Computer sind dumm

Essay
zuerst erschienen am 30. November 1984 in Die Zeit Nr. 49, S. 78.
Der Mythos von der künstlichen Intelligenz

„Ach wissen Sie“, sagt Herr Ossendorf, Spezialist für „optische Mustererkennung“, mit einer Art gefaßter Verzweiflung, „das mit der künstlichen Intelligenz ist ja so eine Sache. Wir wissen eigentlich immer weniger, wie menschliche Intelligenz funktioniert. Der Mensch aber ist ein phantastischer Rechner. Er schiebt mit unglaublicher Geschwindigkeit zu Assoziationen zusammengesetzte Einheiten hin und her. Er nimmt in Prototypen, mit Masken wahr, die nicht zu simulieren sind. Und obwohl wir hier im. Institut so etwas wie ‚logische Komplexe‘ entwickeln wollen, bin ich sehr skeptisch, was die ‚intelligenten’ Möglichkeiten der Rechner betrifft. Sehr skeptisch.“

Die Eloge auf den guten alten Bioroboter Marke „Mensch“ findet am geeigneten Ort statt: Im dritten Stock des neuen Hauptquartiers von Doktor Mabuse. Mabuse tarnt sich inzwischen mit netten Sekretärinnen und hat sich einen Stab von hundert Wissenschaftlern zugelegt, dazu modernste Technik: In jedem Raum dieses modernen Verwaltungsgebäudes steht mindestens ein Computer der allerneuesten Generation.

Doktor Mabuse? Nein, es handelt sich lediglich um das Fraunhofer-Institut in Karlsruhe. Die Pläne jedoch, die hier geschmiedet, getestet und entwickelt werden, muten nicht weniger teuflisch an: Man will Computern das Hören, Sehen und Fühlen, am Ende sogar das Denken beibringen. „Künstliche Intelligenz“, auf englisch artifical intelligence, ist der am meisten geheimnisumwitterte Sektor der Computerwelt. Hier konzentriert sich eine uralte, in jüngster Zeit wieder die öffentliche Meinung bewegende Horrorhoffnung: Daß man den „homunculus“ schaffen könne – stünden nur die geeigneten Technologien zur Verfügung.

Können Computer denken? Die öffentliche Meinung zu diesem Thema scheint gefällt: Ja. Wenn nicht heute, dann früher oder später. Dieser Antwort ist ein großer Anteil an den diffusen Ängsten geschuldet, die in Sachen Computer im „Bauch der Kultur“ umgehen. Der Mensch, so scheint es, wird sich nur noch eine Zeitlang aus seinen Werkzeugen hervorheben. Und irgendwann wird er ihnen zum Opfer fallen. Rationalisierung, Arbeitslosigkeit, Datenschutzprobleme – all dies sind bereits (oder nur) Vorläufer der unvermeidlichen „großen Verselbständigung“ der neuen Technik.

Und die „Frontforscher“ der Computerindustrie selbst? Die Kapazitäten, die es eigentlich wissen müßten, an was sie da arbeiten, wo die Grenzen und Möglichkeiten liegen? Sie scheinen eher – bis auf wenige Ausnahmen (bei denen es sich zumeist um medienorientierte Scharlatane handelt) – von einer Woge des Technik-Skeptizismus erfaßt. „Wenn man Intelligenz will“, sagt nur ein Techniker der Abteilung „Tastsinn“ (der Mann arbeitet, wie im Bilderbuch, an rohen Eiern jonglierenden Robots) auf dem Flur des Fraunhofer-Instituts, „sollte man in die Gentechnik gehen und Hirne züchten. Nein – das würde nicht ausreichen.Man müßte schon den ganzen, organischen Menschen zusammenbasteln, um so etwas wie „Intelligenz“ zu erzielen. Denn binäre Logik, die Grundlage jeglicher Computertechnik, ist einfach dämlich. Und das wird auf ewig so bleiben.“

Soll man solche selbstkritischen Sätze in das Reich des Understatements verweisen? Sie als Beruhigung der Öffentlichkeit auffassen, als Public-Relation-Schlafpille? Sie mühen sich ja redlich, die Techniker des Fraunhofer-Instituts für künstliche Intelligenz. Da gibt es Überwachungsrechner für Fertigungsstraßen, die einen Menschen von einem Produktionsroboter unterscheiden können (und entsprechend Alarm schlagen). Da gibt es Versuche, Gefechtsfelder automatisch „auf den Feind“ abzutasten. Und es gibt den sprechenden Computer, dem man mit der eigenen Stimme Befehle geben kann, als war’s ein Sklave von einst.

Die Geschwindigkeit macht’s

„Am Beispiel Spracherkennung wird der Bluff deutlich“, sagt Herr Ossendorf. „Jeder, der so mit einer Maschine interagiert, vermutet natürlich etwas Intelligentes – „Sprache“ ist zu „Intelligenz“ fast synonym. Dabei sind es nur gespeicherte Sprachmuster, auf die das Programm reagiert – nichts anderes als ein Tastendruck, nur eben über akustische Schwingungen vermittelt.“

Jeder, der sich eine Weile mit Computern auseinandersetzte oder gar alltäglichen Umgang mit ihnen pflegt, lernt die Lektion schnell: Computer sind dumm. Selbst das ausgefeilteste Programm besteht aus nichts anderem als einer Verkettung einfachster und allereinfachster Rechenoperationen, wie sie jeder Taschenrechner bewerkstelligen kann. Erst durch Geschwindigkeit und „Verschachtelung“ setzt sich daraus ein „operatives Ganzes“ zusammen – die Bausteine sind und bleiben simpel, egal, in welcher Computersprache sie formuliert sind. Erfahrene Computerspezialisten berichten zudem vom „Entropie-Prinzip“: Je komplexer ein Programm oder ein Computer werden, um so mehr häufen sich die Fehlerquellen. Je mehr Ordnungsstruktur notwendig ist, um so mehr steigen die Unwägbarkeiten – Tatsachen, die mit steigender Rechengeschwindigkeit und selbst der übernächsten Computergeneration nicht bewältigt werden, sondern ansteigen – nicht linear, sondern im Quadrat.

Es scheint also andersherum zu funktionieren: Nicht die Computer drohen sich über den Menschen zu erheben, ihn zu kopieren, sondern irgendetwas in uns verlangt geradezu nach dem Mythos einer zweiten, künstlichen Intelligenz. Der Glaube an die Übermacht und Überlegenheit der Computer scheint ein Projektionsakt zu sein – seine Ursprünge liegen weit mehr in unserer Psyche als in der Technik selbst.

Zunächst eignen sich Computer hervorragend als „Verantwortungsschlucker. Sie sind eben „schuld“: An den „Problemen der Neuzeit“ wie Arbeitslosigkeit und Rationalisierung ebenso wie am (besonders von denen, die mehr als genug besitzen, beklagten) „Materialismus“, der unsere Kultur zugrunde richtet. Sie sind eine Art Surrogat funktionaler, „kalter“ Logik, reinster Rationalität – und damit ein Ausbund des Bösen, weil Unmenschlichen.

Merkwürdig aber: So sehr wir diese kalte Logik in ihrer „Materialisierung“ – den Computer – furchten und ablehnen: Unser Alltagsleben ist nur allzuoft davon geprägt. Die Gesetze der Ökonomie durchziehen die industrielle Kultur wie ein roter Faden – bis tief hinein in unseren Alltag. Richtet nicht fast jeder von uns sein Leben ganz wesentlich auf materielle Mehrung, auf Besitz, auf „Haben“ aus – um im selben Atemzug die „Materialisierung“ des Lebens lautstark zu beklagen? Und sind die Computer nicht als Werkzeuge der „Maximalisierung“, des uneingeschränkten Funktionierens erst entstanden – sind sie nicht Produkte, ungeliebte Kinder des Wohlstandstraums, die fleißigen Helfer des Funktionierens –  also Ergebnis der Rationalität unserer Kultur, unserer „Kälte“? Man kann es sich wiederum leichtmachen und die Computertechnologie ins Reich der „Technokraten“ verweisen –  aber haben wir nicht jahrzehntelang von dieser „Technokratie“ profitiert, ist unsere Lebensweise mit ihren Butterhalden und Schlaftabletten, ihren vielbeklagten Kommunikationsdefiziten nicht auch Ausdruck der Computerära? Haben wir die Besen, die wir da fürchten, nicht selbst gerufen?

Koalition von Rechten und Linken

Es könnte sein, daß wir den Computer negativ mythologisieren, weil wir uns in ihm wiederkennen, weil auch im Menschen der „Kältestrom purer Rationalität“, maschinelle Logik, vorhanden ist. Die harmlose Maschine wäre dann so etwas wie ein Sündenbock: Wir beladen ihn mit allen negativen Eigenschaften der Rationalität, die wir in uns selbst spüren (und fürchten). Uns selbst definieren wir als das „ganz andere“. Wir scheinen es nötig zu haben.

Dieser Projektionsprozeß bliebe nichts weiter als ein harmloses „Phänomen“, wenn er nicht auf Dauer einen fatalen Nebenfeffekt in sich trüge: Die Stigmatisierung des Instruments Computer, seine Ächtung in weiten Teilen der Bevölkerung, seine (projektive) „Ausgrenzung aus der menschlichen Kultur“ stabilisiert neue Klassen und Schichten von Wissenden und Unwissenden. Das führt dazu, daß die ohne Zweifel vorhandenen Gefahren dieser Technik kaum gebannt, die Verfügungsgewalt tatsächlich in den Händen derer liegenbleibt, die man gemeinhin „Technokraten“ nennt. Der Satz, daß die Computer eine „irreversible“ Technologie vorantreiben, mit der die Gesellschaft umgehen lernen muß –  auf Gedeih und Verderb – ist schon fast eine Binsenweisheit. Nur wie soll dieses „Umgehen“ vonstatten gehen, wenn die mystischen Berührungsängste die Oberhand behalten?

Computer, haben – wie fast alle neuen Technologien – negative und positive Potenzen. Sie sind aber auch in ihrer Grundstruktur extrem neutral. Sie rechnen auf beunruhigende Art und Weise alles, wirklich alles – ob die Ballistikkurven von Atomraketen oder die Blutzuckerwerte eines Kranken. Sie verweisen damit die Verantwortung für das, was mit ihnen verwirklicht wird, wieder in die Gesellschaft zurück: Es liegt eben nicht an „ihnen“, wenn ihre lebenserleichternden Potenzen mißbraucht, ihre „emanzipativen Qualitäten“ mißachtet werden.

Es ist vielleicht gerade diese Neutralität, die die Abneigung schürt. Sie eignet sich – beim genaueren Hinsehen – wenig für einfache Weltbilder, die „das Böse“ ständig irgendwo festmachen und in Symbolen orten müssen. Während die Atomtechnologie noch Weltuntergangs-Mythen erzeugen und stärken konnte, gelingt dies bei den Computern weniger leicht. Um so mehr muß man sie in das Reich des Bösen verbannen.

Erstaunlich auch, welche nahtlosen historischen Allianzen da aufgetaucht sind: Geht es um Computer, sind sich die Radikalen, die Alternativen, die ökologisch Bewegten mit dem konservativen Bürgertum plötzlich einig – beide spinnefeindlichen Gruppen wittern so etwas wie den Untergang des Abendlandes, des Menschlichen.

Dahinter steckt, daß Computer auch eine Technik zur Verfügung stellen, die sich zur „Informationssozialisierung“ eignet – nicht mehr der humanistisch Gebildete, der seinen Goethe gelesen hat, nicht mehr der Ökofreak, der die „andere Gesellschaft“ ideologisch vermitteln kann, verfügen dann über das Informations- und „Sinn“-Monopol. Der etwas „beschränkte“ Nachbar von nebenan, der technisch versiert ist und weiß, wie und wo man im Computernetz die benötigten Informationen abfragt, verfügt in der Computergesellschaft eben auch über das Privileg Information.

Computer verweisen die Verantwortung zurück in die menschliche Gesellschaft. Das können und wollen wir nicht akzeptieren. Der Mythos der künstlichen Intelligenz soll uns vor dieser „Rückgabe“ schützen, uns unsere geliebte Opferidentität erhalten, die Last der Verantwortung klein halten: Es ist nicht die starre, reformunfähige Struktur der Gesellschaft, sondern die „naturmäßige“ Tragik der technologischen Entwicklung, die uns das Problem Arbeitslosigkeit beschert.

Dabei könnten die „digitalen Kisten“, diese „Materialisierungen der puren Rationalität“ noch viel mehr bewirken, als uns stupide Arbeit abzunehmen. Sie könnten gerade weil sie nicht-menschlich und nicht-intelligent sind (und bleiben werden), uns ein wenig Hilfestellung leisten. Indem der Computer die „ökonomische“ Seite unseres Hirns „darstellt“, könnte er uns helfen, besser zu unterscheiden und zu differenzieren: Zwischen dem, was uns als Menschen ausmacht und dem, was man besser den Computern überlassen sollte.