere Nachbarin war. Einmal kam ich früh morgens nach Hause, als Teenager, gegen 6 Uhr muss es gewesen sein, ich hatte meinen Walkman auf und hörte „The Rain“, als ich mich im getäfelten Aufzug auf die dunkelgrüne Lederbank fallen ließ – und mich mit Lieutenant Ripley konfrontiert sah, die gerade vom Joggen im Park zurückgekehrt war. Niemals werde ich ihren kalten, kritikvollen Blick vergessen.

Als ich mit einem Humpen Ale wieder auf die Straße hinaus trete, um eine Zigarette zu rauchen – anders als in Manhattan kann man in Newburgh auf der Straße unbehelligt Alkohol trinken, naturgemäß ist das auch hier nicht legal, scheint sich aber dennoch eingebürgert zu haben, begünstigt durch die Tatsache, dass die 71 Polizisten der Stadt in derart vielen Gewaltdelikten ermitteln, dass sie öffentliches Zechen aus Kapazitätsgründen ganz einfach akzeptieren müssen – prostet mir ein freundlicher Finsterling zu, ein Gangbanger wie aus dem Bilderbuch, Kapuze, Goldketten, nagelneue AirMax-Turnschuhe und er raucht, was auf den ersten Blick wie eine Zigarre aussieht, die ich auf den zweiten allerdings als grotesk überdimensionierten, in Zigarrenpapier gerollten Joint, einen sogenannten Blunt identifiziere.

„Shit“, sagt er, in diesem Kontext ein Ausdruck des Erstaunens, möglicherweise über mein unpassendes Outfit, auf jeden Fall aber korrekt intoniert, also „Sheee-it“, sicher 5 Sekunden lang gedehnt, um seiner intendierten Aussage, also wohl in etwa „Wie bescheuert schaust Du denn aus?“, besonderen Nachdruck zu verleihen. Er nimmt einen Zug am Blunt und als er exhaliert, verschwindet sein Kopf samt Kapuze vollständig in einer Wolke aus sämigem Rauch, aus der dann die Aufforderung „Take a puff, cracker“ zu mir dringt, es klingt freundlich, und warum nicht? Ich nehme also einen vorsichtigen Zug, nicht zu tief, „Just enough to lift the uglies a little“, wie ich mir denke, wie es Truman Capote formulierte und dann noch einen und noch einen und noch einen und dann einen ganz tiefen wie Humphrey Bogart und als ich dem Gangbanger den Blunt wieder zurückreiche, höre ich wie aus weiter Ferne seine sonor gackernde Drogendealerlache.

„Murrdah“, sagt er,„two r’s,one h“, das ist offenbar sein Gangbangername, „Schimmelbusch“, antworte ich und er schnarrt wieder„Sheee-it“, im Tonfall haargenau wie der korrupte Senator Clay Davis aus „The Wire“, wohin ich heute offenbar einen Trip gebucht habe. „How are the Burgers here?“, frage ich und er sagt „Let’s git de fuck out here dis muthafucka“, was in diesem Zusammenhang in etwa mit „Lass uns lieber das Lokal wechseln“ übersetzt werden kann.

Murrdah schlägt irgendeinen fragwürdigen Fried-Chicken-Laden vor, worauf ich aber keine Lust habe, da ich, wie schon erwähnt, was Fried Chicken betrifft, derzeit sehr verwöhnt bin und andererseits, da es dort sicher keinen Wein zu trinken gibt, sondern nur Diet Coke und Gatorade und wenn wir Glück haben forties Rheingold, 1,2-Liter-Penner-Flaschen eines ungenießbaren Obdachlosenbieres, für das auf den Türen des Taxis, das vor dem Wherehouse wartet, eine verblichene Werbung zu sehen ist. Also schlage ich die Hafenmeile vor, die in den letzten Jahren mit Mafiakapital aus New Jersey aufgemöbelte Hudsonpromenade, wo es in einem Lokal namens Torches, wie ich vorab recherchiert habe, Austern und Steaks und Lobster geben soll, und darüber hinaus Newburghs einzige passable Weinkarte.

Das Torches erweist sich dann als typische Iteration dessen, was ländliche Amerikaner mit begrenzter kultureller Bildung unter einem guten Restaurant verstehen. Die Küchenrichtung ist das sogenannte New American, das Angebot basiert demnach auf klassischen Eckpfeilern amerikanischer Ernährung, dem Frittierten, dem Sandwich, dem Grillfleisch und so weiter, denen allerdings mit allerlei globalen Einflüssen ein vermeintlich kosmopolitischer Anstrich verliehen wird. Statt Ketchup gibt es im Torches demnach Dijon oder Curry oder Jalapeño Aioli, womit der unerwiderten Liebe des Amerikaners zur Mayonnaise Rechnung getragen wird, nicht zuletzt auch Hoisin Aioli, die den Kulturen übergreifenden Kitt der in Restaurants dieser Kategorie obligatorischen Peking Duck Quesadillas bildet, innerhalb derer sich die in Amerika unvermeidlichen Mexiko- und China-Noten in der Regel allerdings weitgehend fremd bleiben.

Als wir später auf der Terrasse sitzen, nach Hummern, Quesadillas, Fried Onions und einem kiloschweren Hawaiian Ribeye mit Ananas-Chili-Curry-Teriyaki-Glasur, als wir zur dritten Flasche Rotwein einen weiteren Blunt zur Hand nehmen, den Murrdah mit einer Art Bunsenbrenner anfeuert, als ich gerade entspannt in meine Glut schiele, die im Wind am Fluss entschlossen aufleuchtet, hält auf dem Parkplatz vor dem Torches ein alter Ford F-150, Jahrgang circa 1985, aus der Baureihe mit dem nachdenklichen Scheinwerfergesicht, das bei der folgenden Generation dieses immer noch meistverkauften amerikanischen Fahrzeuges durch ein falsches Lächeln ersetzt wurde. Eine fettleibige Frau steigt aus dem Pickup, sie zückt ihr Telefon und wählt, woraufhin mein eigenes Telefon klingelt und mir wieder einfällt, dass ich ja heute noch einen Termin habe: Unter dem Vorwand, im großen Stil in Slum-Immobilien investieren zu wollen, habe ich zu Recherchezwecken einen Termin mit einer Maklerin vereinbart.

Wo ich denn sei, fragt sie am Telefon, warum ich nicht erreichbar gewesen sei, durch die ganze Stadt sei sie gefahren auf der Suche nach mir und ich entschuldige mich gleich, ich versuche, dabei nicht zu lallen.„That’s my ride“, sage ich zu Murrdah und zeige auf die junge Dame, die ein wirklich erstaunliches Ausmaß erreicht und Murrdahs Kopf verschwindet erneut in einer Wolke, aus der mir dann, nachdem er sich mit einem knappen „So long, Wonder Bread“ (ein fades, billiges, in Amerika ungemein populäres Industrieweißbrot) von mir verabschiedet hat, ein letztes „Sheee-it“ hinterher hallt.

Die Maklerin heißt Shantelle, ich habe sie wegen ihres Namens ausgewählt, der an „Chanterelle“ erinnert, Englisch für Pfifferling, und während ich mich vom Trittbrett in das Interieur des Pickups schwinge, entweicht mir ein eigenes „Sheee-it“, aus Unvorsicht vielleicht, oder aber aus Behaglichkeit, da ich mich wohlfühle gerade, das Hawaiian Ribeye, der F-150, Häuser anschauen jetzt, woraufhin sie mich von der Seite überrascht zu mustern beginnt. Und obwohl ich mir blitzartig ein scheinheilig-nüchternes Gesicht aufsetze, kann ich ihr nichts vormachen, sie begreift, kann es aber kaum fassen,„You’re baked!“ ruft sie, „You’re stoned!“ und ich stammele „Excuse me?“ und sie sagt „You fried as chicken!“ und klatscht sich auf ihre gewaltigen Schenkel, bevor sie hysterisch zu lachen beginnt. Chanterelle schaut aus wie Aunt Jemima, jene dicke Südstaatenmatrone mit Kochlöffel und Teigbottich, die auf der Packung des populären Aunt Jemima’s Pancake Mix abgebildet ist, und nicht nur Aunt Jemima selbst sieht sie ähnlich, wie ich jetzt zur Kenntnis nehme, ihre Physiognomie aus Speckfalten gleicht im Profil tatsächlich auch dem vor dieser abgebildeten, idealisierten Pfannkuchenstapel.

Bei den Besichtigungen wird schnell klar, dass Investitionen in Newburgh sich lohnen, ein typisches Objekt etwa ist ein Mehrfamilienhaus aus dem Jahr 1886, mit 3 Wohnungen, für 28.000 Dollar, in solidem Zustand, mit kunstvollen Erkern und einer aus Granit gehauenen Vortreppe, mit arbeitslosen Mietern zwar, denen aber der Staat ihre Miete bezahlt – New York, wie ich im Gespräch mit Nick Valentine erfahren habe, gehört zu den in dieser Hinsicht eher europäischen Bundesstaaten. Gut, das Objekt liegt in der Dubois Street, in der die zwei Söhne der vom New York Magazine befragten ehemaligen Crack-Prostituierten erschossen wurden, aber eben auch direkt am Downing Park, mit Blick auf majestätische Trauerweiden.

Was sich aber geradezu aufdrängt, ist das Potential, das Newburgh einem Milliardär mit Sinnkrise bieten würde, es ließe sich hier für ein paar hundert Millionen eine historisch gewachsene Stadt erwerben, nahezu vollständig, die man mit den restlichen paar hundert Millionen in ein aus der Gegenwart gefallenes Paradies verwandeln könnte, mit großzügigen Sozialleistungen, Bouillabaisse aus Hudsonfischen in den Suppenküchen und subventionierten Drogen, die nicht von brutalen Dealern, sondern von verständnisvollen Apothekern vertrieben würden. Ein arbeitender Hafen wäre vonnöten, mit historischen Dampfschiffen, um Newburgh im Liniendienst mit London und Hamburg zu verbinden und in einer mafiösen Gewerkschaft organisierten Dockarbeitern, um die Segeljachten aus Nicaragua mit den Bohnen für die Newburgher Joe-Coffee-Filialen zu entladen. Nach den riesigen Lofts mit Hudsonblick für die Journalisten der Newburgh Sun, einer klassischen Tageszeitung mit opulenter Sonntagsausgabe, müsste im zweiten Schritt eine alte Bankfiliale für die Spekulanten des örtlichen Hedgefonds saniert werden, Newburgh Global Strategies, mit dessen vergesellschafteten Überschüssen sich der unendliche Spaß hier bis in alle Ewigkeit finanzieren ließe.

Später setzt mich Shantelle wieder vor dem Wherehouse ab, wo ich drei hübschen schwarzen Krankenschwestern in die Arme laufe, die trinkend und rauchend, noch in ihrer hellblauen Arbeitskleidung, vorteilhaft in der Dämmerung stehen. Da wir in Newburgh sind, frage ich: „You ladies wanna smoke some crack?“ und eine von ihnen sagt „Aaah! Another slum tourist“ und die drei prosten mir freundlich zu, bevor sie ihre Cosmopolitans leeren und die Gläser dann über ihre Schultern nach hinten werfen, wo sie auf dem Kopfsteinpflaster aus der Gründerzeit zerschellen.

Die drei sind auf dem Sprung, sie wollen auf ein Reggae-Konzert, was schade ist, da ich nichts dagegen hätte, jetzt hier ein paar Burger zu essen, sogar für Murrdahs Fried Chicken-Laden wäre ich jetzt reif, aber die Damen verbreiten eine subtile Hektik, klassisch weiblich, eine von ihnen steigt sogar schon in ihren Chevy Malibu ein und lässt demonstrativ den Motor an. Die zwei anderen bugsieren mich auf die Rücksitzbank, sie heißen Shaniece und Shawanda, alle Frauen scheinen hier mit Sha anzufangen, möglicherweise gibt es irgendwo hier auch eine Shabracke, denke ich mir, oder eine Shabracadabra.

Die Terrace Lounge werde mir gefallen, da könne man ungestört Crack rauchen, so verlachen sie mich, und bei dem Namen werde ich hellhörig, da es vor dieser Bar vor nicht allzu langer Zeit ein drive-by gab, wie ich auf der Zugfahrt im Internet gelesen habe. Ich frage also, ob das eine gute Idee sei, so für mich als ortsfremdes Wonder Bread und die drei schwören, dass ich mit ihnen sicher sei, und falls ich doch angeschossen werden sollte („And if somebody do pop a cap in yo ass“), sei das auch kein Problem, dafür seien sie schließlich Krankenschwestern („dat why de fuck we nurses“).

Obwohl wir auf billigstem Polyester-Plüsch sitzen, spontan entflammbar, rauchen die drei entschlossen Kette, und zwar Parliament Lights 100s, den Inbegriff der amerikanischen Unterklassezigarette, die in Brooklyn allerdings schon vor Jahren zum Hipsteraccessoire verkommen ist, was diese drei nicht wissen können, und wie schön wäre es, denke ich mir, all das nicht zu wissen, frei zu sein von diesem überflüssigen Feuilletonistenhalbwissen? „Stop moanin like a bitch“, kichert Shawanda dann und ich sage mir:„Sheee-it“, was man in diesem Zusammenhang mit „Dann scheiß doch drauf“ ins Deutsche übersetzen kann. Die prachtvollen Fassaden bröckeln im Abendlicht, und während in Brooklyn gerade die Yogamatten ausgerollt werden, die Kombuchafässer angezapft, Ausstellungen eröffnet, unnötige Artikel geschrieben, zünde ich mir hier in Newburgh, ohne jede Ironie, erstmal eine Parliament an.