1986 – Das war das

Jahresrückblick
zuerst erschienen im Januar 1987 in Spex, S. 35

So ein kalter Tag wirft einen ganz auf einen selbst zurück. Nur, ich werde nicht ins eigene Innere geworfen, sondern aufs Lebensnotwendigste; Essen, Kaufen, Straßenbahnfahren; so leicht erzwungen kann Erfüllung sein. Mit Erstaunen registriere ich, was ich am 3.1.86 alles gemacht habe: Filmkritiken aus der Zeit Mitte der 70er Jahre gelesen, Haydn und Ellington aufgelegt, die Handlung einer Fernsehserie mitgeschrieben, im Radio…. tatsächlich… Neue polnische Musik gehört, nicht schlecht, Die Eishockey-WM lullt die Tage, und Muskel Schimanski liegt auf Mannequin-Dürre, womit schon die Trends des Jahres festgestellt sind, nämlich der Mann, die schöne Einrichtung, das SadoMaso. Jack Nicklaus, der alternde, aufgeschwemmte Amiheld, gewinnt die Golfmeisterschaft. Ob Ghaddafi gut Golf spielt? Der Reporter ist dick und klein (Fritz Klein). „Bernhard, es gab Gerüchte, daß Sie mich nicht schätzen, daß es Differenzen zwischen uns gibt.“ Erwiedert [sic] Langer: „…und ich wünsche Ihnen und Ihrer Familie, Herr Klein, alles Gute.“ Prince singt „Sometimes It Snows In April“ und weiß nicht, wie recht er damit hat. Jetzt bloß keine Probleme! Das Möschen wächst zum Glück. Ich stelle fest, daß das nachmittägliche „Rock-Cafe“ des Deutschlandfunks jetzt auf einmal einfach so abends läuft – somit aus meinem Leben verschwindet. Ein Frühlingswunsch: den Menschen ohne Gram und Mißtrauen begegnen, Hannover-Messe: leuchtende, glitzernde, symetrische, saubere technische Neuheiten werden vorgeführt, gar von Latin-angehauchter Jazzmusik umspült. Ein Tenorsaxofon läßt in mir Wörter wie „humane Technik“ entstehen. Dann läuft den Sprecher der Chemischen Industrie vorbei, Paarungszeit vorbei, Ihr kommt aus der Schule und habt schwarzgraue Sachen und plustrige Hosen an und wißt, was ihr sollen wollt, immer wird es Abend, und ihr habt „Denver“ geguckt, sagt ihr hinter mir im Bus, ich drehe mich um und sage, die Krystle heult doch zuviel wie vor zwei Jahren schon, ach Quatsch, die Gefühle, wer schön ist, muß leiden. In der Hochpolitik sind die einzigen Irgendwie/Pseudo-Ansatzpunkte jetzt stets die Skandalchen (Blackout Kohls, Berliner Porno-CDU, Grünen-MdL Raphael Keppels Verschwinden zur Menschlichkeit), Beauvoir ist tot, Genet ist tot, beide offenbar ziemlich langweilige posthume Interviewpartner, Frankreich verbietet den amerikanischen Bombern und Tankflugzeugen den Überflug. Oh Reinheit der Force de Frappe! Maggie Thatcher läßt natürlich die Amis starten, so daß sie für ein paar Tage wieder mehr Schlagzeilen hat als Samantha Fox, das zu diskutierende Weitenwunder Streitkraft in der Battle of the boops. Die Rückseite ihrer aktuellen Single, nebenbei gesagt, ist merkwürdigerweise ganz gut. Zwei Schlager genen mir durch den Kopf, „Leben ist Kitsch der Materie“ und „Kiss“. Daß ein Rechtsradikaler wie Max Greger in einer Talk-Show öffentlich Duke Ellington anbetet, ist nicht schön. Iris und ich sitzen alleine zu zweit im Kino; der Film heißt: „Serenade zu Dritt“ - da stimmt doch irgend etwas nicht. Bei McDonalds am Essener Hauptbahnhof eine Kleinfamilie; Vater, Mutter, Tochter, Tochter; zum ersten Male in diesem Jahre gesehenes Weltelend. Am Abend dann GAU bei Kiew. Bobby stirbt, und die schauspielerische Leistung des Sterbens wird der Piepsmaschine überlassen. Piep, Piep, Piep, Oh, Piip, Pip, Pip, Piiiip, Aus. Kurz zuvor: die neue Filmzeitung von McDonalds, Formel Eins, Jugendmoden, Jugendliche. Die werden mich in zwanzig Jahren regieren?! Zum Glück ruft Karl Valentin kurz danach: „Die Platte rott‘ ich aus!“ Aus einer Anti-Streß-Übung des Senders des Monopolkapitals, ZDF: Zwei Menschen sollen ihre Wertgegenstände austauschen, vorübergehend nur, natürlich. Wer sich von seinem Streß-Geld befreien will – meine Adresse ist über die Redaktion zu erfahren. Der Haß auf die Kultur verteilt sich diesmal auf die vierzigjährige Ironie, auf Zeitgeistmags (dumm, dumm, Design) und auf Bayern München (Rumgeknickel, Ekel Pfaff, Leerbü, was eine unangenehme Truppe). Wir hätten vorm Schauspielhaus Hans-Günther Heyme überfahren können, aber als Machtanalytiker weiß man ja von der Ersetzbarkeit des Menschen. Meine ganze Hoffnung setze ich jetzt nach dem Sieg von Dynamo Kiew über Madrid im Pokal der Pokalsieger, vier Wochen vor Beginn der Weltmeisterschaft, in die sowjetischen Atomfußballer. Beim Rasieren tropft mir aus der Dachluke ein Regentropfen mitten auf die Stirn; schnell wische ich mit Spucke über die radioaktive Stelle. Mit Dankbarkeit sehen wir nach immer interessanter Transitreise den Berliner Vorposten von Klinkmann/Schneider/Farocki besetzt. In Ostberlin geht der Arbeiter- und Bauerninspektor um, die Beschwerdebücher zu kontrollieren und die Chefin weinen zu lassen. Franz Jung gelesen, Alien Sex Fiend gehört, LL Cool J applaudiert, Gewaltfilme feministisch verabscheut. Der erste schöne Tag des Jahres ist hier der 1.5. (Erster Mai, Kampftag der Arbeiterklasse). Letztes Jahr, ich erinnere mich genau, machte ich an einem ähnlich schönen März tag einen Spaziergang und traf dabei drei frühere Schulkollegen. Alle drei wuschen ihr Auto. Gerade, als ich aus Scham ins Nebenzimmer gehe, wo ich den Fliegen vorzumachen versuche, ich hörte nicht mehr hin, wird die Apathie an den Schulen unseres Landes beklagt. Erleichterung – sicher; wir haben die kreativste und geistloseste und kritischste und zufriedenste Bevölkerung zugleich, aber wenn man sie nicht darob interviewt, halt sie wenigstens das Plappermäulchen. Endlich, die monatelange Fußballweltmeisterschaft. Sie müht sich zwar redlich um Mystik (Maradonas Hand und Gottes Kopf oder umgekehrt), Poesie („Urus brutal, Allofs Tor“) und Schlachtengemälde („It’s war, Señores“, größte englische Boulevardzeitung anläßlich England vs Argentinien), aber es ist alles wie beim angeblichen Sex der bundesdeutschen Mannschaft: ein Übermittlungsfehler. Folgerichtig gibt es reinen, sublimierten Kick. Entsprechung: Aus Worten Libido machen, aus Bossa-Nova-Platten Urlaub. Während wir immer noch vom Bolschewik-Chic der sowjetischen Mannschaft begeistert sind, stielt in West-Berlin ein Ost-Berliner Wissenschaftler Duscharmaturen und muß dafür eine Tour durch sämtliche Geheimdienste und Botschaften antreten. Auch scheint der Haushaltsstop die Militärausgaben (zusätzlich Tornados und Leopards) nicht zu betreffen. Nach 
„After Hours“ von Scorsese ständige Angst vor
dem Mitmenschen und Hobbyperversen. Tommi 
Stumpffs Frage „Will denn keiner denken mit
 mir?, Will denn keiner versagen mit mir?“ ist
 wirklich richtig gestellt. Der TV-Set der Zukunft
 sieht tatsächlich aus wie in Truffauts Fahrenheit-Film, nur mit mehr Monitoren. In Italien sehe ich 
am ersten Tag Urlaubsfilme von Orson Welles, dann mir unbekannte Filme mit Lee Remick und
 Angie Dickinson. Es war wie sechs Richtige im
 Lotto (danach nur noch Nieten), Nachts zeigen 
sie keine Sexfilme, sondern Werbung von Pornohändlern, und es empfiehlt sich, Landschaften 
und Städte aus einem Autofenster zu betrachten. 
Am Kopierer der Stadtbücherei finde ich das 
Bewerbungsschreiben einer fertig studierten 
Lehrerin, die sich nachdem Bedarf für Kursleiterinnen in den Bereichen Analphabetismus,
 Literatur und Frauengeschichte erkundigt. Alternativenelend, Alternativenglück: Nach verstärkter Dezentralisierung strebende Firmen
bemühen sich verstärkt, Egowillige und glücklich 
und selbstverwirklichend sich ausbeuten
 lassende Menschen als Kräfte vom Fach zu verpflichten. Nachrichten im Herbst: Die Deutsche
 Bank zahlt den letzten Frankfurter Hausbesitzern für ihren freiwilligen Auszug
 300.000 DM: Die verstärkte Orientierung der 
USA zum Pazifischen Raum wird durch ein 
Fischereiabkommen mit 16 Inselstaaten unterstrichen: In den nächsten Jahren kommen in den 
60er Jahren abgeschlossene Lebensversicherungsverträge zur Auszahlung, pro Jahr in zweistelligen Milliardenbeträgen: Nur 33% sind mit
 ihrer Arbeit zufrieden, 42% bereit, weniger Einkommen gegen vermehrte Freizeit einzutauschen: Die Computersimulation (Landschaftsprofile für Raketen, Firmenlogos) benutzt
einen Zufallsgenerator für die Generierung von
rauhen Oberflächen. Vielecken, Bruchstücken: 
30.000 spanische Polizisten und interessierte 
Bevölkerung suchen Leute mit bestimmten verdächtigen Merkmalen (leben unauffällig, sind gut
gekleidet, haben keine feste Arbeitszeit). Bei der 
umlaufenden Informationen fällt es einem direkt
 schwer, die Fakten als solche zu betrachten und 
sich nicht in eine dieser Verschwörungstheorien
 zu flüchten. Letzteres können und dürfen nur
 Mark Stewart und seine Maffia, aber die haben ja
 auch Dub-Effekte. Wenn dann was über 
Menschen und ihre Gehäuse zu erfahren bzw.
von diesen zu sehen ist, gehe ich selbst in
 dänische Dokumentarfilme. Im Augenblick ist
 vorderasiatische Luft über uns, man merkt’s. Was
 ist eigentlich aus Anna Karina geworden, aus
 Nana S.? Wie zu Beginn, jetzt am Ende – wieder 
„Kiss“, diesmal hart von Age of Chance. Ich
 glaube, da fällt mir noch ein Titelmotto fürs
 nächste Dutzend ein: Materialismus oder Ohne
 Badeanzug aber mit Seele. Danke an 60er-Jahre-Fotos („Film“), Geneviève Bujold, Big Flame,
 Neue Zürcher Zeitung. Subversive Records,
 Die Republik und Tools You Can Trust.