140 Kilometer

Reportage
zuerst erschienen am 27. Juni 2015 in Der Spiegel Nr. 27, S. 110-114
Mehr als eine Million Syrer sind in den Libanon geflüchtet, darunter viele Künstler. Die Galeristen reißen sich um sie - weil sich das Leid der Kriegsopfer bestens verkauft.

Ein Tagesausflug. Mehr nicht. Etwa die Strecke von Leipzig nach Dresden, von Hamburg nach Bremen, von Damaskus nach Beirut. Früher sind sie manchmal zum Shoppen nach Beirut gefahren und oder zum Feiern. Zwei Stunden im Auto. Knapp 140 Kilometer. Sie sind dann oft noch in der Nacht zurückgefahren. Heute sind die 140 Kilometer die Entfernung zwischen zwei Leben.

1,2 Millionen Syrer haben Zuflucht gefunden im Libanon. Sie wollten erst dem Bürgerkrieg entkommen und dann dem IS, sie reisten in ein Land, in dem Syrien bis vor einem Jahrzehnt noch Besatzungsmacht war und das seit über einem Jahr kein Staatsoberhaupt mehr hat, weil sich die Parteien uneins sind. Es sind viele Künstler unter den Flüchtlingen, Autoren, Maler. So viele, dass eine syrische Künstlerszene in Beirut entstanden ist.

Sie stellen aus, man diskutiert über sie, die BBC war da, um eine Dokumentation zu drehen. Diese Aufmerksamkeit ist neu, in ihrer alten Heimat waren sie jahrzehntelang isoliert. Unter dem syrischen Staatspräsidenten Baschar al-Assad gab es für zeitgenössische Kunst kaum Platz. Die Regierung finanzierte die klassische Ausbildung an der Kunstakademie und kaufte später an Bildern und Skulpturen auf, was gut aussah und wenig aussagte. Erst vor zehn Jahren eröffneten in Damaskus internationale Galerien. Das Land versinkt im Krieg, und jetzt ist die Meinung der Künstler im Ausland etwas wert.

Nun haben sie eine Stimme, weil es interessant ist, wie sie schreiben, malen, sprechen über die Bomben, die Toten, den Lärm der Maschinengewehre. Darüber, wie man weitermacht, ohne Hoffnung. Es gibt keine Seite, auf die man sich schlagen kann. Egal, wer siegt, Assad oder der „Islamische Staat“, es wäre beides das Ende.
Schüsse fallen. Alina Amer bleibt sitzen und zieht an ihrer Zigarette. Ihre Mundwinkel zeigen nach unten, auch wenn sie lacht, weil der Fotograf nach den ersten Salven zum Fenster gestürzt ist, um zu schauen, wer da schießt. „Keine Angst. Das sind nur die Griechisch-Orthodoxen, die ballern ein bisschen aus Spaß. Das hört man doch“, sagt Amer. „Wenn es um Waffen geht, haben wir mittlerweile das absolute Gehör.“

Amer ist 27, Performancekünstlerin aus Damaskus. Ihre Wohnung liegt in Aschrafija, dem christlichen Viertel im Osten Beiruts. Drei Zimmer, Küche, Bad, Schimmel an der Wohnzimmerwand. Unten auf der Straße stauen sich die zerbeulten Mittelklassewagen. Amer erzählt von den Bomben, der Angst, den Leichen auf den Straßen von Damaskus, von dem Gestank und den Krankheiten, die von Ratten durch die Stadt getragen werden. Währenddessen zieht sie unablässig die Ärmel ihres schwarzen Oberteils über ihre Hände und ballt sie zu Fäusten.

Sie ist eigentlich Architektin, doch seitdem sie Syrien vor drei Jahren verlassen hat, kann sie mit der Idee, Dinge zu planen und zu bauen, nichts mehr anfangen. Sie begann, neben ihrem Job bei einer Nichtregierungsorganisation Theater zu spielen, mittlerweile malt sie und macht Performances. In den Toilettenräumen einer Galerie hat sie vor Kurzem eine Badewanne installieren lassen und sich hineingesetzt und mit einer Wurzelbürste die Haut vom Leib geschrubbt, dazu sang sie ein altes Kinderlied: Nur wer sauber ist, wird geliebt. Für sie ist jeder heruntergeschrubbte Hautfetzen ein vergangenes Trauma.

Ihr Thema ist Hygiene. Sie sagt, dass man das Trauma runterwaschen und abspülen könne, aber bei der nächsten Dusche komme das alte Wasser nur neu aufbereitet wieder zurück. „Wir waschen uns mit unserem eigenen Dreck.“

Amer lebt nicht allein in Beirut. Auch ihre Mutter und ihre Schwester wohnen hier, ihr Vater ist in Damaskus geblieben. Er ist Professor für Maschinenbau an der Universität, Mitte sechzig, er hatte keine Kraft, noch mal von vorn anzufangen. Dass er noch lebt, hält sie für ein Wunder, weil ihr Elternhaus so nah an einer vielbombardierten Straße zum Flughafen liegt. Beirut war schon immer eine Anlaufstelle für die Andersdenkenden der Region, ein historischer Transitort. Mehr als sechzig Jahre lang konnten Syrer und Libanesen ohne Einschränkungen und nur mit einem Ausweis die Grenze überqueren. Zum neuen Jahr hat der Libanon die Reisefreiheit aufgehoben. Zu viele Flüchtlinge. Zu wenig Platz.

Beirut, sagt Amer, habe sich in den vergangenen Jahren verändert. Natürlich gibt es dort immer noch das schnelle Geld, die Partys, die Nachkriegsruinen. An der Küstenstraße rasen die Range Rover im Zickzackkurs an den modernen Wohnanlagen vorbei. Die nach dem Bürgerkrieg wiederaufgebauten Märkte sehen aus wie ein orientalisches Paris. Was auf der Mar Mikhael in Aschrafija los ist, könnte sich auch in Berlin-Kreuzberg abspielen: Jungs mit langen Bärten, Wollmützen, Röhrenjeans und Mädchen in Hippiekleidern trinken sich von einer Bar in die nächste. Zugleich fällt jeden Tag für drei Stunden der Strom aus. Das Wasser ist knapp. Dauernd bricht das Internet zusammen. Auf der Autobahn in Richtung Flughafen teilt man sich die Spur mit einem Panzer. Noch konnten die Libanesen nicht alle Spuren der Kriege der letzten vierzig Jahre beseitigen. Fast jeder Altbau hat Einschusslöcher, das ehemalige Holiday Inn, von Raketen schwer getroffen, steht wie ein Mahnmal mitten in der Stadt. Im Süden herrscht die Hisbollah.

Der eigentliche Wandel vollzieht sich im Inneren, im Miteinander. „Die Spannungen sind greifbar“, sagt Amer. Steigt sie in ein Taxi, imitiert sie mittlerweile einen libanesischen Dialekt, weil die Taxifahrer ihr syrisches Arabisch oft als Provokation verstehen. „Dauernd wird man dumm angemacht, als Prostituierte beschimpft, oder sie zwingen dir ein politisches Gespräch auf: Bist du pro oder kontra Regime? Man kann doch für keines von beidem mehr sein.“

Amer hat auch nach drei Jahren Beirut nicht eine einzige libanesische Freundin gefunden. Sie wird Beirut dieses Jahr in Richtung Berlin verlassen. Bis dahin trifft sie in den syrischen Bars und Restaurants von Beirut Menschen, die sie im alten Syrien nie hätte treffen können. „Man war ja nie wirklich entspannt. Jeder konnte ein Spitzel sein.“

Essam Norrem, eigentlich studierter Anwalt, ist als Künstler Autodidakt. Seine Familie hat er in Damaskus zurückgelassen, um tagein, tagaus nichts anderes zu tun, als zu malen. Norrems Frau, eine Apothekerin, will Syrien nicht verlassen, solange sie noch helfen kann. Eine Tochter studiert Medizin, die andere geht noch zur Schule. „Ihr Platz ist in Damaskus“, sagt er.

Norrem, 51, drahtig, barfuß, trägt Jeansjacke und Jeanshose, seine Töchter haben ihm seine Haare braun gefärbt, damit er nicht so alt aussieht. Er arbeitet in einem alten libanesischen Bürgerhaus, ein paar Häuser weiter Kaffeebars, Restaurants, das Beirut, das die Touristen aus Berlin lieben, weil es dort fast wie zu Hause aussieht: ein bisschen schäbig, aber cool. Norrem scheint von dieser Welt unendlich weit entfernt. Das Haus, das ihm ein befreundeter syrischer Geschäftsmann überlassen hat, soll mal eine Galerie werden, noch erzählt es die Geschichte eines untergegangenen Beirut, des Beirut der Franzosen, der Sommerfrische: ein Salon mit dünnen Marmorsäulen, Marmorböden, Deckenfresken. Doch die Fenster sind eingeschlagen, Treppenaufgänge eingestürzt. Norrems Zimmer ist ausgestattet mit Feldbett, Tisch, Stuhl, Schrank.

Im Salon hat er seine Leinwände ausgelegt. Seit er sein zerstörtes Atelier in Damaskus hinter sich gelassen hat, mischt er seinen Farben Asche bei. Der Krieg in Syrien nimmt in seinen Werken abstrakte Formen an. Manchmal erkennt man in dem düsteren Wust aus Schwarz, Olivgrün, Dunkelblau und Gelb Gesichter mit leeren Augen oder Körper, wie aufgebahrt. In dieser Finsternis steckt all das, worüber er nicht sprechen kann.

Seman Khawam schimpft: „Was hier passiert, ist der Ausverkauf der syrischen Revolution.“ Er ist 40 Jahre alt, trägt Chucks und ein T-Shirt mit einer Eule drauf, dem Hipstertier. Er steht am offenen Fenster seines Ateliers. Auf seinem Schreibtisch stehen eine leere und eine halb volle Flasche Whiskey. Es ist viertel nach zwölf mittags. „Jeden Monat eröffnet mindestens eine Ausstellung mit syrischer Kunst, die Galerien sagen ihren libanesischen Künstlern ab, damit Syrer ausstellen können, weil die sich im Moment einfach besser verkaufen: ihr Leid, ihre Angst, ihr Trauma. Es ist widerlich und gleichzeitig notwendig: Sie müssen essen.“
Khawam spricht von „sie“, weil er selbst schon seit 1988 in Beirut lebt. Er kam zu Zeiten des Bürgerkriegs, als die Front zwischen West- und Ostbeirut, dem muslimischen und dem christlichen Teil, die Stadt noch in zwei Hälften trennte.

Seltsamerweise ist Khawam nach so vielen Jahren im Libanon mehr Syrer denn je. Er nimmt an Ausstellungen teil, die sich exklusiv mit syrischer Kunst aus dem Krieg beschäftigen. Er findet das alles „widerlich“, aber: „Das ist Kapitalismus.“ Immer öfter kommen Kuratoren aus London, New York oder Kassel und wollen sehen, wie die Künstler die Krise verarbeiten. „Die wollen dann traurige Geschichten hören, aber ich selbst bin noch gar nicht bereit, sie zu erzählen. Schließlich wird noch gekämpft. Wir wissen doch noch gar nicht, wie der Krieg unsere Kunst beeinflusst hat, weil das Ganze noch passiert“, sagt Khawam.

Dima Hamadeh, Kuratorin am Beirut Art Center, dem wichtigsten Ausstellungsort für zeitgenössische Kunst in Beirut, beobachtet vor allem ein Interesse für die Künstler und nicht für ihre Kunst. „Die Sammler denken, dass allein die Tatsache, dass die Bilder aus Krisenzeiten und Kriegsgebieten kommen, sie wertvoller machen.“ Hamadeh glaubt auch, dass viele Libanesen nicht glücklich seien über die Aufmerksamkeit, die die Syrer bekommen. Auch weil die Libanesen selbst vor einigen Jahren in der Krise waren und es eigentlich immer noch sind: „Es gibt eine Art Opferwettbewerb zwischen Libanesen und Syrern: Wer hat mehr gelitten?“, sagt sie. „Vielleicht haben wir uns auch noch nicht so richtig daran gewöhnt, dass der Libanon jetzt die stabile Nation im Nahen Osten sein soll. Das klingt immer noch wie ein Witz.“

Dima Wannous wird nicht zurückkönnen, solange Assad an der Macht ist. Alle paar Monate schickt ihre Tante, eine regimetreue Alawitin, eine Nachricht auf Facebook: „Dima, du Verräterin, wenn du zurückkommst, soll erst dir und dann deinem Sohn der Kopf abgeschlagen werden. Nein, dir soll der Kopf abgeschlagen werden, und dein Sohn soll dabei zusehen. Damit er diese Bilder sein Leben lang nicht mehr vergisst.“

Aus Familien sind Feinde geworden. Menschlich schlimm, für ihre Arbeit als Schriftstellerin allerdings vielleicht das Beste, was ihr passieren konnte, meint Wannous: „Der Krieg war nötig. Wir sind aufgewacht.“

Wannous, 33, ist selbst Alawitin. Die Alawiten machen in Syrien nur etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung aus, halten sich aber mithilfe des schiitischen Iran und Russlands bis heute an der Macht. Wannous hätte ein Teil dieses Clans sein können, regimetreu, finanziell abgesichert. „Unter Assad sind die religiösen Zugehörigkeiten eigentlich unwichtiger geworden. Dass meine Mutter Christin, mein Vater Alawit und mein Mann Sunnit ist, hat keinen interessiert“, erklärt Wannous. „Aber einen Anhänger der Baath-Partei, der Regierung, des Geheimdienstes zu erkennen, das konnte lebenswichtig sein.“ Regimetreue erkannte man an der Aussprache einzelner Buchstaben, ein Dialekt, wie man ihn an der Küste spricht, von der die meisten Alawiten stammen.

Wannous hat sich gegen ihre Herkunft entschieden. Genauso wie ihr Vater Saadallah Wannous, der einer der berühmtesten Theaterautoren der arabischen Welt war. Und einer der wenigen öffentlich geduldeten Oppositionellen Syriens. „Mein Vater hat mir beigebracht, immer das zu tun, was ich für richtig halte. In einer konservativen Gesellschaft war das nicht immer leicht.“ Als Teenager bewunderte sie die Miniröcke in den Modemagazinen ihrer Mutter, einer Schauspielerin, ihr Vater bestand darauf, dass sie sich einen besorgt und ihn auf der Straße trägt. Steh zu dir. Schäm dich nicht. Nicht für dich, nicht für deinen Körper. „Das waren revolutionäre Sätze.“

Ihr Erzählband „Dunkle Wolken über Damaskus“ ist mittlerweile auch auf Deutsch erschienen. Ihre Geschichten beschreiben das Syrien vor der Revolution, mittlerweile aber ist der Krieg in Syrien für sie nur noch ein Haufen Zahlen, ein Rauschen im Fernsehen. „Ich bin nicht mehr da, wie soll ich über etwas schreiben, das ich selbst nicht mehr erleben kann?“ Seit sie in Beirut ist, arbeitet sie bei einem oppositionellen syrischen Fernsehsender, der mit Geld aus Dubai finanziert wird. Nebenbei versucht sie, täglich an ihrem neuen Roman zu schreiben. Es geht nicht. Sie schämt sich. „Ich habe mein Land, meine Landsleute im Stich gelassen. Die, die in Syrien noch für die gerechte Sache kämpfen, die sollten interviewt werden. Nicht die sogenannten Oppositionellen im Ausland. Nicht ich.“

Ihr Telefon klingelt, ihr elfjähriger Sohn ist dran, er möchte „Gute Nacht“ sagen, er schläft bei Freunden. In seinem ersten Schuljahr in Beirut hat er jeden Morgen geweint. Wannous ging zur Schulpsychologin. Sie sagte: „Er weint nicht, weil er Angst hat. Er weint, weil Sie Angst haben.“