Berlin Biennale 9 Spezial

von 
Kritik
zuerst erschienen September 2016 in von hundert Nr. 28, S. 19-21

Ich fange mit Christopher Lehmpfuhl an. Ich lernte ihn 1992 kennen. Nicht wirklich, eine Bekannte, die gerade wie ich an der HdK (heute UdK) anfing zu studieren, stellte uns vor. Christopher war damals ein Junge in kurzen Hosen und Sandalen und sagte nicht viel. Er war ein Maler, der tatsächlich mit der Staffelei draußen vor Ort arbeitete. Man konnte ihm nicht gegenüberstehen ohne dieses anflutende Gefühl von Überlegenheit, von fast noch jugendlicher Arroganz. Dass jemand malte, ok, aber draußen, Stadtansichten und Parklandschaften? So jemanden wie diesen Christopher, so dachte man, konnte nur das jahrzehntelang vor sich hinschlummernde West-Berlin hervorbringen. Dort ganz hinten, in Zehlendorf, Dahlem oder Gladow, unter der Kalten-Krieg-Glocke, konnte das strenge Preußentum mit dem ihm eigenen trockenen Protestantismus eine ganz spezielle Enge entwickeln. Dieser konnte man nur entkommen, wenn man Künstler wurde und nach draußen ging, aber weit kam man da nicht.

Christopher malt immer noch und weiterhin nur draußen. Nur dass er jetzt die Pinsel weglässt und mit den Händen malt. Und er reist viel, seine Vita ist gespickt von Malreisen nach Korea, Island, Kalifornien oder China. Er holt die Welt mit seinen Händen auf die Bilder.

Damit ist er so etwas wie der künstlerische Antipode der aktuellen Biennale-Künstler, denen nichts ferner scheint als Malerei oder Handarbeit. Und nichts uninteressanter als körperliche Anwesenheit. Trotzdem hängt ein Riesenformat von Christopher Lehmpfuhl in den Räumen der European School of Management and Technology, die sich im ehemaligen Staatsratsgebäude der DDR befindet und nun temporär ein Ausstellungsort der Biennale ist. Natürlich hängt der fingergemalte Schinken, auf dem man die gegenüberliegende Schlossbaustelle als Baugrube sieht, nicht im ausgewiesenen Biennale-Bereich sondern davor, im Empfangsfoyer des ersten Stocks über dem Einlasstresen. Er bildet zusammen mit dem Staatsratsgebäude selbst einen kaum größer denkbaren Kontrast zu den Biennale-Exponaten von Simon Denny und Co.

Denny und die anderen beschäftigen sich mit der unsichtbaren oder nur auf Bildschirmen abgebildeten, virtuellen Welt. Und sind damit den Glasarbeiten im Treppenaufgang von Walter Womacka (1925–2010) von vor über 50 Jahren nicht unähnlich, denn auch dieser entwickelte damals die Corporate Identity für ein nur wenig greifbares Staatsgebilde. „Und ob wir dann noch leben werden, wenn es erreicht wird – leben wird unser Programm. Es wird die Welt der erlösten Menschheit beherrschen“ steht auf einer der Scheiben über den holzschnittartigen Köpfen von Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht. Und genau davon, nur andersherum als damals gedacht, erzählen uns die Kuratoren. Es geht um Programme, um Erlösung, um die Welt ohne den Menschen, um einen Kapitalismus, der uns nicht mehr benötigt.

Das sozialistische Programm steht mittlerweile nur noch als hübsches Dekor herum. Und Christopher Lehmpfuhl steht irgendwo in der Mongolei oder sonstwo an seiner Staffelei und bekommt von all den post-humanen, apokalyptischen Schaudermärchen vermutlich am wenigsten mit.

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Stellen wir uns also die Kuratoren vor. Ich denke sie mir als richtige New Yorker. New York ist das, was Berlin in 20 Jahren vielleicht sein könnte – alles sehr groß, aber dicht, dazu teuer, effizient, sehr weit vorne im Bereich der Digitalisierung. Man arbeitet an vielen Jobs gleichzeitig, um sich das alles leisten zu können. Die Mieten liegen bei 30, 40 Dollar den Quadratmeter, die Büromieten darüber. Berührungsängste mit der New Economy zu haben, wäre ökonomischer Selbstmord. DIS arbeitet schon immer im hybriden Raum der Agencies. Man wird gebucht von den großen Marken und Modelabels, um das Geld dann wieder in eigene Projekte zu stecken, die sich wiederum nur geringfügig von den Moneyjobs unterscheiden, nur das man erstmal sein eigener Auftraggeber ist. DIS hat zum Beispiel einen Onlinestore in dem sie Fashion-Items von Künstlern verkaufen. T-Shirts von Rirkrit Tiravanija (75 $), Mützen von Daniel Keller (400 $) Bjarne Melgaard, K-Hole, Timur Si-Qin, aber auch, eigene, also von DIS selbst entworfene Sachen. Das geht dann vielleicht auch irgendwann mal. Die Aufträge drehen sich meist um Branding, Markenentwicklung, gern auch subversive, künstlerische Strategien, virales Marketing, Mood-Boards. Lass uns erst mal überlegen wer wir/die überhaupt sind/sein wollen, und das wird dann entworfen. Die Identität liegt in der Zukunft. DIS hat nebenbei über das DIS Magazine eine eigene starke Marke entwickelt, die weit in die Kunstwelt hineinstrahlt.

Und dann ruft die Berlin-Biennale an. Man ist von allen Kunst-Digi-Fashion-Agenturen die hipste, kennt die noch cooleren Leute (u.a. Babak Radboy) und, ja, Berlin, great, why not, amazing. Man setzt sich in den Flieger, Taxi Neukölln, Friends, Dinner bei Simon und Ingar, Meeting next day with Klaus und Gabi, läuft durch die Stadt, there is still so much place und doch sind viele Strukturen schon ähnlich wie in New York, nur das Bier ist so cheap.

Mit diesem Blick entdecken sie den zentralsten Platz Berlins, der ihnen wie der Nukleus ihrer Welt erscheint, den Pariser Platz. Alles ist auf einmal da. Die Bank im Gehry-Bau, die History, die amerikanische Botschaft mit ihren Abhöranlagen auf dem Dach, das Fake-Adlon-Hotel, der Starbucks gegenüber, die Wohnung im gleichen Gebäude fünf Etagen darüber, in dem die Scharfschützen Schichtwechsel machen, die Touristen, die Bierfahrräder, die verkleideten Animateure, it’s so drag, die Demonstrationen für und gegen alles, was es auf der Welt gibt. Didn’t Artur (Żmijewski) showed all of them four years before?

Alles macht Sinn, alles kommt zusammen, die Künstlerliste und die Orte, die DIS-Welt und Berlin. Seit der Auguststraßen-Biennale 2006 gab es tatsächlich kein besseres Location-Scouting als dieses Jahr.

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Man könnte ja die 9. Biennale mit der Żmijewski-Biennale vergleichen. Im Hackbarth’s meinte kürzlich ein Neben-mir-Bier-Trinker, die jetzige Biennale wäre ja sehr politisch. Ach ja? Sicher kommt fast alles vor, was zur Zeit gesellschaftlich und politisch brisant war und ist. George W. Bush sitzt gerendert mit Rumsfeld und Konsorten im virtuellen Knast und alle wimmern um Vergebung (Josh Kline), Hito Steyerl lässt Computerspielprogrammierer von ihre Abwerbung durch das Militär erzählen und mixt das mit Bildern von nordirakischen Observatorien und kurdischen Drohnenpiloten. Drohnen fliegen auch für Amazon oder über rappende Flüchtlinge. Die böse Fratze des Kapitalismus schaut aus vielen Arbeiten heraus, man wandert mit Korpys/Löffler durch das neue EZB-Gebäude, sieht künstlich gealterte Gesichter vor Luxusautos, lernt ein bisschen über die Blockchain-Technologie und im Betrachterkopf addiert sich alles zu einem dystopischen Unbehagen. Die Apokalypse lauert hinter jeder zweiten Ecke und eine Menge uns überlebender Avatare redet munter weiter. Die Frage ist die der Haltung. „Statt Vorträge über Ängste abzuhalten, lasst uns die Leute erschrecken. Statt Symposien über die Privatsphäre zu veranstalten, lasst sie uns auf’s Spiel setzen. Lasst die Probleme der Gegenwart dort materialisieren, wo sie geschehen, und sie zu einer Sache des Handelns – nicht des Zuschauens – machen“, so enden DIS in ihrem Eingangsstatement des Katalogs. Das scheint hyperavantgardistisch gedacht: geht rein in die neoliberalen Macht- und Kommunikationszentren von Ökonomie und Politik und handelt dort – wie auch immer, aber vorne dran – innovativ und gleichzeitig subversiv. Dass dabei bis jetzt nur Appropriation oder bestenfalls eine Zerrspiegelung, eine Karikatur der eventuell kritisierten Systeme entsteht, ist den Kuratoren gerade recht. So kann man beide Seiten befriedigen, dem Kritiker die Kritik und dem Kapital das Produkt darreichen. Genauso arbeitet man ja eh schon lange im New Yorker Office. Eine Schmalspurversion dieses Ansatzes lieferte uns übrigens hier in Berlin schon Friedrich von Borries mit seinem RLF- (Richtiges Leben im Falschen)-Projekt.

Und in dieser Ambivalenz sind DIS mit ihrem Produkt der Żmijewski-Biennale nicht unähnlich, die ästhetisch dennoch ganz anders daherkam und eine explizit politische Biennale sein wollte. Er stellte alle möglichen Protestbewegungen nahezu eins-zu-eins aus und gab ihnen eine neue Plattform – die der Kunst – und das ging schief. Einerseits hatte der Effekt des Ausstellens etwas Folkloristisches und die Bewegungen landeten in einer Art Kunstgehege, in dem sie mehr begafft als verstanden wurden, andererseits gab es zwischen extrem rechts und extrem links eine solche Vielzahl an Haltungen, dass am Ende auch keiner wusste, um was es eigentlich gehen sollte. Vielleicht ist die Bühne der Kunst ja etwas wacklig für „Occupy Wallstreet“ einerseits und „New Logo“ andererseits. Dass uns die langjährigen Biennale-Organisatoren solche Schwankungen erleben lassen, ist jedoch ein großer Gewinn.

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Also ist die Biennale politisch, was auch immer das heißen mag, aber wie sieht sie denn aus? Gerade wenn so viel über Marken, Mode, Pop und korporatives Auftreten gewusst wird, wenn soviel nach der Oberfläche geschaut wird, sollte man sich vielleicht auch nur die Oberfläche anschauen? Und da wird es oft merkwürdig hässlich. Ich vermeide es eigentlich in der bildenden Kunst mit den Kategorien schön und hässlich zu argumentieren. Geschmack ist mir suspekt und wird oft in mir zu bürgerlich erscheinenden Kreisen betont. Wenn aber eine Ausstellung so weit in eine sich gerade formierende ästhetische Umwälzung der Gesellschaft greift, so science-fiction-mäßig in die Zukunft schaut, die Gegenwart kopiert, karikiert, akzeleriert, dann schau ich mir an, wie das denn aussehen soll, die Zukunft oder die „verkleidete Gegenwart“. Sie scheint vor allem laut und voll. Eine Menge cyber-punk-trashiger Dinge werden versammelt, allein das Schiff sieht aus wie ein Ausflugsschiff ehemaliger Besetzer aus den Berliner 90er- Jahren. Ryan Trecartin passt da eh dazu (ist er eigentlich das immer selber, dieser verrückte Maxe?). Sonst viel hässliche Typographie, entweder im Pseudo-Corporate-Design oder hingerotzt, wie man das eben heute so macht in unserem triplepostironischen Umgang mit Dingen und Zeichen.

Das Lustige und vielleicht auch Schöne daran ist ja, dass sich diese über allem schwebende mediale Superelite ästhetisch der proletarischen Unterschicht angleicht. Die Bildwelten aus der Gaming-Welt, die Tattoos, die Musik, das ständige Onlinesein – der Mega-Hipster und der Marzahner haben ein ästhetisches Bündnis geschlossen, zwischen dem Leute wie ich, also linke, leicht technikskeptische, fast noch analoge Menschen, schnell zerdrückt werden und auf beide Seiten wirken müssen, wie Christopher Lehmpfuhl damals auf mich – wie vertrocknete, weiße, alte, männliche ToskanaÖkos. „Schicken sie mir ein Fax“ sagte der Buchhändler Walther König zu mir in den frühen nuller Jahren.

Eigentlich ist es mir relativ egal, wie die Sachen aussehen, ich bin da abgehärtet. Das schaut sich weg. Wobei ich mich bei 3D-Mandalas immer noch schüttel und, glaube ich, noch nie ein Tattoo gesehen habe, bei dem ich vor Gefallen aufgeschrien hätte, aber egal, mir geht es eher um das Miteinander – Kommunikation, Verhalten usw. Ich möchte hier nicht das ganze Feld von Ästhetik und Moral aufrollen. Jedenfalls stelle ich mir nur vor, wenn in fünf Jahren ein selbstfahrender Porsche Panamera ein Oculus-Rift-Brillen tragendes Pärchen ausspuckt, die beide laut mit Larry aus LA skypen, das möchte ich weder sehen noch hören und die Vorstellung davon macht mich traurig.

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Und ich glaube, auch andere Leute empfinden diese gleiche leichte Traurigkeit, selbst wenn sie näher dran sind. Ich bin, und das meine ich ohne jegliche Ironie, ja mittlerweile Fan von Timo Feldhaus’ zweiwöchentlich erscheinender Spike-Kolumne geworden. Er serviert mir immer alle Absurditäten, die ein absolut zeitgenössisches menschliches Wesen mitbekommt und die ich erstmal verpassen würde. Und er schreibt sie aus der Position des Romantikers. Wenn ein Freund ihm zum Beispiel von Ausflügen in die Darkrooms der Schwulenszene berichtet, so übermittelt Feldhaus mir dessen Aufschrei „Warum muss jeder jeden und alles zu Tode ficken?“.

Oder er macht einen Sonntagsausflug mit Freunden auf der Flucht vor „Mails, Status-Update, Tweets, Leaks, SMS und so weiter“, lernt dennoch Pokemons kennen, sammelt beim Lesen der „Zeit“ Wörter wie „Altmensch, Premiummensch, Alteuropäer, smart people, Kontrollverlust, Kerneuropa, Selbstverwirklichung, Sexiness der Performance, Post-Demokratie, Neo-Aristokratie“ und liest diese am See einer angehenden Sexologin vor, die er zufällig trifft und von früher kannte. Oder er findet einen Artikel aus Singapur samt Foto, das ein Paar im Bett zeigt, umrundet von der ganzen Familie, die beim ersten Geschlechtsverkehr des Sohnes zuschauen, Vater, Mutter, Onkel, Geschwister.

All die Geschichten und Bilder kleben in meinem Kopf auf längere Zeit und liefern mir einen gefilterten Blick auf unsere Welt. Es ist toll, wie er da an meiner statt hindurchsurft durch die Jetztwelt und doch mit den Augen des Alteuropäers schaut, und das alles viel weniger moralisierend aufschreibt, als ich es je könnte und es dennoch ist. Wie schreibt er denn über die Biennale? „Wie traurig, hoffnungslos und wenig lustig das alles daherkommt. Wie sehr dem der Ton des Sakralen innewohnt. Das Internet: Der Tod. Die 9. Berlin Biennale, das ist Emo, Ermüdung, Ernüchterung, Entschleunigung, und ein Endpunkt.“

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Ja, die Biennale markiert einen wichtigen Punkt, sie beschreibt eine Gesellschaft auf dem Weg in die Zukunft, in der sie sich schon befindet. Hätte man mir die Welt von 2010 schon 1990 gezeigt, hätte ich gesagt: Na und? Sieht doch alles so ähnlich aus wie jetzt. Die Welt von 2016 hat sich jedoch verändert und zeigt sich an den Rändern schon so, wie sie auf den letzten Seiten der „Was-ist-Was“-Bücher aus den 80er Jahren aufgemalt wurde, nur weniger offensichtlich futuristisch, sondern viel subtiler. Noch habe ich keine echte Drohne gesehen, aber unzählige Drohnenbilder. Foodora-Fahrer summen auf Elekrofahrrädern an mir vorbei, mit Einkaufstaschen beladene Menschen mit dem immer angewinkelten Arm und piepsenden Smartphones laufen vor meinem Büro entlang, in den Bars sieht es schon aus wie im Film Her, alle schauen in die leuchtenden Displays, wenn der Gesprächspartner weg ist. Kürzlich erlauschte ich am Nebentisch mein erstes Tinder-Kennenlern-Gespräch. Ohrwurmmusik wird mit portablen Lautsprechern durch die Straßen getragen … Es ist nicht wirklich schlimm, nur anders.

Und die Kunst der Biennale ist auch nicht schlimm, nur dem allen so ähnlich. Tatsächlich sehnte ich mich nach echter Old-School-Kunst, nach diesem kontemplativen Moment, der Schönheit, dem Verstehen, der Erkenntnis. Die Kunst als Flucht ähnlich einem Sonntagsausflug im August. Das ist natürlich kein echtes Kriterium. Genauso gut könnte ich einen Aquarellkurs am Gardasee buchen, mit Christopher Lehmpfuhl als Lehrer … oder? Warum eigentlich nicht.