Borderline

von 
Reportage
zuerst erschienen im Juli 2013 in Reportagen #11, S. 76-95

Dämmerung im Südwesten Amerikas: Vor mir liegt ein menschenleerer Strand, wie die Ödnis am Ufer einer unbekannten Welt: Meterhohe Wellen rollen heran, am Horizont patrouilliert ein Zerstörer der US-Küstenwache, Willet-Vögel stochern mit ihren Schnäbeln im Sand, weiter nördlich schaukeln Surfer in schwarzen Neoprenanzügen wie Seehunde auf ihren Brettern. Es ist der Anfang einer unerklärlichen Reise in das Innere von Träumen. Ich stehe am Strand Imperial Beach, nahe San Diego, am westlichen Ende der 3000 Meilen langen Borderline, die Mexiko von den USA trennt. Für einen langen Augenblick trägt mich jetzt die apokalyptische Idylle ganz weit weg. Nichts was der Reporter jetzt mit eigenen Augen sieht, ist deswegen schon real. Und so versuche ich meine Augen vielleicht ein letztes Mal zu schliessen und zu beruhigen, bevor sich die mystische Landschaft, die Mexiko mit den Vereinigten Staaten von Amerika verbindet, zur Kriegszone verwandelt.

Noch hundert Meter. Das Objekt der Begierde erstrahlt jetzt im Dunst des Salzwassers wie eine Fata Morgana: Es ist ein Grenzzaun bestehend aus einzelnen, sieben Meter hohen Segmenten mit armdicken Stahlröhren, die westwärts im Pazifik untertauchen und sich in fast perfekter, gradliniger Harmonie endlos über die Hügel Richtung Osten reihen. Der Zaun besitzt eine geheimnisvolle, materialästethische Schönheit, als ob es sich um staatlich gesponserte Land Art handle – eine Stahlröhre kopiert die nächste, bis ein endloser Zaun von immer wieder sich kopierenden Röhren entsteht, von San Diego bis Brownsville, Texas. Es ist eine visuelle Spannung, die dieser Grenzbereich in Bewegung setzt, dabei symbolisch vielleicht vom absoluten Ende der klassischen Reiseberichterstattung erzählt und dabei natürlich in erster Linie Fragen zu Vertreibung, Deportation, sozialer Ungerechtigkeit, Paranoia, Todesmärschen und dem Aufeinanderprallen von Erster und Dritter Welt aufwirft.

Zwei Fahrzeuge der Border Patrol sind jetzt vorgefahren. Nähert man sich nämlich dieser Grenze auf weniger als dreissig Meter, sieht man sich dort zu lange um oder bleibt einfach stehen, sind die weiss-grünen Wagen der Grenzschützer schon zur Stelle. Jeder, der hier zu lange spaziert und beobachtet, steht sofort unter Verdacht, Komplize von Drogen- oder Menschenschmugglern zu sein.

Zwischen den Stahlröhren beobachte ich jetzt das andere Leben: Tijuana, Mexiko, die einstige Metrople des billigen Lasters, versinkt nach Medienberichten im Drogenkrieg mit jährlich mehr als 5000 Toten. Nur wenige Meter von der menschenleeren US-amerikanischen Grenzseite entfernt, spielen mexikanische Kinder Fussball, rennen Väter und Töchter um die Wette, findet das ganz normale Leben von Tijuana statt. Der Strandboulevard ist mit Motorrädern und fahrenden Verkaufsständen bevölkert, Hütten drängen sich eng aneinander. Am Strand liegt gerade ein altes Segelschiff auf der Seite, wie das Relikt einer Seeräuber-Vision. Dahinter der pazifische Ozean, weit, kalt und in schrecklichschöner Bewegung, wie ein Fass voll langsam wogender Schlacke. Ich laufe jetzt den Grenzzaun eine Meile ostwärts ab. Ich möchte den Zaun berühren, der mir wie eine verlockende Skulptur erscheint. Ich studiere das Lichtspiel auf den rostroten Stahlröhren, höre dazu Schreie von der anderen Seite, Banda-Musik aus irgendwelchen Autolautsprechern. Ich sehe drei ältere Mexikaner hinter Kartons und Kisten an einem Feuer campieren. Sie rauchen Zigarillos, eine Flasche Bier macht die Runde. Ich fühle mich jetzt auf der leblosen US-Seite wie der Ausgeschlossene. Dabei erzeugt der Rhythmus des Gehens entlang des Zaunmonsters einen sonderbaren Rhythmus des Denkens, jeder Schritt provoziert einen neuen Gedanken, bis eine Landschaft aus Gedanken entsteht. Ich kann mich noch gut erinnern: Das Reisen hat irgendwann mal in die Welt hinausgeführt und durch das Reisen Raum gewonnen und Gestalt angenommen. Ich erlebe heute den umgekehrten Vorgang, und dieser Grenzzaun macht es mir nochmals deutlich: Der Aussenraum ist durch einen vorgestellten, digitalen Innenraum ersetzt worden. Seit die Welt auf den Computerbildschirmen in einem populären Sinn immer „da” ist, gibt es die Welt immer weniger. Eine Trauer ist damit verbunden, und der wunderschön schimmernde Grenzzaun lässt diese Trauer wie ein Mahnmal erscheinen.

Ich erkenne jetzt durch die Stahlröhren eine unbestimmte Zahl von Erdhügeln auf mexikanischer Seite, wie Müllhalden, nur grösser. Ein Jeep der Border Patrol folgt mir. Menschen stehen auf den Hügeln und starren Richtung Norden, in meine Richtung. Vielleicht warten sie einen passenden Moment ab, um eine Sehnsucht zu füttern. Was ist schon ein sieben Meter hoher Zaun, wenn es sieben Meter hohe Leitern gibt? Manche träumen von einem Dach, manche von einem Bett, manche von einem Job oder auch nur davon, genug Geld für ihr Essen zu haben. Oder entspricht die Sehnsucht dem Wunsch, eine Blume haben zu wollen und sie dann zu pflücken? Die Sehnsucht erfüllt sich dann zwar, aber die Blume ist tot.

Seit Ausrufung des nationalen Terror-Notstands als Folge der 9/11-Katastrophe hat sich diese Grenzbefestigung vom sogenannten Tortilla Curtain - durchlässigem Stacheldraht und leicht zu überwindenden Wellblechverbauungen - zu einer bereits mehr als 2000 Meilen langen Borderline mit Stahlzaun, virtuellen Fallen aus Bewegungsmeldern, Videoüberwachung und unbemannten Drohnen verwandelt, die den Steuerzahler bis zur Vollendung 50 Milliarden Dollar kosten wird. Dazu kommt ein Heer von mehr als 35 000 Grenzschützern. Aus ihrer Sicht sieht es auf der mexikanischen Seite aus „wie in einem Katastrophengebiet, das ständig evakuiert wird”. Was eine optische Täuschung sein muss. Denn wenn es hier am westlichen Ende der USA so was gibt wie „das wahre Leben”, dann spielt es sich aus meinem Blickwinkel südlich des Zauns ab.

Scheinwerfer leuchten jetzt vor mir auf. Über Lautsprecher ertönt eine Stimme, die mich ins Visier nimmt: „Border Patrol! Back off, Sir!” 10 Meter ist hier die erlaubte Distanz zum Zaun, die nicht überschritten werden darf. Rauchschwaden hängen nebelhaft vor dem winterlichen Mittagslicht. Ich ignoriere die Stimme aus dem Lautsprecher. Der Wind weht trockene Samenkapseln durch die Grenzstäbe von Mexiko in die USA. Manchmal deponieren Mitglieder der Drogenmafia auch abgehackte Körperteile auf der US-Seite. Man wirft sie einfach in Müllsäcken über den Grenzzaun.

Die Auswirkungen des mexikanischen Drogenkriegs und die zunehmende Brutalität der Menschenschmuggler verwandelt die Reise der mehrheitlich aus dem Süden Mexikos oder aus Zentralamerika stammenden Menschen zu einer Odyssee aus Furcht, Verzweiflung und unmenschlicher Behandlung. Dabei ist das Erreichen des Grenzzauns auf mexikanischer Seite schon ein Riesenerfolg. Der wahre Todesmarsch hat längst auf mexikanischem Gebiet stattgefunden. Das Überqueren des Zauns, die Gnadenlosigkeit der Wüsten auf amerikanischer Seite gelten dann vielleicht bloss noch als kleines Hindernis. Werden sie geschnappt, ist das auch egal. In ihre Heimatorte können sie niemals zurückkehren. Dort warten Familien auf gute Nachrichten und besonders auf einen Scheck aus den USA. Sie werden es darum immer wieder versuchen. Der Zaun verwandelt sich dann zur göttlichen Prüfung. Und die Strapazen der Reise zur spirituellen Grenzerfahrung. Immer und immer wieder. Es gibt kein Zurück!

Drei Stunden später. Highway 94, nahe Grenzübergang Tecate. Ich suche Nähe zur „Mauer”. Ich fahre jene Highways ab, die parallel zur Grenze verlaufen, ich wähle inoffizielle Routen, Schmugglerpfade, die vielleicht nur den Kojoten unter den Grenzgängern vertraut sind. Ich bin aber weder Hofberichterstatter der Adventure-Tour-Branche noch fühle ich mich zuständig, politsch korrekte Betroffenheit unter Lesern über die hunderttausend menschlichen Schicksale auszulösen, die dieser Grenzzaun provoziert. Ich will das längste Bauwerk der Welt erkunden, anwesend sein, mich in einen rostroten Zaun im Niemandsland verlieben. Das ist vielleicht schon alles.

Vor mir liegt jetzt Tecate, USA. Ein Drecksnest. Es besteht aus nicht viel mehr als einer Tankstelle, einem heruntergekommenen Motel und Feldern gespickt mit Schrott. Draussen vor der Grenzwache schimmert der Grenzzaun golden. Es herrscht in diesem Augenblick gerade eine perfekte Verteilung von Scheinwerferlicht und Dämmerlicht, die dem Zaun einen feierlichen Zauber in unheilvoller Kulisse schenkt und wie ein Vorhang wirken lässt, den man bloss zur Seite schieben muss, um dahinter die seltsame Magie des Grenzbereichs zu entdecken: eine abgehobene Sphäre des Reisens, eine Bewegunsmeditation, vielleicht vergleichbar mit taoistischen Kampfsportarten. Lange bleibe ich nicht hier.

Fünf Meilen östlich von Tecate: Ich sehe auf der mexikanischen Seite verkohlte und rostende Autos. Auf amerikanischer Seite sehe ich nackte Felgen und geschwärzte Metallringe, die in einem steifen grauen Brei aus geschmolzenem Gummi sitzen. Dazwischen Mineralwasserflaschen, Plastikkanister, Kerzenstummel, zerrissene und von Blutspuren gezeichnete T-Shirts, Zeitungspapier mit braunem Abrieb, menschlicher Kot. Spuren von Grenzgängern im Sand. Illegale Wanderer womöglich, die vielleicht zum wiederholten Mal eine tote Welt unter die Füsse nahmen, einer Sehnsucht folgend, wie Ratten in einem Rad. Anzeichen eines Frontverlaufs in einem kalten Krieg kann ich mir hier trotzdem noch nicht richtig vorstellen - ganz anders als die ehemalige Berliner Mauer, die Golan-Höhen oder die innerkoreanische-Grenze - mit Wachtürmen, Tretminen und Selbstschussanlan-gen. Die Unmenschlichkeit der Berliner Mauer lebte ästhetisch von einer Strenge des Entwurfes, die Stil im Sinne von tödlicher Präzision existenziell anziehend und gleichzeitig abstossend erfahrbar machen konnte. Perfekt für die damaligen Punk-Phantasien rund um Aktionsund Graffitikunst.

Dieser Grenzzaun wirkt abstrakter, anziehender, wie der Monolith aus „2001 A Space Odysee”, und erinnert gleichzeitig an den Denkfehler eines Computerhirns aus einer fernen Galaxie. Soweit ich das bisher beurteilen kann, fehlt auf der US-Seite eine sogenannte Mauerkunst. Auf mexikanischer Seite jedoch haben die Attacken von Graffiti- und Aktionskünstlern längst begonnen. Der neue Grenzzaun auf US-Seite wirkt unberührbar und auf fatale Weise unschuldig - ein Objekt der Begierde.

Und dann passiert es: Ich berühre die Stahlröhren. Beim Berühren des rostroten Stahls tritt plötzlich das Gewichtige des Zauns in voller Eleganz auf, die Verbindung von unmenschlicher Sperrigkeit und illusionärer Leichtigkeit. Ganz anders als zum Beispiel die morbide Kraft der Berliner Mauer, die in den achtziger Jahren meine Nachbarin war und Milliarden Touristen angezogen hat. Tatsächlich lässt dieser Zaun die freie Sicht auf Mexiko zu, das gerade im Südwesten eine gemeinsame brüderlich-schwesterliche Geschichte und Gegenwart mit den USA geniesst, ähnlich dem deutsch-deutschen Verhältnis zu DDR-Zeiten. Schliesslich gehörten grosse Teile des amerikanischen Südwestens bis Mitte des 19. Jahrhunderts zu Mexiko.

Ich blicke jetzt über die mexikanische Ebene, wo sich eine Windmühle dreht, die aussieht wie ein chinesisches Spielzeug, das ich meinen Kindern irgendwann mal in Chinatown von Los Angeles gekauft habe. Fernab bellen Hunde. Die rauen Berge ragen mit tiefbeschatteten Klüften ins weite, steile Licht, ein halbes Dutzend Truthangeier kreist wie ein träges Papierkarussell am südlichen Himmel über Mexiko. Dort drüben tobt ein Krieg um Drogen- und Menschenhandel. Familienmitglieder, die ihre Kautionen an die Schlepperorganisationen verspätet bezahlen, werden orientierungslos und ohne Verpflegung nach Grenzüberschreitung der Wüste überlassen. Feinde der verschiedenen Syndikate werden auch schon mal am Grenzzaun exekutiert - bloss um den Gringos in Uniformen aka Border Patrol zu zeigen, was ihnen in einer noch unbestimmten Zukunft drohen könnte.

Drei Stunden später. 20 Meilen westlich von Calexico: Vor mir glitzert der nasse Asphalt von Highway 98. Es hat geregnet, und es ist Mitternacht. Drei grüne Ford Explorer der Border Patrol blockieren einen Fahrstreifen mit huschenden Lichtern, und verschiedene Uniformierte mit Maschinenpistolen kommandieren Autos auf den schlammigen Seitenstreifen. Distanz zum Grenzzaun: 12 Meilen. Junge US-Grenzwächter - Latinos mit typisch mexikanischen Stiergesichtern oder solche mit indianischen Gesichtszügen - halten Fahrzeuge an und lassen sich von den Fahrern Papiere zeigen. Sie sind alle Experten im sogenannten Profiling, dem raschen Erkennen und Selektieren von verdächtigen Personen (die meisten Verdächtigen sehen genau so aus wie sie selbst). Im Hintergrund erkenne ich jetzt ein provisorisches Hüttenlager der Grenzwächter, mitsamt Campingtischen, BBQ-Ofen, Gasheizungen und Mineralwasser-Kästen. Alles deutet auf eintönige, wochenlange Schichten einsamster Kontrollarbeit. Aber auch auf ständig wechselnde Strategien und Standortwechsel der Checkpoints, um den Fluchthelfern und Drogenkurieren die Arbeit schwer zu machen.

Ich gleite langsam Richtung Scheinwerferlicht: Hundert Meter vom Checkpoint entfernt liegt ein Mann mitten auf der Strasse. Sein Gesicht ist blutbespritzt, sein Körper von giftiggelben Scheinwerfern ausgeleuchtet. Er lebt noch. Irgendwo schreit eine Frau. Ein Grenzwächter trägt ein von Tüchern eingewickeltes Baby in den Armen, ein Baby, das wie ein Neugeborenes schreit. Mehr kann ich weder hören noch erkennen. Einige Beamte bewachen den Mann, als glaubten sie, er könne eine Gefahr für sie bedeuten.

Der Mann heisst Rüben, erzählt mir später ein Offizier der Border Patrol Sektor Tecate. Es ist Rubens fünfter Versuch, die Grenze in die USA mit seiner Frau zu überqueren. Man hat sie zweimal erwischt, zweimal zurückgeschickt, zweimal war die Mutter unterwegs erkrankt. Für ihn hat sich dieser rostrote Zaun längst zu einem Objekt der Anbetung verwandelt, der über seine weitere Existenzberechtigung entscheiden wird. Rüben und seine Frau stammen aus einem kleinen Bauerndorf in Sonora, das langsam vor die Hunde geht. Die Höfe verschwinden, die Leute ziehen weg. Im Norden gibt es eine Zukunft. Im Norden gibt es Jobs. Im Norden gibt es Geld. Autos waschen! Abfälle in Kläranlagen trennen! Schweineabfälle zu Hamburgerfleisch hacken oder 14 Stunden am Tag Tomaten auf endlosen Feldern pflücken - und dafür meist nicht mehr als 4.95 pro Stunde kassieren. Das Spiel, das hier getrieben wird, ist leicht zu durchschauen: Die meisten Amerikaner wollen die Drecksarbeit der Illegalen nicht verrichten. Ohne sie geht dieses Land längst vor die Hunde.

Aber da ist mehr. Irgendjemand aus ihrem Dorf hat Rüben erzählt, dass ihr Kind amerikanischer Staatsbürger werde, wenn es auf amerikanischem Boden geboren wird. Wenn ihr Kind bleiben darf, haben sie vielleicht irgendwann eine Zukunft. Rüben besitzt ein Taschenmeser. Er durchtrennte die Nabelschnur und entfernte die Plazenta. Das Baby begann zu weinen, Rüben begann zu weinen, Graciella, seine Frau, begann zu weinen. Alle haben ihre Gründe, wieso sie an dieser Grenze weinen: Angst, Leben, Schmerz, Erleichterung, Chancen, Hoffnung, das Bekannte, das Unbekannte. Als ich Rüben sehe, liegt er noch blutend am Boden, von einem Jeep bei der Flucht angefahren und verletzt. Doch was kümmert ihn die Verletzung, das verdammte Blut. Er ist am Leben! Er ist angekommen! In ein paar Wochen ist er vielleicht schon im Himmel.

Grenzübergang Calexico. Auf Highway 111 stauen sich die Autos meilenweit, um die Grenze nach Mexicali zu überqueren. Ich nähere mich einem Kontrollpunkt für mexikanische Autobusse. Auf dem Dach sind Grenzschützer beschäftigt, Schachteln und Bündel auf den Boden zu werfen, während einige Passagiere passiv mit über den Kopf erhobenen Armen danebenstehen. Ein blauer Kleinbus ist neben einer Kontrollstelle geparkt, alle seine Fenster zerschlagen und sämtliche Sitze herausgerissen.

Als ich bei der Kontrolle meinen Ausweis zeige, fühle ich die Hitze im Kopf, mein Inneres verursacht Übelkeit. Man will nicht krank werden, wenn sich die Dinge entwickeln. Ein Lastwagenfahrer aus Arizona, ein Latino, der bloss seine Papiere einem Grenzwächter zeigen will, flucht über eine Gruppe Campesinos, womöglich Zentralamerikaner, die vorne im Staub stehen, um sich durchsuchen zu lassen, und eine endlose Warteschlange verursachen.

„In einigen Jahren werden wir hier von diesen Schwachsinnigen regiert, von den Kindern dieser Leute…” In seiner Stimme liegt tiefer Abscheu, der mit seiner Sympathie rivalisiert. „Die ernähren sich von Müll. Aber bald sind sie mit nichts mehr zufrieden. Und dann werden sie und ich grosse Probleme kriegen…”

Später treffe ich den Grenzschutz-Pressemann des Sektors Calexico. Er schwärmt von der täglichen Borderline Action. Jeden Tag werden in seinem Sektor rund 1200 Menschen verhaftet und weit über eine Tonne Marihuana beschlagnahmt. Im dope room des Grenzschutzpostens stapeln sich die zu Rucksäcken vernähten Jutepakete, die man nachts zuvor den Kurieren abgenommen hat.

Es ist Samstagabend, und in der Innenstadt von Calexico stehen Latinos in Gruppen an der Main Street und beobachten wie der Strom der Wagen unter Scheinwerferlicht und strengen Blicken der Border Patrol von Norden nach Süden und von Süden nach Norden zieht. Kürzlich wurden hier am hellichten Tag Drogenpakete per Katapult über den Zaun geschossen und auf US-Seite von Zwischenhändlern in Empfang genommen. Ich sehe qualmende Busse auf mexikanischer Seite am Strassenrand. Beim Fussgängerübergang stehen Latinos in ihren Cowboyhüten und Latinos mit Plastiktüten. Schwer zu sagen, ob es US-Staatsbürger, Illegale oder Mexikaner auf Verwandtenbesuch sind. Auf US-Seite ist ein Dschungel aus unsichtbaren Überwachungsgeräten gewachsen, wie aus postapokalyptischer Science-Fiction, die die einst weitgehend unsichtbare Grenze unüberwindbar machen soll. An der Stadtgrenze sind Hügel eingeebnet, Bäume gerodet, ausgetrocknete Flussbetten verbarrikadiert - eine Landschaft im Dienst der Grenzsicherung ist entstanden, die in den Träumen der Grenzschützer eines Tages durchgehend bis an den Atlantik reichen soll.

Ich fahre jetzt mit Standlicht einfach weiter, drei Stunden durch die Dunkelheit, auf einer sandigen Piste parallel zum Grenzzaun. Ausserhalb des schwachen Lichtkegels herrscht vollkommene Schwärze, durchbrochen vom Zucken eines unheimlichen grauen Lichts über dem Grenzzaun. Und dann, weit weg, irgendwo über dem mexikanischen Bundesstaat Sonora, höre ich leise in der Düsternis gedämpftes Donnergrollen. Wie viele Grenzgänger sind in diesem Augenblick mit mir unterwegs?

Und so wird es langsam wieder Morgen an der Borderline: Ich erreiche ein Wüstenplateau, das von Lavabergen umgeben ist. Aus der Ferne sieht der dunkelbraune Bergrücken, über den sich der Grenzzaun quält, fast unheimlich aus. Die Sonne steht noch niedrig, aber man spürt schon die drohende Hitze. Ich studiere die Farbtönung der Gesteinsformation in Verbindung mit dem rostroten Stahl des Zauns. Ich denke gerade daran, welche Erschütterung die Entdeckung Amerikas im 16. Jahrhundert bei den Menschen ausgelöst haben muss. Und wie das Reisen für Hunderte von Jahren die Phantasie und Poesie beflügelte und damit Verbunden den Kitsch des ästhetischen Reiseberichts. Ich denke an die grosse Reiseliteratur, an das Geheimnis des Reisens, das für mich längst wie abgedroschen klingt: die innere Verwandlung, die Erfahrung des Fremdseins, „Die Fahrt ist das Ziel”, „Nur Reisen ist Leben” …Ich muss an die antizipierten Todeserlebnisse in den Reise-Essays von Virginia Woolf denken. Der schamanische Charakter des Reisens - und was das Reisen eben genau vom Tourismus unterschieden hat. Ich stelle mir nochmals vor, wie ich früher Reisen immer als einen Auftrag verstand, ein Kommando, eine Prüfung, und wie ich einmal als selbstauferlegter Persönlichkeitstest für Monate den Spuren von poetischen Abenteurern wie Bruce Chatwin oder Jack Kerouac gefolgt bin. Heute lebe ich mit meiner Familie in Los Angeles, und die aufregendsten Reisen finden entweder virtuell auf meinem Computer statt oder auf einer zehnspurigen Autobahn - im Stau zwischen Down-town und Meer. Der unendliche, reale Raum, einst unentbehrliche Grundlage jeder Reise, ist mir abhandengekommen, und ich habe gemerkt, dass ich vielleicht sogar getrost auf ihn verzichten kann.

An jenem Morgen in Grenznähe wird mir jedoch klar, dass ich noch immer an die Wunder des Reisens glauben möchte. Vielleicht gibt es sie ja doch noch - die Poesie des Reisens: wenn alles Alltägliche fundamental wichtig wird, wenn jeder Mensch, der meinen Weg kreuzt, sich zum „Engel” verwandelt. Gegenstände, Menschen, Tiere, Ereignisse mutieren zu Stellen, durch die das göttliche Licht schimmert, und meine Bewegung entlang der Grenze ruft den Bewusstseinszustand der Expansion und des ästhetischen Reisens hervor. Und so wird es langsam wieder Morgen im Südwesten von Amerika.

Interstate 8, nahe Yuma, Arizona: Stunde für Stunde geht jetzt die Fahrt vorbei an Kontrollposten und mobilen Wachtürmen. Es ist die totale Borderline. Beamte pflügen auf Strandbuggies durch Canyons und über Dünen und leuchten in Kofferräume, karren Festgenommene im Pick-up davon und machen Mittagspause in ihren Wohnmobilen, eilen mit Blaulicht ins Nichts, wo wieder ein Sensor angeschlagen hat, oder folgen den Aufklärungsbildern unbemannter Drohnen. Es ist ja nicht nur der Zaun selbst, der Meile für Meile durch die vollkommen leere, wertlose Landschaft von Kalifornien, Arizona, New Mexico und Texas läuft wie das letzte Denkmal einer einstmals blühenden, jetzt vom Sand verschluckten Zivilisation. Wo man auch hinkommt, in Tecate, Mexicali, in Aloganes, in Yuma und den anderen in Gluthitze stillstehenden Nestern: Grenzsicherung scheint hier nicht nur das letzte florierende Gewerbe zu sein, sondern auch die einzige Form von Unterhaltung und geistig-seelischer Selbstüberprüfung - für Jäger, Gejagte und betroffene Anwohner des Grenzbereichs.

Dabei gleichen sich Gesichter, Körper und womöglich sogar die persönliche Biografie von Grenzschützern und Illegalen - als ob es sich um Replikanten einer posthumanen Welt handeln würde, wie in „Blade Runner”. Bloss dass die einen Uniformen tragen, Spiegelbrillen, Militärstiefel, Waffen, und die anderen wie biblische Wesen aussehen, auf einer Wanderung ins ewige Licht, auf der Suche nach der Differenz zwischen Menschen und Replikanten. Oder vielleicht ist alles gerade andersherum: Die Uniformierten sind bei der Fahndung nach den Illegalen in Wahrheit auf der Suche nach sich selbst. Denn vielleicht wirft dieser Grenzzaun gerade die alten Fragen nach Identität und Fremd-werdung des Ichs neu auf, die drohende Ununterscheidbarkeit zwischen Mensch und Alien, Mensch und Androiden, menschlichem Bewusst-sein und Computer.

Highway 85 Richtung Süden, mitten durch die legendäre Barry Goldwater Air Force Range. Militarisierte Zone. Totale Kontrolle. Testgebiet für Hitghech-Drohnen und die neuesten unbemannten Kampfflugzeuge der US-Air-Force. In der Ortschaft Why in Arizona halte ich kurz an und überlege: Als der dramatische Verlust von amerikanischen Industriejobs an Länder wie China begann, schürte dies populistische Ressentiments gegen die Illegalen. Dann kam der 11. September. Im Zuge der Wagenburg-Mentalität entdeckten Politiker die Grenze zu Mexiko als idealen Schauplatz für ihren Aktionismus. Die illegalen Einwanderer galten nicht länger als arme Hunde, sondern als potenzielle Terroristen, Steuerbetrüger und Sozialschmarotzer, gegen die das Land verteidigt werden müsse. So begann die Militarisierung von Amerikas Südgrenze im Krieg gegen den Terror, ein Unternehmen, das mit dem Irakkrieg verglichen werden kann: ein sinnloses, wenn auch spektakuläres Loch, in das mehr und mehr Milliarden geschaufelt werden. Wie jeder Krieg der USA ist auch die Grenzsicherung ein bedeutender privater Wirtschaftszweig geworden. Die Profiteure sind oft dieselben: Die Firma Halliburton unterstützt die Nationalgarde beim Zaunbau; Boeing bekam den Auftrag für den „virtuellen Zaun” und die elektronische Grenzüberwachung; Wackenhut Corporation ist mit ihren weiss-roten Bussen für den Transport der Festgenommenen zuständig. Und ihre Strafe sitzen die Illegalen in den kommerziellen Gefängnissen der Corrections Corporation of America (CCA) ab.

Denkpause. Stille. Totale Einsamkeit. Ich wandere durch den Organ Pipe Cactus Park im Grenzsektor Tuscon. Ich merke gerade, dass ich beim Gehen mit mir selber spreche. Oder spricht der Zaun mit mir? Distanz zu den rostroten Stangen: 100 Meter.

Ich stehe jetzt auf einem steilen Bergsattel und beobachte wilde Pferde auf der mexikanischen Seite des Grenzzauns. Irgendwann schwebt ein Falke vor der Sonne vorbei, sein Schatten huscht rasch über das Gras. Der Falke schwenkt ab, gleitet mit dem Winde davon und verschwindet hinter einem Bergvorsprung auf US-amerikanischer Seite. Dann passiert lange nichts. Totale Stille. Auf einem Felsen entdecke ich jetzt einen vom Wind bereits getrockneten und dunkel verfärbten Blutstropfen. Ich finde zwei ausgelaufene Duracell-Batterien. Eine Bierflasche der Marke Dos Equis. Einen Plastiksack mit der Aufschrift des mexikanischen Supermarkt-Riesen Aurera. Das ist alles.

Dann lege ich mich auf eine Felsplatte neben eine Riesenkaktee. Ich bin müde. Es wird bald Nacht. Ich schaue einfach Richtung Himmel, wie lange, weiss ich nicht mehr. Ich sehe Schwärme von Zugvögeln von Norden Richtung Süden schweben und lausche ihrem gedämpften Kreischen in mehreren Kilometern Höhe. Sie scheinen dort oben die Erde ebenso sinnlos zu umkreisen wie Insekten, die den Rand eines Plastikbehälters, der vor mir am Boden liegt, entlangwimmeln. Ich wünsche den Vögeln eine gute Reise, bis sie fort sind. Vielleicht höre ich nie wieder welche.

Dann geschieht etwas. Es ist dunkel geworden. Ich muss eingeschlafen sein. Ein weiss-grüner Wagen rast auf mich zu. Scheinwerferlicht überflutet meine Position. Staub wirbelt auf, Türen werden aufgerissen, Grenzwächter mit Masken und Spiegelbrillen packen mich an den Armen. Ich sehe auf mexikanischer Seite noch Rauchschwaden hochsteigen. Überreste eines alten Feuers. Tote Kakteen neben dem Grenzzaun. Dann sehe ich für einen Augenblick nichts mehr.

„In dieser Welt, in die Sie da scheinbar so unschuldig eindringen, Mister Kummer, in dieser Welt wird alles irgendwann eine Frage des Sehens und Nichtsehens, eine Frage von Leben oder Sterben.” Diese Erklärung liefert mir ein grinsender Officer namens Brian Johnson von der US Border Patrol, Sektor „Lukeville/Sonoyta”. Wir sitzen in einem riesigen Verhörraum. Meine Kamera wurde konfisziert.

„Diese Grenze kann kein Normalsterblicher begreifen. Die Dinge geschehen in einem anderen, wie soll ich sagen: Space-Time Continuum.” Der Grenzwächter lehnt sich stolz zurück, als ob er diesen Begriff speziell für mich erfunden hätte. Vielleicht will er mich auch bloss mit Wissen beeindrucken - oder sein eigenes gestörtes Verhältnis zum Grenzzaun offenbaren. „Also, versuchen wir es nochmals, Mister Kummer: Was suchen Sie hier?”

Der Verhörraum hat schlechtes Licht. Ich schaue mich um und suche nach einer Antwort. Der Raum ist für Dutzende illegaler Immigranten konzipiert, die man hier an individuellen Tischen gleichzeitig verhört, bevor sie wieder abgeschoben werden.

„Ich interessiere mich in erster Linie für die Ästhetik des neuen Grenzzauns. Das ist alles…” Der Grenzschützer lächelt und studiert dabei meine Dokumente. „Kommen Sie mir bitte nicht mit so einem Mist. Wie lautet Ihr journalistischer Auftrag?” Bevor ich antworten kann, entdecke ich in der Mauer Flecken von Durchgesickertem, und ich sehe einen Moyote-Käfer aus einer der Ritzen in der Wand kriechen. „Es gibt keinen konkreten Auftrag…”

Die Wahrheit würde mir dieser Mensch nie glauben: Auf Bildern zu Hause in Los Angeles erschien mir der neue Zaun tatsächlich wie staatlich geförderte Land Art. Als ob die rostrote, raue Oberfläche des Grenzzauns tatsächlich Antworten auf die Kompliziertheit der Gegenwart liefern könnte. Und vielleicht Hesse sich auf dieser Reise ja sogar meine Identität nomadisch erneuern. Das war die Grundidee. „Ich will bloss Echtzeit im Grenzgebiet erleben. Das ist alles. Und aufschreiben, was meine Hirnkamera dabei registriert hat.” Johnson starrt mich fragend an. Dann grinst er abschätzig. „Und was genau ist eine verdammte Hirnkamera, Mister Kummer?” Irgendwie hängt jetzt mit dieser Frage auch der dicke, süssliche Geruch von Pisse in der Luft. Der Raum ist voller Fliegen. Den Grenzoffizier kümmert das nicht. Er wartet auf meine Erklärung.

„Nichts, was ein Reporter mit eigenen Augen sieht, ist deswegen schon real”, sage ich. „Also benötigt der Reporter Hilfe.” Dieser Satz zeigt Wirkung. Grenzwächter Johnson hebt den Blick von meinen Dokumenten und starrt mich diesmal interessiert an. „Sie operieren also auf zwei Ebenen, wenn ich es richtig verstehe. Erzählen Sie mir davon.” „Korrekt, ich operiere möglicherweise auf einer realen, der vor Ort recherchierenden und erlebenden Ebene. Und auf einer vermittelnden Ebene, wo die Wirklichkeit erst durch meine Hirnkamera real wird… also durch die Reflexion.” Pause. „Ich glaube sogar, ich bin ein bisschen wie Sie, wenn es um die Wahrheitsfindung an der Borderline geht…” Der Grenzwächter studiert jetzt mein Gesicht, als ob er dort Spuren finden könnte, die mich der Verarschung eines US-Staatsbeamten überführen könnten. Dann grinst er und verschwindet hinter einer Türe. Nach einer halben Stunde Wartezeit händigt er mir einen Passierschein aus, den ich vorweisen solle, falls ich wieder geschnappt werde. Ich soll das Fotografieren gefälligst sein lassen, und noch einen Tipp gibt er mir: Den Begriff „Hirnkamera” soll ich besser nicht mehr erwähnen. Dann schlägt er mir aufmunternd auf die Schulter.

Der Morgen danach. Rauchiges Dämmerlicht steigt von mexikanischer Seite Richtung Norden. Ich marschiere seit zwei Stunden parallel zum Zaun. Trübes, schwefliges Licht von irgendwelchen Bränden auf mexikanischem Boden begleitet mich. Der Zaun windet sich südlich vom Highway 286 durch ein langgezogenes, menschenleeres Tal. Noch sind es 32 Meilen bis zur legendären Grenzstadt Nogales. Ich wandere über staubiges Präriegras, immer mit Blick auf die verlockenden rostroten Stangen des Grenzzauns. Es hat letzte Nacht leicht geregnet, während ich unter einer Brücke im Wagen campiert habe. Die Berge in der Ferne sind verhüllt. Ich laufe jetzt konzentrierter, Muskeln spannen sich an, ein Fuss löst sich vom Boden. Ein Gedanke folgt dem nächsten, wie ein Schritt dem nächsten folgt. Ich bleibe kurz stehen, um Luft zu holen, und zähle meinen Herzschlag. Noch sind es fünfzehn Meter bis zur Grenze. Längst habe ich womöglich einen Bewegungsmelder ausgelöst. Ein Fahrzeug der Border Patrol ist mir gefolgt, ich sehe das Weiss-Grün der Karosserie etwa zwei Meilen entfernt am Horizont glänzen.

Ich möche jetzt den Zaun wieder berühren. Muss es immer wieder tun. Wie eine kleine Sucht. Das Monströse fasziniert mich - wie alle Zweckbauten, die mit industriellen Mitteln eine neue ungewollte Schönheit entstehen lassen. Auf den ersten Blick wirken solche Bauten starr und bedrohlich, in Wirklichkeit sind sie jedoch extrem dynamisch und provozieren im Kopf Bilder und Träume. Natürlich kann man so einen Grenzzaun nicht mit kunstgeschichtlichen Kategoriebegriffen erfassen. Aber genau so wenig schafft es die nackte Realität der Statistik:

1. Der neue Grenzzaun wurde im vergangenen Jahr von 365 000 Menschen illegal überwunden.

2. Das sind gut 78 Prozent weniger als noch im Jahr 2000 -was nicht bloss auf die massive Aufrüstung an der Grenze, sondern ebenso auf die Wirtschaftkrise zurückzuführen ist.

3. Letztes Jahr starben offiziell 487 Menschen beim Versuch, illegal in die USA einzuwandern. Die inoffizielle Zahl soll viermal höher liegen.

4. Die Illegalen verhungern, verdursten, sterben vor Erschöpfung oder werden von Schmugglern und wilden Tieren getötet.

5. Mehr als 50 000 Menschen stehen täglich auf mexikanischer Seite bereit, den Grenzzaun zu überwinden. Gut 10 000 Menschen schaffen es jeden Tag.

6. Drogen im Wert von geschätzten 40 Milliarden Dollar werden jährlich über, unter oder durch den Zaun geschleust.

7.  Mehr als dreissig Drohnen sind zur Luftraum-Aufklärung im Einsatz. (Drogenschmuggler gelang es letztes Jahr, mindestens zwei dieser Drohnen per Maschinengewehrsalven über Arizona abzuschiessen.)

8. Den Grenzschützern ist es erlaubt, bei Verdacht illegaler Aktivitäten von ihrer Schusswaffe Gebrauch zu machen.

9. Der rostrote Zaun erinnert an die Stahlskulpturen des Künstlers Richard Serra.

10. Über die betörende Unwirklichkeit dieses Zauns dominiert die Wirklichkeit derjenigen Menschen, die an ihr scheitern.

Da sich die Völkerwanderung Richtung Norden nicht verhindern lässt, bleibt nur Abschreckung. Der neue Zaun soll das Terrain und das Klima auf optimale Weise gegen die Immigranten ausspielen, sie in die Berge und in die Wüste drängen. Die Umleitung der Immigrantenströme in die dünn besiedelten Mondlandschaften hat einen willkommenen Nebennutzen: Er lässt die Immigranten aus den Augen der Öffentlichkeit verschwinden. Die Immigranten tauchen zum ersten Mal im Blickfeld der meisten Amerikaner auf, wenn sie ihren Schrecken verloren haben: als verschüchterte, billige Arbeiter, die sich zum Beispiel in meiner Nachbarschaft zu Hunderten vor einem riesigen Hobbymarkt versammeln, wo sie um einen Job betteln. Wenn diese Menschen in der Mondlanschaft sterben, sieht es keiner. Was also tun? Weiter hochrüsten, mehr Zäune bauen, bis die Grenze dicht ist? Oder die gespenstische Sisyphusarbeit der Grenzsicherung aufgeben und den Illegalen Arbeitsgenehmigungen geben? Weil keine der beiden Lösungen praktikabel erscheint, wird an der Grenze das Scheitern auch weiterhin mit äusserster Entschlossenheit durchgesetzt. Die Kulisse dazu ist märchenhaft.

Dienstagmorgen. In der Grenzstadt Nogales hält mich nicht viel. Gerade werden auf der Main Street Szenen zur dritten Folge der erfolgreichsten Hollywood-Komödie der letzten Jahre, „Hangover”, gedreht - fünfhundert Meter vom Grenzzaun entfernt. Die Strasse soll im Film stellvertretend für eine Strasse in Tijuana erscheinen. Unter den Zaungästen der Dreharbeiten begegne ich einem Bürger Nogales‘, der vor vierzig Jahren von Mexiko illegal über die Grenze gekommen ist. Er ist heute amerikanischer Staatsbürger und lebt in einem Haus direkt am Zaun. Er war kürzlich Protagonist in einer Story der „New York Times”. Er erzählt mir jetzt nochmals, wie er nachts immer wieder von den Illegalen geweckt wird, die an seinem Haus vorbeiziehen. Er habe nichts gegen die Leute, sie sind schliesslich auch irgendwie seine Landsleute. Was ihm Sorgen bereite, seien die Drogenkuriere, die Waffenhändler, die bösen Kräfte aus dem Süden, die Träumer, Menschen die in den USA irgendwelchen sinnlosen Träumen nachjagen und vielleicht sogar hoffen, irgendwelche Engel zu finden, die es nicht gibt. Manchmal fürchtet er sich auch vor den Abfallsäcken, die über den Zaun fliegen und auf seinem Grundstück landen.

Sechs Stunden später, Highway 80: Mein Fernglas sucht jetzt den Horizont Richtung Douglas, New Mexico, ab. Ein Flammenschleier auf mexikanischer Seite erstreckt sich meilenweit. Ich betrachte ihn. Plötzlich erkenne ich in der Distanz eine Gruppe Menschen. Vielleicht sechs Personen. Sie schleichen mit Gewehren bewaffnet hinter einem Pick-up-Truck her. Sie durchforschen jetzt eine mit Yucca-Büschen gespickte Prärie. Durch das Fernglas sehen diese Menschen wie zerlumpte Götter aus einer Mad-Max-Phantasie aus, aber es sind bloss Tarnkleider, in denen sie über den ausgetrockneten Boden eines ehe-

maligen Mineralmeers schlurfen, eine Einöde, die rissig und zersprungen ist wie ein heruntergefallener Teller. Es sind keine Jäger, es sind auch keine Spezialeinheiten der Border Patrol. Diese Gestalten gehören einer Bürgermiliz an, die Jagd auf illegale Einwanderer macht. Es sind lokale Farmer und abenteuergeile Männer aus Douglas, die hier ihre eigene Reality-Show oder Adventure-Tour durchziehen. Das neue Reiseabenteuer der X-Game-Generation.

Plötzlich verschwinden diese Gestalten in einer Dunstglocke, die von kleinen Geländewagen ihrer mobilen Einsatztruppe verursacht wurde. Und während ich mich jetzt leicht panisch Richtung meines Mietwagens bewege, sehe ich über dem zwei Meilen entfernten Grenzzaun ein weiteres Flugobjekt von der Grösse eines Segelflugzeugs: eine Aufklärungs-Drohne der Border Patrol. Sie hat Kurs auf die Milizen genommen. Dass die offiziellen Grenzwächter mit Bürgerwehren zusammenarbeiten, wird von Seiten der Homeland Security und des Innenministeriums abgestritten. Ich laufe noch zwei Meilen, die Landschaft hat für einige Minuten ihre Magie verloren.

Erst in diesem scheinbar menschenleeren, im Sommer 45 Grad heissen Glutofen bekommt man eine Ahnung von dem schier uner-messlichen Aufwand, der getrieben wird. Und von seinem unausweichlichen Scheitern. Amerikas Südgrenze ist nicht dichtzumachen. Das einzige Ziel des Menschen kann hier bloss die eigene Auslotung von Grenzbereichen heissen. Das ist alles. Diese Landschaft erzeugt Tod, doch erst der Zaun schenkt uns die Todeserfahrung, denke ich, während mein Wagen über Sandwege im östlichen New Mexico rumpelt, auf denen Wasserflaschen von den nächtlichen Flüchtlingsgruppen zeugen, die hier kreuzen. Ich sehe den zerschmetterten Bildschirm eines Samsung-Mobiltelefons. Manchmal rufen die Illegalen in letzter Verzweiflung Hilfsorganisationen wie „Derechos Humanos” an. Weil sie nicht mehr weiterwissen und vielleicht ihre Freunde zurückgelassen haben. Wenn ihre Leichen gefunden werden, ist oft nicht einmal mehr das Geschlecht zu bestimmen. Die Wüsten sind gnadenlos.

Dreissig Meilen westlich von El Paso. Das ersehnte Land ist jetzt zerfurcht, erodiert und öde. In einer Auswaschung liegen Knochen von toten Tieren verstreut. Vor mir steht ein Mann mit hagerem Gesicht, und seine Augen sehen zerstört aus. Er hat vor wenigen Minuten versucht, meine Füsse zu küssen - als ob ich so was wie ein Engel wäre. Er schaut mich jetzt an, mit einem grinsenden und gleichzeitig schmerzverzerrten Gesicht, als ob er gerade eine sehr, sehr lange Strecke gerannt sei, ohne anzuhalten. Manuel sieht erbärmlich aus, halbtot, und trotzdem lächelt er mich jetzt noch liebevoller an, als ich ihm eine Flasche Wasser und einige Proteinbars in die Hand drücke. Wie viele Stunden er gelaufen ist, seit er die „Mauer” überstiegen hat, weiss er nicht mehr. Er klopft mir euphorisch auf die Schulter: „De puta madre”, kein Fahrzeug der US Border Patrol weit und breit!

Und dann erkenne ich etwas ganz Besonderes in seinem Gesicht! Ein Glänzen. Eine Erleuchtung. Vielleicht ist es die Freude an einem Wunder namens Lohn der Angst, die Manuel empfindet und die ich niemals erfahren kann. Er hat den ultimativen Weg ins Nirgendwo auf sich genommen, einen Todesmarsch absolviert und dabei gewonnen. Das kann ihm niemand mehr nehmen. Er hat diese dünne Schicht, die uns alle umhüllt, diesen Film, diesen Rückstand, diese zweite Haut aus all den Dingen, die du getan hast und gewesen bist und gesagt hast und in denen du fehlgeschlagen bist und die uns von den grossen Erfahrungen des Lebens trennt - diese Haut hat er sich abgestreift. Das ist das tiefere Geheimnis des Reisens, das nur auserwählte Wanderer erfahren können. Es ist ein Gefühl des Befreitseins, des schwerelosen Dahingleitens - und das hat nichts mit dem Abenteuer von Extremsportlern zu tun. Denn es ist eine fundamentale Erfahrung, die näher an Gott und dem Abgrund in die Hölle ist als alles andere auf dieser Welt. Und natürlich weiss er, dass dieser glitzernde Augenblick nicht lange anhält. Vielleicht noch einige Tage, vielleicht auch bloss einige Stunden, bis zur Interstate 10, die New Mexico mit Texas im Osten und Arizona im Westen verbindet - aber bestimmt nicht weiter.

Manuel stampft jetzt einfach weiter Richtung Norden, wo ein trüber Schleier über Himmel und Erde hängt. Die flachen, schwarzen Berge in der Ferne bilden einen gezackten Saum längs der unteren Himmelsphäre. Es hat zu regnen begonnen, und wir gehen noch einige Kilometer gemeinsam weiter, eine Plastikplane über den Kopf gezogen, während die Regentropfen jetzt auf dem Plastik leise zischen. Von Zeit zu Zeit stossen wir auf Holzkreuze, kleine Steinhaufen, leere Wasserflaschen, vergessene Wegmarken, hoffnungslose Botschaften von illegalen Wanderern in der Unendlichkeit. „De puta madre”, wiederholt Manuel, vielleicht würde er es vor der Dunkelheit tatsächlich sogar bis El Paso schaffen!

Nein, das wird er niemals schaffen. Aber ich sage nichts. Sonst reden wir nicht mehr viel. Ich betrachte ihn und begreife, dass dieser Mensch für mich fremd ist wie ein ausserirdisches Wesen. Ein Geschöpf von einem Planeten, den es nicht mehr gibt und dessen Schilderungen und privateste Offenbarungen für mich eigentlich suspekt sein müssten. Aber alles ist jetzt so echt und deutlich und erscheint mir wahrhaftig. Wieso sollte ich ihm nicht glauben? Wäre ich mutiger gewesen, hätte ich ihm in jenem Augenblick vielleicht sogar vorgeschlagen, dass wir unsere Identität austauschen.

Jetzt schaut er mich ein letztes Mal an. Nein, ich kann Manuel nicht weiterhelfen. Er fordert auch keine Hilfe. Er betrachtet jetzt das sich leicht bewegende Präriegras und einen dunklen, verkrümmten Baum. Auf der Rinde sind Glaubenssätze in Spanisch eingeritzt, ein Drache, runenhafte Slogans, ein Totenkopf. Manuel fürchtet nichts mehr. Kurz vor unserem Abschied erzählt er irgendwas von einem „Camino mistico” und dass ihm diese Reise die Augen geöffnet habe.

Seit er vor fünf Wochen sein Dorf in Guatemala verlassen hat und von Kojoten für mehr als 6000 Dollar Prämie über den Grenzzaun ins Niemandsland geführt wurde, sei sein Sinn für das Bedrohliche abgestumpft. Er habe damals fast eine halbe Nacht neben dem Zaun gelegen, sich vor der Border Patrol versteckt und gebetet. Er habe die Sterne angeschaut und ganz tief ins Universum geblickt. Er empfindet seither den möglichen Tod auf amerikanischer Seite als nichts Weiteres als „zwei leere Augenhöhlen”. Er kann durch sie hindurchsehen - wie durch Sehnsuchts-Fenster in ein gelobtes Land, das ihm eine bessere Zukunft für seine ganze Familie verspricht.

Sein Körper ist die Reise. Das bilde ich mir jedenfalls ein, während Manuel langsam am Horizont von der Unendlichkeit aufgeschluckt wird. Es ist die Reise seines Lebens. Im Nordosten warten Engel im Sturzflug. Noch herrscht Ruhe über El Paso.