Das Erwachen der Schlafenden Schönheiten

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unveröffentlicht

Protokoll des 2011 verstorbenen Fotografen Herbert Hesselmann: „An jenen Abend, als ich den Anruf meines Freundes Guido Bartolomeo aus Paris erhielt, erinnere ich mich genau. Es war spät geworden; ich hatte gerade meine Arbeit im Studio beendet und war im Begriff, das Haus zu verlassen, um mit Barbara noch auf ein Glas zu unserem Lieblings-Italiener zu wandern. Doch daraus wurde nichts – weil sich das Telefongespräch mit Guido bis Mitternacht hinzog. Was er berichtete, war aufregend genug. Nach langer Zeit des Zuwartens hatte er einen Nachbarn in jenem Dorf kennen gelernt, in welchem er ein kleines Landhaus gekauft hatte. Der Mann war Besitzer einer Sammlung wertvoller Automobile, die einen Dornröschenschlaf hielten. Über den Ort und über den Mann, der die Fahrzeuge Zeit seines Lebens zusammengetragen hatte, erfuhr ich zunächst nichts Näheres. Nur so viel: Es handelte sich um etwa fünfzig der seltensten Klassiker der Welt, und seit ihrer Einquartierung im Manoir de Rampart habe sie kaum je ein Außenstehender gesehen, geschweige denn berührt. Und niemandem außer mir würde vermutlich je wieder gestattet werden, die Kollektion zu fotografieren.“

Mehr als fünfundzwanzig Jahre sind seit jenem Telefongespräch Hesselmanns mit Guido vergangen. Vier mal hat er den ihm beschriebenen Platz besucht und jedes Mal Besuch das Versprechen abgeben müssen, weder den Ort zu verraten noch Namen zu nennen. Nur unter dieser Voraussetzung wurde ihm gestattet, Aufnahmen zu machen und sie auch zu verwerten. Einige gingen um die ganze Welt, wurden von den führenden Foto-, Design- und Automobil-Periodika in ganz Europa, in den USA und Japan veröffentlicht. Die Story der „Sleeping Beauties“ erlebte Millionenauflagen, wurde mit den höchsten Prädikaten bewertet und brachte Hesselmann zwölf internationale Auszeichnungen ein.

Wo die Zeit stehen blieb

Die Geschichte von Dornröschen, so wie wir sie kennen, wurde zwischen 1812 und 1819 von den Brüdern Jacob und Wilhelm Grimm niedergeschrieben. Die von ihnen aufgezeichneten Märchen stammten aus verschiedenen Quellen. So gab es bereits um 1330 einen in Altfranzösisch abgefassten „Roman de Perceforest“ sowie eine 1697 in Paris veröffentlichte Fassung dieses Märchens, genannt „La belle au bois dormant“ von Charles Perrault. Und wer weiß: Vielleicht trug sich ja die Begebenheit mit jener fünfzehnjährigen Prinzessin, die sich an einer Spindel stach und daraufhin in einen hundertjährigen Schlaf verfiel, ganz in der Nähe jenes Ortes zu, um dessen Geheimhaltung ein französischer Exzentriker drei Jahrhunderte später so außerordentlich besorgt war. Um nicht nur einer in tiefen Dauerschlaf versunkenen Schönheit ein im Märchen nicht vorgesehenes, vorzeitiges Erwachen zu ersparen – im Garten und in den Remisen seines Anwesens schlummerten immerhin mehr als vier Dutzend Prinzessinnen in ihrer Herrlichkeit, Schönheit und in beinahe auch in aller Ewigkeit. Aber nicht in aller Vergänglichkeit. Dafür sorgten die Erfindung der Fotografie – und Guido Bartolomeo.

Drei Leidenschaften teilte sich Guido mit jenem Bewacher des von Brennesseln, kniehoher Quecke, Kletten, Disteln und Efeu umwucherten Mädchenpensionats – die Liebe zu edlen Automobilien, zu schönen Frauen und zu guten Weinen. Eine vierte Passion nicht: die der großen Sympathie zu Hühnern. „Als ich den Märchengarten das erste Mal betreten durfte, kam mir der Patron mit einem Huhn auf dem Arm entgegen,“ erzählte Herbert Hesselmann. „Beim zweiten Mal stellte er mir Frau und Freundin vor, mit denen er unter einem Dach lebte, beim dritten Besuch sprachen wir mehr über Weine als über Autos.“

Guido und das Huhn waren Zeugen, als Hesselmann dem Patron das Versprechen abgab, niemals dessen Namen in Verbindung mit der geplanten Reportage über die schlafenden Schönheiten zu nennen, erst recht nicht den Ort der Handlung anzugeben. Und Hesselmann hielt Wort. Der in seinem Buch verwendete Name „Pierre“ sowie die Bezeichnung seines Anwesens als „Manoir de Rampart“ waren von ihm also erfunden.

Ein Niederländer mit Hang zum Enthüllungsjournalismus ließ indessen nichts unversucht, um den Verbleib der Schlafenden Schönheiten und deren damaligen Besitzer namens Michel Dovaz ausfindig zu machen. Was ihm auch gelang. Er hebelte Herbert Hesselmanns Versprechen aus, machte es durch diverse Veröffentlichungen wertlos.

Doch der Reihe nach.

Guido und Michel Dovaz kannten sich zunächst nur flüchtig; sie waren Nachbarn und, wie sich dann eines Tages herausstellte, im Wein-Geist Verbündete. Dovaz, ein renommierter Experte der französischen Vinikultur und Besitzer eines Kellers, der dem eines Robert Parker kaum nachstehen dürfte, schätzte ein Leben in anonymer, robinsonärer Zurückgezogenheit, während Guido als Mann von Welt auf jedem Parkett zu Hause war, sich mit den bekanntesten Models und ihren Managern wie mit den erfolgreichsten Industriebossen und ihren Bankern duzte, und so war es eigentlich kaum ein Zufall, dass auch Herbert Hesselmann zu seinen Freunden zählte, einer der prominentesten Mädchen- und Automobil-Fotografen jener Jahre. Es hatte lange gedauert, bis Guido seinen Nachbarn im Manoir de Rampart endlich davon zu überzeugen konnte, dass allein Hesselmann für eine – selbstverständlich exklusive – Fotoreportage über Michel Dovaz‘ Kollektion in Frage kam.

„Wir reisten eigens in meinem Mercedes 300 SL an, um Monsieur Dovaz zu signalisieren, dass er es mit passionierten Autoliebhabern zu tun hatte… aber das interessierte ihn nicht im Geringsten. Noble Autos hatte er ja selbst genug, vom Rolls-Royce bis zum Ferrari,“ erinnert sich Hesselmann. „Als sich dann eines der beiden rostigen Blechtore einen Spalt weit öffnete, fast drei Meter hoch und mit dreizehn spitzen Gitterstangen versehen, und wir uns mit unserer Ausrüstung durchzwängten, befanden wir uns plötzlich in einer anderen Welt. Hier war die Zeit stehen geblieben. Wir standen vor einem Geviert der zum Manoir gehörenden Nebengebäude, von üppiger Botanik umwuchert, aus der hier und da und dort ein Stück Blech ragte. Aston Martin, Jaguar, Graham, Lancia, Rolls-Royce, Ferrari, Lotus, Alfa Romeo, Panhard…“

Vielleicht taten die mit Bäumen, Sträuchern und blühendem Wildwuchs Eins gewordenen Zeugen besserer Autozeiten mit ihren trüb gewordenen Scheinwerfer-Reflektoren, angelaufenen Scheiben und einem filzigen Überzug aus Moos, Rost und Staub auf den Karosserieblechen nur so, als ob sie schliefen. Zumindest einige warteten womöglich nur darauf, endlich jemandem ihre Geschichte erzählen zu dürfen.

Automobil-Biotop

Als Egmont die Stative von seinen Schultern ablud, verschwanden sie in einem Dickicht aus Schachtelhalm und einen Meter fünfzig hohem Bärenklau. „Minutenlang rührten wir uns nicht von der Stelle und ließen die Unwirklichkeit der Szenerie in der Mittagsstille auf uns wirken. Bis Dovaz, der das geduldige Huhn auf seinem Arm gegen ein Glas Rotwein eingetauscht hatte, zu Guido sagte: Et maintenant, alors?“

Ob es sich bei der attraktiven Fee, die irgendwo aus einem Dschungelpfad aufgetaucht war und den Hausherrn im Verlauf des Nachmittags noch einige Male mit einem neu gefüllten Glas versorgte, um seine Frau, seine Freundin oder seine Tochter handelte, war für Hesselmann & Co. erst einmal unerheblich. Sie hatten zunächst mit Eindrücken fertig zu werden, wie sie wohl auch ein Francesco Pizarro im Jahre 1532 angesichts der Inka-Stadt Caxamalca mit ihren Schätzen zu verdauen gehabt hatte. Nur: Pizarros Soldaten trampelten, schossen und rissen in ihrer Gier nach Gold rücksichtslos alles nieder, was sich ihnen in den Weg stellte, und ließen ein Bild grausamer Verwüstung zurück. Während die Hesselmänner jeden ihrer Schritte, jede Kameraeinstellung so wählten, dass ihre Arbeit keine Spuren hinterließ. „Was die Natur begonnen hatte, sollte sie auch fortsetzen. Diesen Prozess zu unterbrechen wäre ebenso frevelhaft gewesen wie der Gedanke an die Möglichkeit, dass diese Autos jemals wieder zum Leben erweckt würden.“ Nein, ihre Geschichte zu erzählen kam ihnen nicht in den Sinn. Die hatten sie vermutlich längst vergessen. Vielleicht erinnerte sich aber das Alfa Romeo Coupé doch an die Mille Miglia von 1950, als ein damals 39-jähriger Argentinier namens Juan Manuel Fangio am Steuer saß und das 1000-Meilen-Rennen als Dritter beendete…

Am ersten Tag seines Besuches im Paradies der Schlafenden Schönheiten machte Hesselmann zunächst nur Polaroidbilder. Egmont hatte sich vergebens abgemüht; der größte Teil der angeschleppten Ausrüstung blieb in ihren Koffern. „In der Nacht haben wir kein Auge zugetan. Auf unseren Hotelbetten breiteten wir die Polaroids aus und betrachteten sie immer und immer wieder – wie Goldgräber ihre Nuggets, wenn sie fündig geworden sind…“

Nicht mehr als ein halbes Dutzend Besucher dürfte das automobile Biotop je gesehen haben, gute Freunde Dovaz‘, deren Diskretion er sicher war: „Und keinem habe ich erlaubt, eine Kamera mitzunehmen,“ sagte er. Dass Guido Bartolomeo es geschafft hatte, einem Fremden in Dovaz‘ Zaubergarten Zugang zu verschaffen, einem Fotografen obendrein, darüber wunderte sich Herbert Hesselmann noch lange. „Die später geäußerte Behauptung, Dovaz habe einen Hang zu überzogener Selbstdarstellung gehabt, ist unsinnig und widerspricht auch seinem Verhalten. Er war alles andere als ein Angeber, hielt sich stets im Hintergrund und vermied es nach Möglichkeit, mit aufs Bild zu kommen. Dass ich ihn ein paar Mal mit der Videokamera erwischte, beim Öffnen einer Motorhaube etwa, ergab sich aus Zufall.“

Vom Reiz der Patina

Am zweiten Tag begann die eigentliche Arbeit vor Ort – mit einer kleinen Enttäuschung. Dovaz hatte seinen Gästen zuliebe frühmorgens eine große Fläche des Wildwuchses abgemäht. Zwar erleichterte dies den Zugang zu einigen Fahrzeugen, aber der ungeschorene Dschungel hatte Hesselmann sehr viel besser gefallen.

Den überwiegenden Teil der Botanik hätte der Patron jedoch nur mit schwerem Gerät beseitigen können. Zum Glück war dies nicht geschehen. „Als Dovaz dann die Tore seiner Remisen aufschob, so dass etwas Licht auf ihre Inhalte fiel, offenbarte sich uns des Märchens zweiter Teil,“ berichtete Herbert Hesselmann. Mehrere Bugatti, zwei Cord, ein Bentley, ein Lincoln Zwölfzylinder, teils mit hohläugigen Scheinwerfern, zersplitterten Scheiben, aufgeblühten Chromteilen, eingedrückten Kotflügeln…. alle von einer dicken Schicht aus Staub, Spinnweben, Hühner- und Taubenkot bedeckt, was eine kaum definierbare, ins Graugrün gehende Monochromie ergab. „Eine weitere, kaum mehr zugängliche Remise hatte einst offenbar als Werkstatt gedient. Die hier abgestellten Wagen befanden sich in verschiedenen Stadien der Demontage. Ausgebaute Zylinderköpfe, Ventildeckel, Kurbelwellen, Lenkungen und Vergaser lagen neben Öldosen und Werkzeugen auf den Autodächern, auf den Ledersitzen, auf dem Boden, Über dem offenen Motorraum eines Bugatti schwebte an einer verrosteten Kette der ausgebaute Kompressor-Achtzylinder – als ob die Mechaniker vor zwanzig Jahren sich mal eben zur Mittagspause begeben und von ihr nie zurückgekehrt waren. Kein Bühnenbildner hätte ein solches Arrangement hinbekommen.“

Dem Chaos auf der Werkbank nach zu urteilen, waren hier sicher keine im Bugatti-Werk ausgebildeten Fachkräfte an der Arbeit gewesen, und wer Herbert Hesselmanns eigene Oldtimer-Werkstatt gesehen hat, kann nachempfinden, mit welchen Gefühlen er diese Schreckenskammer abgelichtet hat. Aber er sah das Szenario nicht mit den Augen eines passionierten Autoliebhabers. „Das hätte zu einem emotionalen Konflikt geführt, mit mir selbst und mit Dovaz. Ich war zum Fotografieren und nicht zum Diskutieren eingeladen worden. Und als Fotograf hatte ich hier die einmalige Chance, den Reiz der Patina auf ganz besondere Weise kennen zu lernen.“

Von so genannten Scheunenfunden war in den frühen achtziger Jahren noch häufig die Rede. Und vom Unkraut überwucherte Auto-Abstellplätze sah man an den Ausfallstraßen französischer Städte allenthalben. Ich habe in den Hallen einer stillgelegten Fabrik an der Marne eine Sammlung von gut fünfzig alten Citroën gesehen, in einem Lagerschuppen im Jura zwei Dutzend Renn- und Sportwagen der Marken Lancia und Alfa Romeo, im Schuppen eines Weinbauern an der Loire eine Flotte von ausrangierten Lastwagen aus den zwanziger Jahren. Alles Schrott, Alteisen, Abbruch. Die Eigner der Plätze waren ebenso wenig wie Dovaz geneigt, über Sinn und Zweck ihrer Sammlungen zu diskutieren, und ein Verkauf oder eine Entsorgung im Sinne des heute praktizierten Umweltschutzes stand schon gar nicht zur Debatte. Und doch unterschieden sich die Inhalte solcher und ähnlicher Dorados in wesentlichen Punkten von den Schätzen im Manoir de Rampart: Es ermangelte ihnen der Exotik in der hochkarätigen Melange, der skurrilen Romantik ihrer Einbettung und auch jener Patina, wie sie nur jahrzehntelange Unberührtheit in ländlicher Abgeschiedenheit hervorbringen kann.

Noch zwei Mal besuchte Herbert Hesselmann in kurzen Abständen das Manoir de Rampart, um weitere Aufnahmen zu machen. Die erste Visite war nur eine Art Schnupperpartie gewesen, bei der sich das Team mit wenigen Bildern begnügt und einen Videofilm gedreht hatte, um mit der Atmosphäre vertraut zu werden.

Viele Fragen, wenig Antworten

Ein Autoliebhaber war Dovaz durchaus; nur auf seine Art eben – mit einem Einschlag von Nekrophilie. Einige der Fahrzeuge hatte er vor vielen Jahren selbst gefahren, andere vom Schrottplatz geholt, als man dort noch fündig werden konnte, und gelegentlich erhielt er einen Wagen auch vom Straßenrand weg geschenkt. Einen seiner Bugattis bekam er mit der Auflage vermacht, ihn innerhalb von zwölf Stunden wegzuschaffen: Madame hatte sich einen neuen Wagen zugelegt und niemanden gefunden, der die „alte Kiste“ ihres verstorbenen Ehemannes haben wollte. Und Garagenplätze waren im 18. Arrondissement von Paris schon immer knapp.

Doch Dovaz‘ Mitteilsamkeit hielt sich in Grenzen. Über die Herkunft der meisten Fahrzeuge seiner Kollektion verlor er wenig Worte, seine Informationen erschöpften sich in knappen Andeutungen. Vergeblich versuchte Herbert Hesselmann, das Gespräch auf das Schicksal einzelner Autos zu bringen. Wie war er an den Fangio-Alfa, an die beiden Cord, an den Graham gekommen? Was hatte es mit dem Ferrari aus dem Besitz des monegassischen Hofes auf sich? Guido Bartolomeo, als Kosmopolit alter Schule fit in den meisten mitteleuropäischen Sprachen, dolmetschte simultan, doch Dovaz wich den meisten Fragen geschickt aus. Etwa nach dem Motto: Je weniger ihr wisst, desto geringer das Risiko, dass andere etwas erfahren. Schon gar nicht wurde bei jenem gemeinsamen Abendessen über Autos gesprochen, als die Hesselmann-Crew zu ihrer zweiten Foto-Session erschienen war. „Über das zu reden, was auf den Tisch kam, war ihm viel wichtiger. Wir mussten dabei vierzehn seiner Weine in einer Blindverkostung zu identifizieren versuchen… es gefiel ihm, dass ich wenigstens einen Bordeaux von einem Côte-du-Rhône zu unterscheiden vermochte. Ich habe seinen Keller besichtigen dürfen, der Flaschen zurück bis zum Jahrgang 1924 enthielt. Bei vielen konnte man durch den fingerdicken Staub das Etikett nicht mehr entziffern, aber der Hausherr wusste jede Flasche zu benennen…“

Das Abschiedsdiner für seine vier Gäste im Restaurant Le Moulin und die Proben aus seinem Weinkeller (wobei eine seiner ältesten Bouteillen noch zu Bruch ging) dürften ein Vielfaches dessen wert gewesen sein, was Dovaz als Honorar für die „Fotogenehmigung“ erbat: 5000 Francs. „Das wäre nach heutigem Geld weniger als 1000 Euro. Eher ein symbolischer Preis.“ Wurde eine Flasche geöffnet, holte Dovaz erst einmal ein Thermometer aus der Rocktasche und prüfte die Temperatur des kostbaren Inhalts in seinem Glas. Ein leichtes Kopfnicken oder ein „très bon“ signalisierte: Bibendum!

„Begriffen haben wir seine Philosophie der Geheimnistuerei nie so ganz,“ sagt Jacques Liscourt, wie Dovaz in einem halb verfallenen Herrenhaus lebend und seit einem halben Jahrhundert ein Auto-Raritäten-Sammler (der seine Preziosen indes mit Sorgfalt restauriert). Liscourt gehört zu den wenigen, die über das Inventar des Manoir de Rampart genau Bescheid wussten. „Anfangs hatte er tatsächlich vor, einen Wagen nach dem anderen in die Kur zu nehmen, ganz allein, ohne Hilfe. Diesen undurchführbaren Plan gab er aber schon bald wieder auf. Vielleicht fehlte ihm auch die Zeit dazu. Dovaz ging bis vor einiger Zeit ja schließlich einem Beruf nach.“

Einem recht einträglichen, denn in der Weinbranche kann man viel Geld verdienen, vor allem, wenn man zu den gefragtesten Experten Frankreichs zählt.

Die Veröffentlichung der Hesselmann-Fotos löste in aller Welt eine Lawine von Fragen aus. Das Telefon im Münchner Studio stand nicht mehr still. „Immer wieder erhielten wir Anrufe aus Japan, aus Amerika, sogar aus Saudi-Arabien,“ erinnerte sich Barbara Reinwarth, die für ihren Mann das Sekretariat führte. „Man bot uns viel Geld, wenn wir die Adresse des Manoir de Rampart oder den Namen seines Besitzers verrieten… Wir sollten einzelne Fahrzeuge der Sammlung vermitteln, und ein Anrufer aus den Golfstaaten erbot sich sogar, das ganze Anwesen samt Inhalt zu kaufen und uns eine hohe Provision dafür zu zahlen…“

Auch Fragen nach Fahrgestellnummern einzelner Wagen oder nach ihren Vorbesitzern wurden nicht beantwortet. Ebenso wie die später durch die französische Presse erfolgten Veröffentlichungen zum Verkauf des einen oder anderen Fahrzeugs keine Kommentierung erfuhren: „Wir hatten Dovaz unser Wert gegeben, und daran hielten wir uns. Außerdem waren uns ja viele Details selber nicht bekannt.“ Denn was 1983 so gut wie unwahrscheinlich erschien, trat ein Dutzend Jahre später ein: Von einigen seiner Boliden hatte sich Dovaz getrennt, aus welchen Beweggründen auch immer.

Millionenschrott

Die Illustrierte „stern“ hatte in ihrer 16-seitigen Reportage, veröffentlicht im Herbst 1983, das Hesselmann-Oevre unter die Headline „Millionenschrott“ gestellt. Der Journalist Walther Wuttke wusste die Stimmung und die Inhalte der Hesselmann-Fotos gut zu interpretieren: „Acht Bugattis verkommen auf platten Reifen; Staub hat sich zentimeterdick über ihre geschwungenen Karosserien gelegt und ist mit dem Lack längst unlösbar verbunden… Der Lotus Elite fällt im hüfthohen Gras nur durch seine feuerrote Farbe auf; wäre er in der traditionellen britischen Rennfarbe Grün lackiert – er wäre perfekt getarnt.“

Als Herbert Hesselmann seine Kamera auf das Coupé richtete, stelzte eine braunschwarze Henne über das Dach, ihr Hausrecht deutlich demonstrierend. Für eine andere hatte Dovaz eine Hängematte gebastelt, aus der sie die Besucher beäugte. Das Tier lag dort, weil es sich ein Bein gebrochen hatte, von Dovaz geschient und eingegipst. Kein anderer französischer Landmann wäre auf eine solche Idee gekommen, sondern hätte das verletzte Huhn kurzerhand zu einem Sonntagsessen verarbeitet.

Um seine Hühner war Dovaz mehr besorgt als um seine Zwölfzylinder. „Der Ferrari aus dem Fuhrpark von Fürst Rainier wird nie mehr vor dem Hôtel de Paris in Monaco parken,“ schrieb Wuttke, „ein Amerikaner hatte den Wagen in den späten fünfziger Jahren vom fürstlichen Hof gekauft. Als er in die Vereinigten Staaten zurück musste, wollte er den Ferrari schnell loswerden. Auch der Lincoln Continental Zwölfzylinder hat den Kampf gegen die Zeit verloren. An seinem Kühlergrill wachsen Flechten, der Chrom ist stumpf… Unter einer Plane wartet ein Rolls-Royce auf bessere Zeiten, die wohl nie mehr kommen werden. Als im Jahre 1973 die erste Ölpreis-Welle anrollte, war er hier abgestellt worden. Der feine Duft seines Connolly-Leders ist dem Gestank von Hühnerdreck gewichen.“

Den Rolls-Royce Silver Cloud hatte Dovaz, bis er ihn außer Dienst stellte, selbst gefahren. Anschließend stieg er auf einen Peugeot 204 um, dann auf einen Renault R4 – und blieb dabei. Angeblich der hohen Benzinpreise wegen.

Zu den Millionenwerten mag auch jener Alfa Romeo 6C2500 Competizione zählen, von dem nur drei Stück gebaut wurden und den Juan Manuel Fangio 1950 auf den zweiten Platz in der Mille Miglia pilotierte (dieses Auto gehört übrigens zu den wenigen, die eines Tages eine Wiederbelebung erfahren durften).

Das mit den „Millionen“ war und ist jedoch eine hypothetische Angelegenheit. Für Dovaz hatten die Autos, als Herbert Hesselmann mit ihm sprach, offenbar keinen monetären Wert, und es schien ihm gleichgültig, welchen Preis sie in ihrem gegenwärtigen oder einem toprestaurierten Zustand erzielen würden. So wie ihn auch der allmählich Verfall seines Hauses nicht interessierte. Dovaz‘ Privatdomizil unterschied sich nur wenig von der Werkstatt-Idylle in einer seiner Remisen. „Wo seine beiden Lebensgefährtinnen wohnten, blieb uns verborgen. Es war schwer vorstellbar, dass sie mit Dovaz unter ein und dem selben Dach lebten.“ Aber solche Details fielen sowieso unter die Auflage des Diskretionsgebots. Man befand sich schließlich in einem Land, dessen Präsident sich jahrelang eine Konkubine im Elysée-Palast hielt – eine illegale Zweit-Ehe als Tatsache, von der jeder Franzose Kenntnis hatte und worüber sich dennoch niemand das Maul zerriss.

„Seinen Schrott-Schatz zeigt er nur Auserwählten und genießt deren Fassungslosigkeit,“ schrieb Walther Wuttke im „stern“. Und mutmaßte, dass fünfzig Spezialisten wohl ein ganzes Jahr lang zu tun gehabt hätten, die Autos zu reparieren und zu restaurieren.

Als Sammler wollte Dovaz sich übrigens nicht eingestuft wissen. „Sammler – das sind doch nur Verrückte, die sich mit dem, was sie sammeln, in ihre Jugendzeit zurückversetzen wollen“ sagte er zu Hesselmann. Aber traf diese Definition nicht auch auf Dovaz selbst zu?

Michel Dovaz, dessen Familie aus der Schweiz stammte, hatte seine Karriere als Journalist in Paris begonnen und sich damals für jene Autos begeistert, die ein junger Normalverdiener sich niemals hätte leisten können – oder die man gemeinhin der Schrottpresse übergab. Weil es unwirtschaftlich war, beispielsweise einen Bugatti Achtzylinder zu fahren, für den es keine Ersatzteile gab und dessen Tankfüllung 1954 in Frankreich fast ebenso viel kostete wie heute. Nur Touristen erhielten damals Benzin-Bons zum Vorzugspreis. Die ausrangierten Oldies, die Dovaz für wenig Geld oder gar zum Nulltarif erwarb, stellte er in Ermangelung an Garagenplätzen auf der Straße ab. „Als ich einen meiner Bugattis weiterverkaufen wollte, wurde ich ausgelacht. Also behielt ich ihn. Heute habe ich es nicht mehr nötig, mich von ihm zu trennen.“ Später tat er es dennoch.

Der Vorhang fällt

Im Dornröschen-Märchen der Brüder Grimm ist von einer Prinzessin die Rede, zu deren Taufe die Eltern nur zwölf der dreizehn Weisen Frauen des Landes eingeladen hatten. Angeblich, weil das Geschirr nicht ausreichte (es war wohl nur ein winzig kleines Königreich). Die dreizehnte, nicht eingeladene und darob wohl sehr beleidigte Dame rächte sich, indem sie im Gegensatz zu den guten Wünschen der anderen einen Fluch aussprach: Wenn die Prinzessin fünfzehn Jahre alt ist, soll sie sich an einer Spindel stechen und daran sterben. Glücklicherweise hatte eine der zwölf Weisen Frauen einen Wunsch frei – sie milderte das harte Urteil ab in einen hundertjährigen Schlaf. Hätten zwanzig Jahre nicht auch gereicht…? Im jenem Roman de Perceforest aus dem Jahre 1330 wurde die schlafende Prinzessin geschwängert. 1758 veröffentlichte Jeanne Marie Leprince de Beaumont in ihrem Magasin des enfants (Zeitschrift für Kinder) die seither in Frankreich populäre Dornröschen-Version, in welcher die Erweckung des jung und schön gebliebenen Mädchens in ihrem von roten Rosen umrankten Burgverlies notabene nur durch einen Kuss erfolgte; auch die Brüder Grimm ließen es bei einem aristokratisch-dezenten Kuss bewenden. Dovaz‘ fünfzig schlafende Schönheiten erlebten allerdings weder die eine noch die andere Art amouröser Annäherung, und es war auch kein Prinz mit Federbausch und Degen, sondern ein Ackerschlepper mit schwerem Kettenzeug, der eines Tages diesellärmend im Manoir de Rampart erschien und eine Königstochter nach der anderen aus ihrem Pfuhl zog. Keine sträubte sich – schließlich sind nicht alle im Schlaf überraschten Mädchen gleich zum Kratzen und Beißen aufgelegt. Es hätte auch nicht viel genützt. Selbst stuhlbeindickes Wurzelwerk, das sich um Halbachsen, Räder und Traversen gekrallt hatte, vermochte der Zugkraft des Traktors nicht zu widerstehen.

Denn noch lange bevor die 100 Märchen-Jahre um waren, hatte Dovaz den Entschluss gefasst, den Dornröschenschlaf seines automobilen Harems zwar nicht zu beenden, doch zu unterbrechen und sein Domizil aufzugeben. Obwohl dessen Adresse niemals veröffentlicht worden war, hatten Reporter einer New Yorker Tageszeitung sie in einer feldzugmäßigen Operation ausgekundschaftet. Hubschrauber-Paparazzi und nächtliche Mauerkletterer waren erschienen und hatten zum Nervenkrieg angesetzt. Herbert Hesselmann erfuhr von diesen Belästigungen durch Guido Bartolomeo – und durch die Presse-Yankees selbst, als sie ihm heimlich geschossene Bilder mit der Bitte um Identifikation zuschickten. Nur mit Mühe gelang es ihm, deren Veröffentlichung zu verhindern.

Dovaz als Opfer eines beginnenden, rücksichtslosen Enthüllungs-Journalismus’ sah nur einen einzigen Weg, der Belagerung rigoros zu entgehen: Er musste das Manoir de Rampart verlassen. Ein Entschluss, der ihm nicht leicht fiel, denn hier hatte er seit mehr als dreißig Jahren in diskreter Zurückgezogenheit gelebt, einen immensen Weinkeller angelegt, seine Hühner gezüchtet…

Vielleicht hat aber auch der unaufhaltsame Verfall seines Hauses ihn bewogen, sich eine neue Bleibe zu suchen, oder seine Gefährtinnen haben ihn dazu gedrängt. Niemand in der Nachbarschaft fragte Dovaz nach dem Grund; Gerüchte und Mutmaßungen sind ja auch viel schöner als unangenehme Tatsachen. Der Auszug erfolgte jedenfalls innerhalb weniger Tage. Noch bevor das Inventar des Manoir ausgeräumt wurde, blockierten eines Morgens einige Autotransporter die Dorfstraße, um die vom gröbsten Dreck und stärksten Bewuchs befreite Fahrzeugfracht aufzunehmen. In Reih’ und Glied standen die Autos mit frisch aufgepumpten Pneus auf der abschüssigen Rue Haute bereit, eine kleine Reise anzutreten. Bis für sie ein neuer Schlafplatz gefunden war, wurden sie in ein Quartier irgendwo im Südwesten des Landes verbracht.

Herbert Hesselmann war beim Abtransport dabei. Guido hatte das Rote Telefon benutzt: Alarmstufe Eins! Es war Hesselmanns viertes und letztes Zusammentreffen mit Dovaz und seiner makabren Autosammlung; ein denkwürdiger Abschied von einem faszinierenden Märchen. Der aufgewirbelte Staub in dem seines Inhalts beraubten Dornröschenschlosses – sogar die Hühner waren verschwunden – schien nicht recht zu wissen, wohin er sich legen sollte, und so blieb er für eine geraume Weile einfach in der Luft stehen.

Keine von vermoostem, abblätterndem Lack überzogene Karosse, kein ölverkrusteter Motorblock blieb zurück. Mit dem letzten Licht der Abendsonne setzte sich die Transportkolonne in Gang, mit einem für Nichteingeweihte unbekanntem Ziel.

Das Märchen von den meisten der Schlafenden Schönheiten im Manoir de Rampart endet fast so wie alle Märchen: Wenn sie nicht verschrottet sind, dann rosten sie noch heute.