Cool Bop

Essay
zuerst erschienen im Juni 1960 in Twen

Bis vor drei oder vier Jahren war der Cool Jazz das letzte Wort in der Jazzmusik. Man hat gesagt, er sei eine Musik der Resignation gewesen; die Musik der Menschen, die wissen, daß die Atombombe gebaut wird, und die trotzdem gut leben wollen. Jetzt gibt es den „Modern Bop“. Und an die Stelle der Resignation ist ein wilder, flammender Protest getreten. „Wenn Jazz ohne ein Moment des Protestes gespielt wird, verliert er seinen Sinn“, hat ein moderner Bop-Musiker gesagt. Der Jazz und die Jazzmusiker protestieren längst nicht mehr nur aus rassischem Ressentiment; sie protestieren gegen alle die Klischees, die tausendmal versagt haben und gleichwohl immer noch als Werte deklariert werden.

Nicht umsonst stammen die jungen Musiker des modernen Bop nicht mehr aus den ländlichen Südstaaten, woher die wesentlichen Jazzmusiker fast aller Jazzstile bisher gekommen sind; heute kommen die jungen Jazzmusiker aus den Zentren der amerikanischen Industrie - der Automobilstadt Detroit und aus den Stahlarbeiterstädten Pittsburgh und Philadelphia.

Noch nie waren die Jazzmusiker so selbstbewußt. Der aus Detroit stammende Donald Byrd - einer der besten Trompeter der jungen Jazzgeneration - sagt, daß das ganze Wesen des Jazz Blues sei, und daß der Blues einfach die Musik der schwarzen Rasse sei. Und er erzählt dann, daß er Wochen damit zugebracht habe, gebildeten weißen Schülern, die bei ihm Unterricht genommen hätten, bestimmte Bluesphrasen beizubringen, aber: „Sie haben es nicht verstanden.“ Und er fügt hinzu: „Mein dreijähriger Junge begriff es sofort.“

Aus Gründen der Selbstachtung und des Selbstbewußtseins distanzieren sich die schwarzen Musiker immer einhelliger von Louis Armstrong und der „Onkel-Tom-Rolle“, die Satchmo sooft gespielt hat, der Rolle des freundlich-gutmütigen, grinsenden Negers, der immer wieder bereit ist, die Wirklichkeit zu vergessen, wenn seine Funktion als „Unterhalter“ beginnt.

Der Streit, den Louis Armstrong mit seiner Heimatstadt New Orleans führte, hat sich in peinlicher Weise gegen ihn gewendet. Im vergangenen Jahr hatte Armstrong verkündet, daß er nicht eher wieder in New Orleans spielen würde, bis sich die rassischen Verhältnisse dort unten gebessert hätten. Er wies darauf hin, wieviel schlechter alles in den letzten zwanzig oder dreißig Jahren geworden sei. In der Entstehungszeit des Jazz hätten sich Weiße und Schwarze gemeinsam am Jazz gefreut, und niemand hätte etwas dabei gesehen, wenn zwei Menschen der beiden Rassen nebeneinander gesessen und einer Jazzband zugehört oder in ihr gespielt hätten.  Armstrong sagte: „Ich bin überall in der Welt willkommen, und wenn New Orleans mich wirklich willkommen heißt, will ich gern wieder einmal zu Hause spielen. Ich bin willkommen bei den Satellitenvölkern hinter dem Eisernen Vorhang, noch bevor sie mich je gesehen haben … Ich habe ein schlechtes Gefühl über New Orleans …“

Inzwischen haben die Neger von New Orleans deutlich gemacht, daß sie keinesfalls darüber traurig sind, daß Louis Armstrong nicht nach New Orleans kommen will. Die Negerzeitungen der Stadt schrieben: „Als er das letzte Mal hier war, hat er sich wie ein Affe benommen und einen Rock mit Fransen aus Gras und mit Schmetterlingen getragen, einen Ring in der Nase und eine Krone aus billigem Blech auf dem Kopf … Und so ist er dann durch die Straßen der Stadt gezogen und hat den ganzen Tag Gin gesoffen und sich als King Zulu aufgeführt - der größten Blödelei, die je der schwarzen Rasse widerfahren ist … „ Die Zeitungen bezogen sich damit auf Armstrongs Auftritt auf dem Karneval in New Orleans .. Satchmo war damals besonders stolz, daß er endlich zum Faschingskönig seiner Heimatstadt gewählt worden war. Erst als Faschingskönig mit der Blechkrone auf dem Kopf brachte er es fertig, endlich eine Titelstory im „Time“ -Magazin zu bekommen, eine der höchsten Auszeichnungen, die sich ein Amerikaner vorstellen kann (wenn der Artikel positiv ist!).

Die Negerzeitungen von New Orleans sagen: „Armstrong hat nie etwas getan, damit es den Negern in New Orleans besser ginge. Er war immer damit zufrieden, den grinsenden, äffischen Sambo zu spielen. Und er hat auf diese Weise mitgeholfen, den Neger in seinem Onkel-Tom-Status zu halten. Vielleicht ist es für New Orleans doch besser, nur noch über ihn zu lesen und sich von ferne zu erinnern als irgendeinen erfolgreichen Trompetenspieler… Solche Gedanken finden sich in der letzten Zelt öfter in der ganzen Presse Amerikas - nicht nur in New Orleans. Und dabei ist es gar nicht so lange her, daß Louis Armstrong das schwarze Idol schlechthin war.

Aus einer ähnlichen Einstellung wird oft darauf hingewiesen, daß es im schwarzen Afrika Hochkulturen und ausgeprägte Zivilisationen gab, als die Weißen in Europa noch auf Bärenhäuten schliefen. Und es wird dann vor allem auf die Hochkultur des alten Ghana hingewiesen (das nicht dort lag, wo der moderne Staat Ghana liegt. Das heutige Ghana trägt seinen Namen aus Renommiergründen und hat mit dem wirklichen Ghana nichts zu tun).

Das alles bezeichnet die Atmosphäre, in der der moderne Bop gespielt wird. Die beiden großen und schöpferischen Musiker, von denen der ganze Moderne herkommt, hatten – so unterschieden sie sonst waren - beide einen abgrundtiefen Hass auf alles Weiße: Der Tenorsaxophonist Lester  Young und der Altsaxophonist Charlie Parker. Diesen Haß haben bis heute fast alle Musiker des modernen Bop. Er geht so weit, daß der Schlagzeuger Max Roach aus heiterem Himmel einen Polizisten niederschlug und sich dann für ein paar Wochen in ein Irrenhaus stecken ließ, weil es ihm immer noch besser erschien, den Eindruck zu erwecken, er habe das in einer vorübergehenden Geistesumnebelung getan, als wegen Angriff. auf die Staatsgewalt für mehrere Monate ins Gefängnis zu müssen. Auch der Pianist Thelonious Monk – der Musiker, der mehr als irgendein anderer neue Wege für den Jazz gefunden hat -  hat einen Polizisten niedergeschlagen, als ihm ganz freundlich bedeutet wurde, daß er falsch geparkt habe. Erst dadurch hat er dann Verdacht auf sich gelenkt; man fand Rauschgift bei ihm und er mußte aus doppeltem Grund ins Gefängnis: wegen des Rauschgiftes und wegen des Angriffs auf die Polizei.

Miles Davis schließlich - der Trompeter, der als der größte Jazz-Improvisator nach dem Tode Charlie Parkers gilt, ein Meister verhaltener Lyrik und Poesie - stand vor dem New Yorker Jazzlokal „Birdland“ , um in einer Spielpause Luft zu schöpfen, und wurde, ohne seinerseits tätlich zu werden, von der Polizei niedergeschlagen. Man hatte Miles bedeutet weiterzugehen, weil er den Verkehr aufhalte. Miles hatte sich geweigert, weil er ja gleich wieder im Birdland weiterspielen musste. Er war also im Recht. Aber die Untersuchungen haben doch deutlich gemacht, deß Miles seinen Standpunkt mit so viel Protestgeladenheit vertrat, daß sich der betreffende Polizist zu den Gummiknüppelhieben auf Miles‘ Hinterkopf ausgesprochen herausgefordert fühlte. Daß Miles inzwischen die Stadt New York auf eine Million Dollar Schadenersatz verklagen konnte, wurde mit ausgesprochenem Triumphgeheul verzeichnet Die Polizei ist also das rote Tuch. Sie ist das Symbol jener Ordnung, gegen die man protestiert. Wenige sind sich bewußt darüber im klaren; aber gerade deshalb wirkt alles um so stärker und elementarer.

Sicher hat auch die Wendung vieler Jazzmusiker zum Islam mit der Protesthaltung zu tun. Man will nicht mehr jenem christlichen Glauben angehören, unter dessen Zeichen man lange genug als minderer Mensch behandelt wurde, obwohl scheinheilig immer wieder von der Nächstenliebe gesprochen wurde. Der Prozentsatz der führenden Jazzmusiker, die seit den vierziger Jahren zum Islam übergetreten sind, wächst ständig. Manche tun es öffentlich und nehmen dann auch einen arabischen Namen an – wie der Baritonsaxophonist Sahib Shihab; andere tun es ohne daß die Öffentlichkeit es bemerkt, wie der Schlagzeuger Art Blakey, der nur für seine Glaubensgenossen den Namen Abdullah Ibn Buhaina angenommen hat.

Auch in der Rauschgiftsucht liegt oft genug ein protestierender „Nun gerade“-Komplex. Und das „Nun gerade“ kann dabei so weit gehen, daß man bewußt oder unbewußt zu empfinden scheint: Ich weiß zwar, daß mich das zugrunde richtet, aber darum tue ich’s erst recht. „Darum erst recht“ kann man’s schon deshalb tun, weil es in der Gesellschaft, mit der man nichts mehr zu tun haben möchte, verboten ist.

Die Improvisationen der modernen Bop-Musiker sind von einer wilden, gespannten, nervösen Geladenhelt. Die jungen Musiker des Modern Bop sind die „zornigen jungen Männer der Jazzmusik“, und sie sind zorniger als alles was in der Literatur aus der Attitüde des Zornig-Seins Kapital zu schlagen versteht. Besonders deutlich ist dies bei den jungen Tenorsaxophonisten John Coltrane und Johnny Griffin. Sie haben in rhythmischer, harmonischer und melodischer Hinsicht neue Wege der Jazzimprovisation gefunden, aber man hat den Eindruck, daß es die geballte Kraft ihres Zornes ist, die sie auf diese Wege geführt hat. „Von Coltrane kann man im Grunde nur eines mit Sicherheit erwarten: das, was man gerade nicht erwartet“ , schrieb eine Kritikerin. Immer hatte das Spiel mit dem Nicht-Zu-Erwartenden eine Protestfunktion in der Kunst - auch etwa in der Neuen Musik oder In der abstrakten Malerei.

Der Modern Bop ist wirklich ein neuer Jazzstil. Er ist nicht einfach eine Neuauflage des Bebop, also des Jazzstils der vierzIger Jahre. Gewiß gab es auch im Bebop eine protestierende, nervöse Intensität; sie hat sich am Ende der vierziger Jahre zur Ausgeglichenheit und Überlegenheit des Cool Jazz beruhigt. Von etwa 1949 bis 1956 war kühle, zurückhaltende Besonnenheit das höchste Ideal der Jazzmusik. Wenn es nun jetzt den Modern Bop gibt, so wird darin alles, was der Cool Jazz an musikalischen Ergebnissen gebracht hat, verarbeitet - vor allem die langen, weitgeschwungenen, sich ständig aus sich selbst heraus erneuernden Linien und die vielschichtige, raffinierte Harmonik. Das alles ist im modernen Bop gegenwärtig, aber nicht mehr in der Ausgeglichenheit des Cool Jazz, sondern mit  der Explosivität des Bebop. Die Jazzentwicklung ist – wie jede künstlerische Entwicklung - kein Kreis, der immer wieder zu seinem Ausgangspunkt zurückkehrt, sondern eine Spirale, die auch dort, wo sie eine Kreislinie beschreibt, zwangsläufig in neue Bereiche führt. Die Formel des Bebop also ist: musikalisches Material des Cool Jazz + Explosivität des Bebop = Modern Bop.

Der Modern Bop als ein bestimmbarer Stil beginnt mit dem Trompeter Clifford Brown, einem jungen Musiker, der 1953 aus dem Orchester Lionel Hampton hervorging und drei Jahre später bei einer rasenden Autofahrt nach dem Genuß von Rauschgift ums Leben kam. Clifford Brown war bei seinem Tod erst 25 Jahre alt, aber es gab damals und gibt im Grunde noch heute eine ganze Generation junger Jazzmusiker, die ihn aufs höchste verehrt.

In den letzten Wochen seines Lebens hatte Clifford Brown im Quintett des Schlagzeugers Max Roach gespielt. Der Tenorsaxophonist Sonny Rollins war dort die zweite Bläserstimme, und Rollins wurde die wichtigste Stimme des Modern Bop - ein überlegener, kluger Musiker, der, sobald er nur einen Raum betritt, Autorität um sich verbreitet. Auch in seiner Musik gibt es dieses Moment der Autorität. Fast stets steigt er in seine Chorusse hinein, als sage er: „Nun hört mal alle her, was ich zu sagen habe!“ Aber weil er dann wirklich etwas Wesentliches sagt, hat man nie das Gefühl eines fragwürdigen „Hoppla-jetzt-komm-ich-Gehabes“.

Von Sonny Rollins ist jeder beeinflußt, der im modernen Bop Tenorsaxophon bläst. John Coltrane und Johnny Griffin, die zornigen jungen Männer des Tenors, haben gezeigt, wie man die Musik von Rollins noch weIter intensivieren kann. Für den Ton in dem John Coltrane spielt, gibt es nur ein Adjektiv: beißend.

Die Messengers des Schlagzeugers Art Blakey sind die zentrale Combo des Modern Bop, wie das Modern Jazz Quartet die zentrale Combo des Cool Jazz war. Blakey nennt seine Musiker „Messengers“ , weil er davon überzeugt ist, eine „Botschaft“ zu haben – in einem fast religiösen Sinn: die Botschaft des Jazz -  Ursprünglichkeit, Geradheit, Ehrlichkeit, Vitalität, Freiheit, Toleranz, Individualismus. So burschikos sich Blakey sonst gibt, er hat einen heiligen Ernst, wenn er von diesen Dingen spricht.

Die Messengers, die seit 1954 in so vielen verschiedenen Besetzungen existieren, daß man sie gar nicht mehr alle übersehen kann, sind eine Brutstätte für die neuen Talente des Modern Bop. Die jungen, schwarzen Musiker kommen aus Detroit, Philadelphia oder Pittsburgh - nur ganz wenige noch aus den Südstaaten - nach New York, spielen bei Art Blakey und sind wenige Monate später bekannt.

Es hat noch nie in der Geschichte des Jazz einen neuen Stil gegeben, der nicht auch eine neue rhythmische Konzeption gebracht hätte. Die Schlagzeuger des Modern Bop haben den Rhythmus „noch emmal auf den Kopf gestellt“. Elvli Jones aus Detroit spielt in meisterlicher Weise „um den Rhythmus herum“ und kommt deshalb endlich vom allzu gleichmäßigen Durchschlagen des Metrums fort, aber das Wunder geschieht: Das Metrum fällt dadurch nicht etwa auseinander, wie bei vielen weißen Musikern, die etwas ähnliches versucht haben, es wirkt im Gegenteil um so gespannter und intensiver!

Gewiß, Wildheit, Explosivität, Expressivität, Kraft, Protest, Zorn sind die Stichworte des Modern Bop, aber der Modern Bop ist ein Stil und gebietet deshalb über die ganze Skala menschlicher Gefühle. Der Tenorsaxophonist und Arrangeur Benny Golson ist der Romantiker des Modern Bop geworden. „Out of the Past“ heißt eines seiner Themen, und in der Tat klingt vieles, was er geschrieben hat, wie ein „Stück Vergangenheit“, aber nicht in sentimentaler Rückerinnerung, sondern in lebendiger Gegenwart: Romantik - hier, heute und jetzt. Selbst dabei schleicht sich Protest ein.

Lange war keine Jazzspielweise so bewußt in der Jazztradition begründet wie der Modern Bop. Der Blues und der religiöse Gospelgesang in den Negerkirchen sind die verbindlichen Bezugspunkte. Immer schon hat es enge Beziehungen zwischen dem Jazz und dem Spiritual gegeben, aber noch nie waren sie so eng wie heute. Es gibt keinen nennenswerten Musiker des Modern Bop, der nicht Stücke in Spiritualatmosphäre aufgenommen hätte. Das gab es früher nicht in der Jazzmusik. Das bekannteste dieser Stücke stammt von dem Pianisten Horace Silver: „The Preacher“ - „Der Prediger“.

Kein Mensch weiß, wo die Entwicklung hinführt. Jetzt, auf dem Höhepunkt des Modern Bop, werden schon wieder Ansätze zu neuen Entwicklungen sichtbar. Die Tonalität wird über den Haufen geworfen, der durchgehende Rhythmus fällt auseinander.

Das ist vielleicht das Beste am Jazz, daß er in so ständiger Bewegung ist. Monat für Monat gibt es neue Musiker, und sie alle haben etwas eigenes, deutlich voneinander Unterscheidbares zu sagen. Das Reservoir scheint unerschöpflich, und auch das ist ein Zeichen der Lebendigkeit und Kraft. Wenn diese Musiker protestieren, dann tun sie es nicht aus nervöser Überreiztheit. Sie tun es, weil sie wissen, daß protestiert werden muß.

Plattentips

1. Clifford Brown mit Gigi Gryce, John Lewis, Art Blakey

(Blue Note BLP 1526)

2. Sonny Rollins and the Big Brass

(MGM 65006)

3. Art Blakey’s Jazz Messengers mit Benny Golson

(RCA LPM 9856)

4. Art Blakey’s Jazz Messengers mit Thelonious Monk

(Atlantic 1278)

5. Art Blakey’s Jazz Messengers mit Johnny Griffin

(Odeon 0 83 028)

6. John Coltrane „Blue Train“

(Blue Note 1577)

7. Donald Byrd - Gigi Gryce

(Phillips B 07 904 R)