Cibelle

von 
Interview
zuerst erschienen im Juni/Juli/August 2003 in Alert Nr. 11, S. 70-79
„Was kann dieses dumme Huhn schon unserer Herrenmusik verstehen?“

Selten klang das Debüt einer brasilianischen Sängerin so verspielt und zur gleichen Zeit doch so abgeklärt. Vielleicht liegt es daran, dass die 25jährige Cibelle Cavalli aus São Paolo schon seit Jahren mit ätherischer Leichtigkeit durch eine harte Welt wandert. Dabei ist die Bossa-Nova-Sängerin keine Unbekannte: Schon auf Subas Club-Klassiker São Paolo Confessions“ von 1999, einer der entscheidenden Platten, die seinerzeit der digitalen Revolution in Brasilien etwas Würde verliehen, sang Cibelle Cavalli, die Ella Fitzgerald, Björk und Billie Holiday als ihre Vorbilder nennt. Nach dem tragischen Tod ihres besten Freundes und Mentors Suba im November 1999, begann Cibelle ihre Karriere auf eigene Faust voranzutreiben und nahm im vergangenen Jahr ein Album gemeinsam mit Musikern auf, mit denen sie die Jahre zuvor eine wöchentliche Jam Session in São Paolo bestritten hatte. Im Oktober siedelte Cibelle erst nach Paris und kurze Zeit später nach London über. Ihr Besuch in der Alert-Redaktion anlässlich der Veröffentlichung ihres Albums entwickelte sich spontan zu einem ausgedehnten, mehrstündigen Treffen: Die Fotos entstanden bei einem Spaziergang durch brachliegende Industrieanlagen, das Interview fand später am Abend in einem nahegelegenen vegetarischen Restaurant in Berlin-Kreuzberg statt.

Cibelle, Sie sind zwar erst vor kurzem von São Paolo ins weit entfernte London gezogen, um von dort aus Ihr Debüt-AlbumCibelle“ mit brasilianischer Bossa-, Samba- und Popmusik zu promoten - aber hier in diesem Heft sind Sie nicht alleine: Auch Ihren Landsmann Fernando Meirelles haben wir interviewt …

„City Of God“ ist ein phantastischer Film. Es ist so gut, dass er mit den echten Jungs aus den Favelas gedreht hat - und nicht mit professionellen Schauspielern. Einfach, weil sie all das, was in dem Film erzählt wird, mit ihren eigenen Augen gesehen haben. Ich habe in London erlebt, wie ein Journalist Fernando vorgeworfen hatte, er hätte bloß einen Abklatsch von Martin Scorseses „Goodfellas“ gedreht. Da werde ich richtig wütend, denn was „City Of God“ zeigt, [72] das ist die bittere, harte brasilianische Realität. Die Dinge passieren in den Favelas so, wie Fernando sie zeigt. Erst vor kurzem wurde in São Paolo ein bekannter brasilianischer Rapper namens Sabotage erschossen. Aus einem fahrenden Auto. Er hatte gerade noch seine Frau wegschubsen können, sonst wäre sie auch erwischt worden. Das Fernsehen und das Kino sind die einzigen Medien, die die Jugendlichen in den Favelas noch erreichen. Und jeder Film, der die Realität behandelt, ist ein guter Film, weil er die Auseinandersetzung mit der Gewalt fördert. Die größte Aufklärungsarbeit aber leisten meine lieben Freunde bei MTV Brasilien, die die redaktionelle Freiheit, die sie haben, gezielt nutzen, um die Kinder und Jugendlichen in den Favelas zu erreichen und ihnen Mut zu machen. Mein Freund Nilton hat für MTV gerade zwei Dokumentationen gedreht: Eine über Kinderpornografie und eine über Kinderarbeit. Aber ansonsten zeigt MTV in Brasilien die gleichen Videos und die gleiche Werbung wie überall. Es sind die Zwischenräume, die die Redaktion nutzt, um Gutes zu tun. Wussten Sie, dass ich mit Meirelles schon zusammen gedreht habe, Werbung?

Wofür haben Sie geworben, als Sie mit Meirelles drehten?

Für Margarine. (grins)

Meirelles hat über seine Vergangenheit als Werbefilmer gesagt, dass es ihm sehr geholfen habe, seine Geschichten in der Werbung effizient und auf den Punkt hin erzählen zu müssen.

Was mir diese Werbefilme gebracht haben, ist ein Gefühl von Organisiertheit: Alles ist auf diesen Drehs straff organisiert. Man lernt, dass man in kürzesten Einstellungen etwas für andere darstellen kann. Ich habe viel über Timing und Pünktlichkeit gelernt. Denn in Brasilien ist man notorisch unpünktlich.

Umso schöner, dass heute Ihr Debüt-Album endlich erscheint. Es klingt so ganz anders, als man es von einer jungen Frau, die in Brasilien ein Album mit Bossa- und Samba-Songs aufnimmt, vielleicht erwarten würde: Es klingt avantgardistisch, es klingt modern und selbstbewusst. Gar nicht traditionell oder retrospektiv …

Das Album hat einen Sound, der schon lange in meinem Kopf umherspukt. Mir ging es formal um Kontraste. Und um Schichtungen von Klängen. Es geht mir um Klanglandschaften und Auslassungen - und das alles in einem Popkorsett. Eine Band wie Coloma, die hat genau das, wovon ich rede, ich liebe Coloma. Es geht um Kontraste, etwa den Kontrast von akustischen zu elektronischen Klängen. Von echter Steel Guitar zu digitalen Hallräumen. Ich liebe diese Kontraste. Coloma arbeiten viel minimalistischer als ich, aber ihre Herangehensweise ist meiner sehr ähnlich. Ich bilde mir ein, dass Coloma sehr humorvolle Menschen sind. Ich höre das aus ihrer Musik heraus. Sie sind nicht zu ernsthaft. Es ist sehr gefährlich, wenn Musiker zu ernsthaft an die Musik gehen. Es wird sehr schnell langweilig, wenn die Ratio die Seele verdrängt. Ich meine Humor zu erkennen, wenn der Sänger, Rob Taylor, auf so eine süßliche Art singt, manchmal fast wie ein Schnulzensänger.

Sie würden Señor Coconut lieben, den wir auch in diesem Heft …

… ich liebe Señor Coconut! Alleine schon, wie sein Album „El Baile Aléman“ beginnt, in diesem gebrochenen, falschen Englisch: „I - äh - do not speak englis - äh - very well …“ - einfach großartig! Ich liebe das! Also: Meine Musik besteht aus Kontrasten, aus Schichtungen und aus
Ironie. Das erwarte ich auch von anderen Musikern. Solche Musiker findet man in Brasilien aber nicht so ohne weiteres.

Ihr Album klingt, nach Minuten der Stille, mit einer getürkten Jazzclub-Liveaufnahme aus … Sie singen in einer Art Selbstparodie wie Billie Holiday, und die Aufnahme klingt wie eine alte Schellackplatte.

Das ist meine Lieblingsnummer auf dem Album. Es ist sehr spackig, deshalb mag ich das. Solche Scherze können aber nur entstehen, wenn man gewissermaßen ernsthaft bei der Sache ist. Wir haben das Album in Brasilien aufgenommen, gemeinsam mit all meinen besten Freunden, die, dafür danke ich Gott, allesamt exzellente Musiker sind. Mit humorlosen Session-Musikern wäre so etwas nie gegangen! Seitdem wir das Album aufgenommen haben, pendele ich zwischen London und São Paolo hin und her. Das ist eigentlich ganz gut, aber auf der anderen Seite bedeutet es auch, dass ich immer irgendwo Gast bin. Ich habe keine Wohnung, weder in London, noch in São Paolo, wo ich bei meiner Mutter wohne.

Schon vor vier Jahren hat man Sie singen hören können, auf SubasSão Paolo Confessions“, die damals die brasilianische Musik auch in die Clubs brachte: Sie haben einen Großteil der Tracks eingesungen. In den Liner Notes findet sich der bemerkenswerte Ausspruch Subas, in welchem er São Paolo als „Blade Runner in den Tropen“ bezeichnet.

Wenn Sie mit dem Flugzeug in São Paolo ankommen, dann landen Sie mitten in der Stadt. Und stellen Sie sich vor, Sie landen in der Nacht oder am Abend - Sie sehen ein Meer von einer Stadt unter Ihnen, alles voller Lichter. Bis zum Horizont Wolkenkratzer. Es sieht genauso aus wie in „The Blade Runner“. (lach). Es gibt sogar ein Stadtviertel, das aussieht wie Gotham City, das liegt ganz in der Nähe meiner ehemaligen Wohnung. Und wenn es erst einmal regnet, dann ist das Bild superstimmig - nur eben, dass es in São Paolo immer warm ist.

Wie hat sich Ihr Leben geändert seit Sie aus São Paolo weggegangen sind?

Ich bin in São Paolo geboren und habe dort mein ganzes Leben verbracht. Und seit ich im Oktober nach London gezogen bin, fühle ich mich wie ein Küken, das sein Ei aufpickt - das ist so eine englische Redewendung: „To crack an egg.“ In São Paolo habe ich in einer netten Gegend gewohnt. In meiner Straße gab es eine Nervenheilanstalt, Studentencafés, zwei Kunst-Universitäten - alles ist dort angenehm unprätentiös. Das Viertel erinnert mich ein wenig an die Gegend um Brick Lane in London. Die Leute kommen aus ganz Brasilien, um an diesen Kunst- und Designakademien zu studieren. Und Brasilien ist groß. Das sind Entfernungen, als ob Sie von Madrid zum Studieren mal eben nach Berlin ziehen - [74] das ist ganz normal. Also, es gibt Tage, da begegnen Sie diesen bunten Studenten mit ihren selbstgedruckten Siebdruck-T-Shirts und ein paar Irren aus der Anstalt. Es ist wirklich toll. Meine Wohnung lag in so einer Art Innenhofwabe, mit einem Stahltor zur Straße. An Sonntagen war es laut, denn in direkter Nachbarschaft zu meiner Wohnung lagen eine katholische Kirche, eine evangelische Kirche und der Versammlungsraum einer religiösen Sekte. Ich hörte also Messen, Gospels und Gebete am Sonntag.

Sind Sie durch Ihr Elternhaus zur Musik gekommen?

Die Familie meines Vaters stammt aus Nordostbrasilien. Mein Großvater, war ein Malandrinho, ein Gangster, er lebte in einer kleinen Stadt im Landesinneren, wo man seine Geschicke noch selbst in die Hand nahm. Wenn es etwas zu entscheiden galt, ging man wohl zu meinem Großvater, er war so etwas wie der Pate des Dorfes. Nun denn, alle mussten Hals über Kopf fliehen, als die Regierung sich in der Gegend anschickte, etwas gegen diese Strukturen zu unternehmen. Die ganze Familie in einem Bus, ab nach São Paolo. Dort siedelte sie sich in einem ärmeren Viertel an. Was unsere Familie wohl von den anderen unterschied, war, dass sie gebildet war. Mein Vater, der in einem Büro für eine Bekleidungsfirma arbeitete, stieg in der Firma recht schnell auf, weil er gebildet war und ehrgeizig. Er lieferte die Showgarderobe für Musiksendungen wie Fino da Bossa, die damals im brasilianischen Fernsehen liefen. Meine Mutter war richtig eifersüchtig auf Elis Regina, die Jazz-Diva der sechziger Jahre aus Brasilien, denn Elis war die Gastgeberin der Show. Meine Mutter wusste gar nicht, ob mein Vater wusste, wer Elis Regina war. Sie hatte nur diese furchtbare Angst, dass diese unglaublich attraktive Frau meinem Vater den Kopf verdrehen könnte. Man muss dazu wissen, dass es im Nordosten von Brasilien so üblich ist, dass man zwar verheiratet ist, aber dennoch mit anderen Frauen ausgeht. Täte man es nicht, würden die Leute denken, man wäre schwul. Als mein Vater starb, da lebten wir bereits in einer besseren Nachbarschaft, nichts besonderes, aber auf
alle Fälle keine arme Gegend. Er hinterließ der Familie eine große Lebensversicherung. Und für meine Mutter und mich reichte das Geld, um alles zu bezahlen, auch die ganzen Schauspiel- und Musikkurse. Aber das ging natürlich nicht für ewig.

Sie begannen in Nachtclubs zu singen.

Einmal nahm mich meine australische Freundin Dana mit in das Viertel von São Paolo, wo sie Livemusik spielen. Sie erzählte mir nicht, was sie vorhatte. Es war ein schöner Sonntagabend. Wir sitzen da also rum und hören uns die Musik an, und Dana geht auf die Bühne, und ich denke, aha, jetzt wird Dana gleich etwas singen, aber sie zeigt auf mich und kündigt meinen Auftritt an. Ich war siebzehn, ich kannte nur Bossa Nova und Jazz und Technotronic und Pump Up The Bass und Personal Jesus von Depeche Mode. (lach). Aber ich gab mir einen Ruck und ging zum ersten Mal in meinem Leben auf eine Bühne, und der Typ von der Band fragte mich, was ich denn so singen wollen würde, und ich sagte: „Vielleicht ein Stück von Anton Jobim?“ Und ich erinnere mich noch genau, wie er mich anstarrte, als ob ich von einem fernen Stern auf seine Bühne gebeamt worden wäre. Damals, ‚95, gab es noch kein Bossa-Fieber, das war noch ein paar Jahre zu früh. Das war in der Mister Grill Bar.

Ah, da konnten Sie dann gleich auch noch Steaks essen, wenn Sie wollten.

Ja, da gab es Steaks, aber ich hatte mich damals gerade entschieden, mich von nun an vegetarisch zu ernähren, weil meine Freundin Dana Vegetarierin war. Ich habe ihr einmal einen Rindertee spendiert, und sie wusste nicht, was das war. Sie trank davon und musste sich gleich übergeben. Ihr Körper war es einfach nicht mehr gewohnt. Das hatte mich nachdenklich gemacht. Heute weiß ich, dass ich ihr hätte mitteilen müssen, dass Rindertee aus Eiern, Blut und Gewürzen besteht … Ich begann mir auch über die Tiere Gedanken zu machen und wurde dann recht bald selbst Vegetarierin. Und so, wie ich Dana zufällig getroffen hatte, so traf ich auch alle anderen Leute, die mein Leben verändern sollten, relativ schnell und zufällig. Das lag daran, dass sich auf der Fradique
Cortinho, der Straße, in der die ganzen Live-Musik-Bars sind, eine neben der anderen, die Leute zufällig über den Weg laufen. Das ist so.

Trafen Sie auch Suba so unverhofft?

Ich traf Suba in einer Bar namens Glitter, in der jede Woche Jam Sessions stattfanden. Das waren meist Instrumental-Sessions, und diese Sessions zogen eine Menge Besucher an. Manchmal ließen sie mich sogar ein bisschen singen. Aber meistens durfte ich nur Instrumente imitieren, etwa eine Trompete.

Trompete?!

Das kann ich richtig gut. Für die war ich nur ein 19jähriges Mädchen, das außerdem in einer Model-Agentur gelistet war. Die sagten mir mit ihren Blicken: Was kann dieses dumme Huhn schon von unserer Herrenmusik verstehen? Ich denke immer: In einer perfekten Welt würde man zuhören und gute Musik machen und Gutes damit tun. Aber so ist es nicht. Man muss sich durchsetzen, gerade als junge Frau und gerade gegenüber ignoranten Männern. Einmal saß ich hinter der Bühne in einem Raum und rauchte „Beedies“-Zigaretten, die aus Blättern gemacht sind und ständig ausgehen. Ich war an dem Abend total genervt, weil meine Verabredung nicht kam, und dieser große und ganz in Schwarz gekleidete Typ gab mir ständig Feuer, wenn mir die Zigarette wieder mal ausgegangen war. Er redete darüberhinaus die ganze Zeit auf mich ein. Er war sehr nett. Dieser Typ war Suba.

Suba aus Serbien.

Er nannte sich selbst aber witzigerweise „El Gringo Paolista“. Jeder Brasilianer bezeichnet Ausländer grundsätzlich als Gringos. Und Suba hatte halt diesen tollen Humor, dass er sich absurderweise „der Gringo aus São Paolo“ nannte - mit diesem unglaublichen argentinischen Akzent. Das kam daher, weil er Portugiesisch von einem argentinischen Kumpel gelernt hatte. Wir unterhielten uns also über alles mögliche und kaum über Musik. Mir war gar nicht bewusst, dass er es war, der diese CD aufgenommen hatte, [77] die „Suba’s Impossible Works“ hieß und in São Paolo gerade die Runde machte. Es war stadtbekannt, dass Suba eine Sängerin suchte, um diesen unglaublichen Songs, die er produziert hatte, eine Stimme zu geben, und er bekam aus ganz São Paolo Tapes. Auf alle Fälle tauchte mein Freund auf, Suba verschwand in der Menge, das Konzert ging düber in eine Jam Session und die Musik veränderte sich schlagartig. Elektronische Sounds tauchten auf. Der Samba veränderte sich, die Musik begann stillzustehen für Momente, eine ganz andere Klangarchitektur hörte ich da heraus, mich durchzuckte es, ich dachte nur: Yeah! Auf diesen Sound habe ich mein Leben lang gewartet! Das ist neue Musik! Ich habe jemanden gefunden, der genauso denkt wie ich! Den musste ich kennenlernen. Ich ging also hoch zur Bühne um zu gucken, wer diese Sounds machte, und es war der Typ, der mir die ganze Zeit die Zigaretten angezündet hatte. Ich fasste mir ein Herz, besser gesagt, mein Freund Theo fasste sich ein Herz, schob mich regelrecht auf die Bühne, ich mit
dem Arsch zum Publikum, Suba lachte und drückte mir ein Mikrofon in die Hand. Ja, so begann das mit der Karriere. Nach meinem Gastspiel nahm mich Suba beim Arm und sagte zu mir: „Hör mal, ich flirte nicht mit dir, ich suche eine Sängerin, mit der ich arbeiten kann. Kannst du morgen zu mir ins Studio kommen?“

Und aus „Suba’s Impossible Works“ …

… die ja nur so hieß, weil er jahrelang kein Label und keinen Vertrieb für seine Musik gefunden hatte, wurde „São Paolo Confessions“. Ich liebe diese Platte noch heute, auch die Instrumental-Stücke, auf denen ich nicht singe. Ich liebe den Song „A Noite Sem Fim (The Endless Night)“, einen Track, in dem Suba beständig den Rhythmus verändert, raffiniert, ganz toll. Er verändert die Reihenfolge der Akkorde, er verändert das Stück wie eine Fuge, in der die einzelnen Teile beständig ineinandergreifen. Und ich weiß noch, dass er das Stück in einem Take aufgenommen hatte, es war eine Session. Oder „Na Neblina (In The Fog)“: Ab einem bestimmten Moment klingt der Song so, als ob die Stereoanlage kaputtgegangen wäre. Es ist so mutig, wie er das alles angepackt hatte. Und er findet immer wieder zurück - zur Einfachheit, zum ursprünglichen Rhythmus, zur eigentlichen Melodie. Ich habe mehr als ein Jahr damit verbracht, neben ihm zu sitzen und ihm immer wieder zuzusehen, wie er diese Sachen programmierte. Und er ließ mich partizipieren. Er ließ mich spielen. Unser Plan war, dass er mir nach der Tour, die wir durch Brasilien geplant hatten, beibringen würde, wie man all diese Computerprogramme bedient. Denn er meinte, dass ich die Ohren dafür hätte. Er hat mir eine Menge beigebracht, und er konnte vor allem auch sehr barsch sein, wenn ich mich nicht zusammenriss. Interessant war auch, dass er so lange an den Dingen saß, bis sie gut wurden. Ich habe es eigentlich nie erlebt, dass nicht etwas besonderes bei seinen Sessions rausgekommen wäre. Er lehrte mich ja auch, dass alles, was man musikalisch so macht, vor einem selbst wahr sein muss.

Wenn man dann stirbt, weiß man zumindest, dass man sich nichts vorzuwerfen hat.

Ich habe kurz vor Subas Tod unglaublich viele TV-Werbespots gedreht. Wir wollten damals ja zusammen auf Tournee gehen, und damit wäre das Kapitel Werbung für mich ohnehin abgeschlossen gewesen, und ich selektierte nicht mehr großartig, welche TV-Spots ich nun machte - und welche nicht. Ich habe in diesem Sinne mein Gesicht verbraucht, wie wir im Film sagen: Dadurch, dass ich so oft in irgendwelchen Werbefilmen aufgetaucht war, war klar, dass mich nun niemand mehr buchen würde. Aber das war egal, denn es ging ja jetzt los mit der Musikkarriere, von der ich immer geträumt hatte. Und dann starb Suba.

Er erstickte in seinem Studio in seiner Wohnung, die ausbrannte.

Die Tournee wurde abgesagt, ich hatte mein Gesicht verbraucht, ich hatte meinen besten Freund verloren. Ich war am Boden zerstört. Und selbst wenn sich einer meiner erbarmte und mich zu einem Casting einlud, war ich ein Schatten meiner selbst, denn es ging mir einfach richtig schlecht. Ich war so verzweifelt auf der Suche nach etwas, das ich tun könnte, weil mir zu Hause die Decke auf den Kopf fiel. Das war vor dreieinhalb Jahren. Sie hatten noch nicht den Plan gefasst nach London zu ziehen. Ich bekam einen Anruf von einer Freundin, ob ich nicht beim Catering auf einem Filmset aushelfen könnte. Natürlich sagte
ich zu, das war genau das Richtige für mich. Ich sollte Popcorn rösten, und nebenbei konnten wir miteinander reden. Und sie merkte, wie es mir besser ging. Also rief sie mich einen Tag später wieder an, sie hätte einen neuen Catering-Job. Ich war sofort dabei. Ich erinnere mich noch, wie ich auf dem Set ankam, und der Regisseur sah und erkannte mich und fragte mich auf der Stelle: „Aber Cibelle, was machst du denn hier? Uns ist eine Darstellerin ausgefallen, könntest du nicht vielleicht einspringen?“ Und ich sagte ihm: „Tut mir leid, ich muss das Essen zubereiten.“ (lach). Dieser Catering-Job hat mich irgendwo gerettet, muss ich sagen. Ich organisierte alles: Die Küche, das Buffet, die Dekoration, das Geschirr, das Timing - als ob es sich um eine Operation in einem Krankenhaus handelte, bei der auf die Sekunde genau und penibel sorgsam gearbeitet werden muss.

Klarer Fall von Ablenkung.

Ich habe von meiner Catering Area aus gehört, wie die Leute gerufen haben: „Fangt den verdammten Schmetterling ein, der fliegt uns noch gegen die Scheinwerfer!“ Und ich stand an meinem Catering-Tisch und kommandierte meinerseits: „Achtet auf die Süßstoffe, die Schauspielerin isst keinen Zucker!“ Ich habe zehn Jahre meines Lebens auf Sets verbracht. Ich weiß, wie es sein muss. Ich habe mich als Rädchen im Getriebe so unglaublich wohl gefühlt, ich konnte meine Geschichte verarbeiten. Ich habe mich regelrecht in diese Catering-Sache reingesteigert. Kurze Zeit später habe ich vier Jobs am Stück angenommen, wovon der vierte Job über fünf Tage ging. Ich machte Buffet und Abendessen für eine dreißigköpfige Crew und morgens Frühstück. Und [79] ich schaffte das. Ich war so stolz auf mich, wie noch nie zuvor in meinem Leben. Nach dem Frühstück wurde ich gefragt, ob ich nicht festangestellt für das Team als Caterer arbeiten wollte, weil sonst immer alle so unzuverlässig wären. Und da musste ich dann sagen: „Nein danke, ich helfe nur aus. Ich habe nur lernen wollen, wie das geht.“ Nach dieser Geschichte war ich ziemlich durch, aber auch glücklich, denn ich konnte wieder klar sehen.

Wie war das für Sie, sich nach Subas tragischem Tod aufzuraffen und ohne ihn weiterzuarbeiten?

Es war weniger ein großer, schwerer Schritt, als viele kleine. Duncan Lindsay, Arto Lindsays Bruder, half mir dabei sehr. Als wir beide auf Subas Beerdigung waren, sprach er mich an und sagte zu mir: „Du wirst es nicht wagen auch nur daran zu denken mit dem Singen aufzuhören, du würdest ihn sonst enttäuschen!“ Er war es, der mich bei der Hand nahm und durch diese schwere Zeit führte. Er erinnerte mich immer und immer wieder daran, dass Suba an mich geglaubt hatte. Es gibt noch eine weitere Person, die mir sehr geholfen hat, Pepe Cisneiros, der Klavierspieler, zufälligerweise mein Nachbar. Wir liefen eines Tages ineinander, und er wusste von den Ereignissen und sagte mir, dass ich jederzeit auf ihn zählen könnte. Wenn ich eine Begleitung bräuchte, wenn ich zu Hause singen, wenn ich reden wollte. Er war noch nicht einmal ein Freund damals, nur ein Bekannter. Er kam dann tatsächlich zwei, drei Mal die Woche und setzte sich bei mir ans Klavier und brachte mich zum Singen. Das war gut für mich.

Warum war es für Sie so schwer, wieder Schritt zu fassen. Man könnte ja auch sagen: Ich weiß, wie gut ich bin, ich brauche keine Hilfe.

Ja, das könnte man sagen, aber ich hatte meinen besten Freund verloren und meinen Schutzengel. Aber irgendwo haben Sie Recht: Dadurch, dass ich mich mit der Realität auseinanderzusetzen hatte, wurde mir auch klar, dass wir hier nicht im Lalalula-Land leben, in dem Honig fließt und die Liebe regiert. Sein Tod zwang mich auch zu lernen, dass der Glaube an das Gute im Menschen zwar eine gute Sache ist, die man auch nach den schlimmsten Schicksalsschlägen nicht verlieren darf, aber man muss auch erkennen, dass nicht jeder Mensch so weit ist, dieses Gute auch schon in sich entdeckt zu haben. Duncan sagte mir nicht nur, dass ich verdammt noch mal nicht mit dem Singen aufhören dürfte, er verschaffte mir auch einen Job als Sängerin in der Grazie a Dio Bar. Ich bekam den besten Abend, den Freitagabend. Er sagte mir: „Hier hast du die Prime Time. Nun mach‘ was draus.“

Was machten Sie, um den Freitagabend mit Leben zu erfüllen?

Ich begann eine Jam Session ins Leben zu rufen, jeden Freitagabend, mit dem Namen „Brazuca e cool jais“. Ich wollte keine Free-Jazz-Session, und ich wollte keine Bossa Night. Ich hatte fünf Musiker, die ich mochte und die Zeit hatten. Die Idee war: Immer drei von denen und ich als Sängerin würden Freitag für Freitag diesen Abend bestreiten. Wir hatten keine Set Lists. Wir wussten vorher nicht, was der Abend bringen würde. Ich sagte Songs an, die wir kannten, aber die Abmachung unter uns Musikern war, dass wir diese Songs nicht auf konventionelle Art und Weise spielen durften. Jazz ist für mich immer ein Song, eine Komposition, die man innig umarmt. Und jeder der beteiligten Musiker steuert seine Interpretation dieses Songs als Spiegelung seines Inneren bei. Das bedeutet natürlich, dass ein Song niemals ein zweites Mal auf die gleiche Weise gespielt werden wird, weil die Musiker ein anderes Seelenleben haben. Aber so funktioniert Musik. Wir wollten eben keine käsige Bossa Nova aus den Achtzigern nachspielen, und wir wollten ebensowenig Fusion-Jazz-Sessions, in der die Musiker sich ständig zu überbieten versuchen, 170 Noten pro Minute, und immer so einen Gesichtsausdruck haben, als würden sie gerade onanieren. Nein, was wir wollten, das war Musik, die vom Herz gefühlt wurde. Und unsere Aufgabe war es, Wege zu finden, wie wir an unser Herz herankommen konnten.

Sie haben also durchaus Songs gespielt, die jeder kannte?

Ja, wir haben zum Beispiel Jobims Girl From Ipanema gespielt - aber rückwärts. (lach). Verstehen Sie? Ehrlich gesagt musste ich gar nicht viel zu den Jungs sagen. Sie hatten es begriffen. Es ging um eine Stimmung, mit der man als guter Musiker zu spielen imstande ist. Wir warfen uns in die Musik, und wenn ein Freund mit einem Instrument vorbeikam, baten wir ihn auf die Bühne. Die Geschichte entwickelte sich. Ich fasste mir ein Herz und begann meine eigenen Gedichte zur Musik vorzulesen, rhythmisch. Und irgendwie begann ich dann, meine Gedichte mit einer Melodie zu versehen.

Heute sind Sie eine respektierte Musikerin in Brasilien.

Interessanterweise komme ich mit den großen Musikern sehr gut aus, den wirklich guten Musikern, die nichts und niemandem mehr etwas beweisen müssen. Die kommen aber auch gar nicht auf die Idee, ihr technisches Können heraushängen zu lassen. Die sind eher an so einer Art von Minimalismus interessiert. Das hat auch etwas mit Respekt zu tun: Kleine Menschen haben keinen Respekt. Die stoßen einen in ihrer Engstirnigkeit schlichtweg vor den Kopf und merken es noch nicht einmal. Die großen Musiker hingegen - und oftmals auch die berühmten -, sie bauen einen sogar auf, wenn man schüchtern ist, sie ermutigen einen, geben einem etwas ab von ihrem Glanz. Das ist sicherlich zum Teil auch ein typisch brasilianisches Problem, denn es gibt bei uns diese Macho-Kultur, die es einem kleinen Mann nicht erlaubt, anständig mit einer Frau umzugehen. Diese Macho-Idioten haben mich früher nur dann gelobt, so ganz nach dem Motto: „Baby, heute singst du aber gar nicht mal so schlecht“, wenn sie mich damit in ihre Nähe locken konnten, um mir an den Arsch zu fassen. Freundlich oder gar aufbauend war das nicht. Ich hatte damals aber noch nicht die Eier, wie man so schön sagt, denen Kontra zu geben.