Als unsere Eltern halbstark waren

von 
Essay
zuerst erschienen im Oktober 1959 in TWEN

„Klagen über die zunehmende Verwahrlosung unserer Jugend sind wir seit einigen Jahren gewohnt. Die Umwälzungen im wirtschaftlichen und sozialen Leben, die Erschlaffung der elterlichen Zucht und die Ausschaltung religiös-sittlicher Kräfte hatten diese traurige Frucht an unserem Volkskörper hervorwachsen lassen. Was sie aus blutgetränkten Büchern in ihre rege Phantasie aufgenommen, was im Lichtspieltheater an sittlicher Verkommenheit vor ihrem zitternden Auge über die Leinwand gehuscht, wird ihnen plötzlich Wirklichkeit und Leben. Frühzeitiges Verdienen wegen Teuerung der Lebensverhältnisse wird ihnen zum Verhängnis. Es stellt sich das Bedürfnis nach Vergnügungen und Genußmitteln ein, die zum körperlichen und geistigen Ruin führen. Auf den öffentlichen Straßen machen sich Unfug und Gemeinheit breit, die jeder Zucht und Sitte hohnsprechen. Bei solch zunehmender Verdorbenheit der Jugend langt die normale Jugendpflege und Jugendfürsorge nicht aus“

… Nicht wahr, mit diesem Schreckensbild einer Epoche des sittlichen Verfalls ließe sich doch ein duftes Artikelchen über die „Jugend von heute“ einleiten, so, wie diverse ältere Herrschaften das durch ihre Brille sehen. Um anzuschließen, wie brav und sittsam doch unsere Eltern und Erziehungsberechtigten in ihrer „guten, alten Zeit“ mit züchtig niedergeschlagenen Blicken auf dem Pfad der Tugend einherwandelten. Geht aber leider nicht. Obiger Absatz ist für heutige Artikel nicht zu gebrauchen. Er ist nämlich schon dreiundvierzig Jahre alt. Anno 1916 stand er in der „Kölnischen Volkszeitung“. Anno 1916 - da waren die Herrschaften, die heute 59 sind, gerade sechzehn. Ein interessantes Alter, man ist jung, unbekümmert und - nun, eben ein bißchen halbstark, wie die „Kölnische Volkszeitung“ andeutet. Das Unwesen, das unsere halbstarken Eltern trieben, ging dem Gouverneur der Festung Köln so hart an die Nieren, daß er folgenden Erlaß zum besten gab:

„Jugendlichen Personen beiderlei Geschlechts, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, ist verboten:

• Der Besuch von ‚Lichtspielhäusern und Schaustellungen, die unter dem Namen ‚Spezialitätentheater, Variety, Tingeltangel, Kabarets etc. veranstaltet werden; ebenso Wirtschaften, in denen Sängerinnen auftreten oder deklamatorische Vorträge gehalten werden.

• Nicht gestattet ist es, in der Öffentlichkeit oder auf der Arbeitsstätte zu rauchen, Alkohol enthaltende Getränke in der Öffentlichkeit oder auf der Arbeitsstätte zu sich zu nehmen; sowie auf öffentlichen Straßen und Plätzen nach Eintritt der Dunkelheit ziellos auf und ab zu gehen oder sich zwecklos dort aufzuhalten.

• Nur in Begleitung der Eltern ist es jugendlichen Personen gestattet, städtische Kaffeehäuser, Konditoreien oder ähnliche Erfrischungsräume (auch Milchstuben, Speiseeishallen und dergleichen zu besuchen …“

Und daß hier nicht etwas verboten wurde, was nicht schon zur „Landplage“ geworden war, bekräftigte der „Kölner Lokalanzeiger“: „Die Halbflüggen, nicht nur Burschen, sondern auch leider unsere Mägdelein, die jetzt das Geld leichter verdienen und auch leichter wieder verjubeln, gaben den Vergnügungsstätten das Gesicht…“ Leider haben die gutgemeinten Ermahnungen der „Kölnischen Volkszeitung“ und des Herrn Gouverneurs bei unseren Herrn und Damen Eltern nichts gefruchtet. Im Gegenteil - sie trieben es noch ärger. Wie arg, das beschreibt Hans Ostwald in seiner „Sittengeschichte der Inflation“ (Berlin 1931): „Das Bild eines höllischen Karnevals! Wüste Schlemmerei, rasche Verarmung und jähes Reichwerden, ausschweifende Tanzwut, schreckliches Kinderelend, Nackttänze, Vergnügungstaumel, Genußsucht, materielle Lebensanschauung, Spielwut, Scheidungsepidemie, Verselbständigung der Frau, Frühreife der Jugend, Razzien und Schieberprozesse, Jazzbands und Rauschgifte. Ein erotischer Taumel wirbelte die Welt durcheinander. Als letztes Ergebnis der Entwicklung entstand die Junggesellin, die über sich selbst bestimmende Frau, sei sie nun unverheiratet, geschieden oder verwitwet. Wahrlich, ein grellbunter Jahrmarkt des Lebens!“

Wahrlich. Die Nationalhymne jener Generation war der Schlager „Man lebt ja nur so kurze Zeit und ist so lange tot“. Aber das war noch einer von den harmlosen. Gegen das, was unsere Eltern sangen, sind unsere Wimmerschnulzen „Ich wär‘ so gern bei dir“, „Nur du, du, du allein“,„Steig mit ins Traumboot der Liebe“ geradezu sittlich erbauende Morallektionen. Was die Jungen zwitschern ist nicht vergleichbar mit dem, was die Alten sungen. Ein paar Kostproben gefällig? Aber bitte nicht rot werden, unsere Eltern wurden es auch nicht. „Warum soll eine Frau kein Verhältnis haben …“ „War die erste Frau ne Pleite, nimm ne zweite, nimm ne zweite …“ „Eine Mietzekatze hat se aus Angora mitgebracht, und die hat se, hat se, hat se mir gezeigt die ganze Nacht …“ „Ich möchte einmal, ich möchte zweimal, ich möchte dreimal in einer Tour…“.

Und in Paderborn erklärte der Weihbischof, viele Damen wüßten nicht mehr, was ehrbare Kleidung sei. Was den Schlagertextern recht war, mußte den Filmproduzenten billig sein. Mit „Alraune“ trafen sie haarscharf ins schwarze Herz des Publikumgeschmacks. So sah es die Kritik: „Sexualismus, auch dann, wenn er einen Schuß ins Brutale gibt, läßt man sich gefallen. Ausgekochte, kaltschnäuzige Perversitäten haben nirgends im offenen Verkehr ihre Berechtigung.“ Aber unsere Herren und Damen Vorfahren dachten anders über das, was „im offenen Verkehr Berechtigung“ hatte. Vermeldete der „Berliner Lokalanzeiger“: „Im Marmorhaus ist der Film ,Alraune‘ des großen Erfolges wegen eine Woche verlängert. Gleichzeitig wollte die Mutter unseres „Lieschen Müller“ alles über das Privatleben ihres vergötterten Stars hören. Die Briefkastenredakteure der Filmsparte hatten ihre liebe Not. Was da alles gefragt wurde! „Ja, wie Roman Navarro so schnell das intime Gefühl für Alice Terry verlieren konnte, wissen wir auch nicht …“ - »Ihre Freundin hat Sie falsch unterrichtet, Willy Fritsch und Lilian Harvey sind nicht verheiratet…“-„Ob Harry Liedtke mit Xenia Desni in dem Film ,Der Soldat der Marine‘ echte Küsse austauscht, können wir Ihnen nicht sagen …“ - „Jawohl, die Söhne von Harry Liedtke sehen ihm sehr ähnlich …“ - „Hans Albers kann Ihnen kein Geheimnis für seine leuchtenden Blauaugen verraten, er benutzt weder Belladonna noch Waschblau …“ „Viele Leser fragen noch immer wie sie zum Film kommen, und ob wir ihnen keinen Weg weisen können …“

Über diese „Jugend von heute“ der zwanziger Jahre schrieb die „Frankfurter Zeitung“ am 7. Mai 1923: „Man kann solche meist frühreifen Burschen und Backfische überall heute in Cafés und Theatern sehen und kann nur Mitleid haben mit diesen modisch herausgeputzten Kinderfiguren, deren Gesichter von Blässe und von der typisch großstädtischen Atmosphäre gekennzeichnet sind und deren Unterhaltung in einem amerikanisierten Jargon vonstatten geht…“ Eine präzisiertere Beschreibung unserer Teenager-Mütter gibt uns Herbert von Borch: „Ein flachbrüstiges, jungenhaftes Geschöpf mit Bubi-Kopf-Frisur, kniefreiem Kleid, das Zigaretten rauchte, sich schminkte, Freud las, Cocktails trank, die Nächte in den Lokalen der großen Städte verbrachte, mit seinem männlichen Gegenbild „petting parties“ veranstaltete und schließlich sogar die Praxis „des Petting und Necking“ in das auch eben erst als Massenartikel erfundene Automobil verlegte: dieses emanzipierte Wesen der „flapper“ wurde zum Symbol der zwanziger Jahre … ebenso wie die Popularisierung der Freudschen Lehre und die Entstehung einer von ,Sex‘ zehrenden Industrie in Film, Magazinen und Mode.“

Wie das von einem fernen Horizont heraufgezogen war, beschrieb damals Theodor Wolff: „Nach One-Step und Two-Step war das Wunder des Tango gekommen. Die Jungen gaben sich verzückt dem Wunder der exotischen Grazie hin. Die Kleider waren noch lang und umhüllten wie schwarze Decken den Altar und die heiligen Geräte. Aber eines Tages gab man ihnen unten einen Schlitz, spaltete sie wie Hosen, und allmählich öffnete man sie seitwärts, wo nun bei jeder Bewegung und jedem Luftzug der Blick ins Freie gestattet war. Das alles erzeugte einen Taumel, und man konnte an die Gesellschaft des Bocaccio denken, die sich ihren Belustigungen hingab, um dem Gedanken an die Pest zu entfliehen.“ Diese erotische Emanzipation, der „Generations-Protest gegen das Viktorianische“, ist - so sagt Herbert von Borch - „die Voraussetzung dessen, was als Teenager-Problematik heute die gleichen Eltern verwirrt, die die alles gestattende Erziehung als erste anwandten.“ Er meint sogar, die zwanziger Jahre hätten in der Heftigkeit ihrer antipuritanischen Auflehnung alles Frivole für die zweite Hälfte des Jahrhunderts gleich mitverbraucht.

Nun könnten wir uns bequem im Cocktailsessel unseres Stamm-Espresses zurücklehnen, nachdem wir solchermaßen das Standbild elterlicher Autorität vom Sockel gestoßen haben, und sagen: „Denen haben wir es aber mal gegeben.“ Aber wir sind gar nicht so. Wir wollen unsere lieben halbstarken Eltern gar nicht im Saft ihres schlechten Gewissens ob ihrer mißratenen Jugend schmoren lassen. Wir halten in der Hinterhand einen kleinen Trost für sie bereit: Ihre Eltern, unsere Großeltern, waren nämlich noch viel schlimmere Halbstarke. Beweis: Ein Artikel aus dem „Kölner Stadt-Anzeiger“ aus dem Jahre 1888, betitelt: „Zur Jugendverwilderungsfrage.“

„Tägliche Rubriken in den lokalen Blättern dürften den ruhigsten Philister belehren, daß in dieser Beziehung wirklich manches sehr faul ist. Mit einzelnen Vertuschern, Beschönigern oder Leugnern dieser Stadtplage rechnen wir nicht, sondern wenden uns an alle Mitbürger, denen der Name ihres heiligen Köln am Herzen liegt, sich zu energischer Bekämpfung derselben aufzuraffen. Wir sind überzeugt, daß Tausende unserer Mitbürger das Skandalöse empfinden, daß halbwüchsige Schlingel aller Zucht und Sitte hohnsprechen, und ungestraft den einzelnen schädigen, ärgern und beleidigen sollen, und es müßte traurig um das Selbstbewußtsein des Bürgertums aussehen, wenn nicht einmal zur Anwendung ernstlicher Mittel zur Ausrottung des Übels geschritten würde. Wir sind der Ansicht, daß nur Selbsthülfe hier angebracht ist, denn es ist Thatsache, daß alle Appelle an Schule, Polizei und Haus bisher vergeblich gewesen sind. Vor den weithin erkennbaren Polizisten zerstiebt die wüste Rotte zeitig. Die Eltern erfahren vom Treiben ihrer Sprößlinge nichts, und so bleibt alles beim alten. So besteht die Notwendigkeit der Schaffung von Nichtinformierten, jedoch mit amtlicher Befugnis ausgestatteten Straßenaufsehern, einer Art Geheimpolizei. Kräftige Persönlichkeiten würden nun in Zivil gehen, mit unter dem Rock zu tragender Nummerlegitimation und ganz bescheiden zu bewaffnen sein mit: 1. einem dünnen spanischen Rohrstock für normale Fälle, 2. einer Waffe, ähnlich der der englischen Polizisten, für den Fall eines auf sie erfolgenden Angriffs und Parteinahme erwachsener Strolche, 3. einer Signalpfeife zur Heranziehung der uniformierten Schutzleute im Notfälle. Art ihres Eingreifens: Überziehung einiger Hiebe mit genanntem Stöckchen aus ungebrannter Asche bei Ergreifung der Thäter und Feststellung ihres Namens zur Meldung an Schule und Haus.“

„Donnerwetter“, sagte mein Vater, „was müssen die es getrieben haben. Da waren wir die reinsten Waisenknaben. Und wir haben immerhin …“

„Ja“, sagte ich, „ich weiß. Siehe oben.“