Das Gesicht

von 
Protokoll
zuerst erschienen im Dezember 1997 in jetzt-Magazin
Hier erzählt Jens, 22, aus Hamburg: „Die Frauen, mit denen ich chatte sind wunderschön. Bis ich sie sehe.”

„Im Raum Hamburg sind zwölf Leute. Und nur zwei Frauen. AnnaH hat als Hobby angegeben: „Alles was Spaß macht, nicht nur alleine.” Und: „Ich vernasche gerne.” Ich schicke ihr eine IM, eine Instant-Message, die nur für sie bestimmt ist, die kein anderer im Internet lesen kann. Beim Chatten kommt es auf den ersten Satz an, viel mehr als im wirklichen Leben, weil es keine Augen gibt, in die man schauen, keine Stimme, in die man sich verlieben kann. Mein erster Satz ist meistens: „Ich mag, was du schreibst.” Nicht besonders einfallsreich, aber es hat sich gezeigt, daß es ein Anfang sein kann. AnnaH hat kein Interesse. Wahrscheinlich bin ich nicht der einzige, und sie kann sich vor IMs nicht retten. Alles Typen wie ich, die vor dem Computer sitzen und insgeheim hoffen, daß sich ein Date ergibt. Eine Verabredung im wirklichen Leben. Wenn es heute klappt, wäre es meine dritte, seitdem ich chatte.

Beate aus Hamburg war die erste. Bei ihr funktionierte mein erster Satz: „Ich mag, was du schreibst.” – „Danke. Wer bist du?” kam als Antwort. Und dann schickten wir uns zwei Stunden lang Fragen und Antworten. Alter? Siebenundzwanzig. Wie siehst du aus? Blonde Haare, ein Meter dreiundsiebzig, schlank – und du? Ich war ehrlich und schrieb, daß ich ein Meter vierundachtzig groß bin, dunkelblonde Haare und grünbraune Augen habe. Grünbraune warme Augen schrieb ich, um genau zu sein. Mädchen lieben das. Später habe ich sie dann gefragt, ob sie mich anrufen wolle – das erhöht die Chance auf Erfolg, weil sie so ihre Nummer nicht herausgeben muß. Tatsächlich: „Ich ruf” dich in fünf Minuten an”, schrieb sie.

Warten macht nervös. Ich überlegte, was ich sagen sollte, was wohl die ersten Sätze sein würden, war gespannt auf ihre Stimme. Schon einige Male vorher hatte ich auf einen Anruf gewartet, immer wieder auf die Uhr geblickt und nach einer Stunde aufgegeben. Aber dieses Mal klingelte es wirklich. Und dann war die erste Pause da, gleich nach dem „Hallo”. Stille. Ich hatte eine sanfte, selbstbewußte Stimme erwartet, eben so sanft und selbstbewußt wie sie geschrieben hatte. Beate aber war unsicher. Sie sagte, daß sie gerne Proust lese und am allerliebsten Chris de Burgh höre. Ich hätte eigentlich wissen müssen, daß das nichts werden konnte.

Wir verabredeten uns für den nächsten Abend auf einem Parkplatz an der Hamburger Außenalster. Auf dem Weg dorthin spürte ich meinen Puls immer deutlicher. Der Parkplatz war überfüllt, Autos standen in zweiter Reihe. Vor mir rote Bremslichter, hinter mir grelle Scheinwerfer. Ich hielt an und wartete. Der Wagen hinter mir blieb stehen. Ein rotes Alfa Romeo Cabrio. Eine Frau mit langen gelockten Haaren stieg aus. Wie im Videoclip, nur wirklich schön war sie nicht. Das war der Moment, auf den ich so gewartet hatte und jetzt, mit einem Blick, hatte sich die ganze Spannung und Aufregung entladen. Ich wußte: Beate war nicht mein Typ. Der restliche Abend plätscherte dahin. Wir fuhren in ihrem Cabrio ein bißchen herum und gingen in eine Kneipe. Wir saßen uns eine Stunde gegenüber. Und Beate wurde immer stiller und schaute mich immer länger an. Aber ich wollte nicht, daß der Abend so endete. Stattdessen bat ich sie, mich zurück zum Parkplatz zu bringen. Wir saßen noch ein wenig auf einer Bank an der Außenalster. Dann nahm ich sie kurz in den Arm, und sie fuhr davon. Gesehen haben wir uns nicht mehr.

Aber nicht, daß ich nach diesem Abend die Lust am Chatten verloren hätte. Im Gegenteil. Seitdem habe ich fast jede freie Minute in den Räumen von America Online verbracht, auf der Suche nach dem nächsten Kontakt. Es ist so viel einfacher als im wirklichen Leben. Ich kann einfach drauflos schreiben, ohne Angst zu haben, daß ich nervös oder im schlimmsten Fall sogar rot werde. Außerdem macht es mehr Spaß als Fernsehen – denn man bekommt Reaktionen. Immer wieder habe ich versucht, mit Frauen online zu flirten, aber es gibt Tage, da ist es wie verhext. Keine Frau in meinem Alter, die in der Nähe wohnt und auf meine IMs reagiert. Entweder gar keine oder nur fiese Antworten. „Laß mich in Ruhe!” Online sind eben alle mutiger – und schöner. Online haben alle Frauen lange Beine, Ähnlichkeit mit Cindy Crawford, sind intelligent und wahnsinnig sexy. Es sind die kleinen Dinge, die den virtuellen Traum zerstören: Rechtschreibschwächen, vulgäre Ausdrücke, kein Humor.

Eine Woche später begegnete ich dann Jacqueline. Online natürlich. Unser Chat war ziemlich erotisch. Sie suchte ihren Mickey Rourke und spielte ein bißchen Vamp. Alle Männer, mit denen sie sich bislang getroffen hätte, kämen nicht mehr von ihr los, schrieb sie. Und ob ich die Nacht Zeit hätte, falls wir uns gefielen. Am selben Abend noch besuchte ich sie. Ihre einzige Bedingung: Ich sollte ihr nicht gleich an der Tür sagen, falls sie mir nicht gefiele. Das tat ich auch nicht, obwohl es mir auf den ersten Blick klar war.

Sie hatte ein schwarzes Stretch-Oberteil an und blaße Schminke im Gesicht. Wir saßen in ihrem Wohnzimmer, und aus den kleinen Boxen am Computer wimmerte HipHop. Wir saßen nebeneinander, tranken Sekt und unterhielten uns über belanglose Dinge wie Computerkauf. Und dann begannen wir zu chatten. Es war ihre Idee gewesen. Eine absolut blödsinnige Idee: Mit der Person, die man beim Chatten kennengelernt hat, beim ersten Treffen zu chatten. Eine Stunde lang saßen wir Schulter an Schulter und beantworteten jeder für sich IMs. Irgendwann ging ich.

Im Grunde ist es ja eine ganz schöne Zeitverschwendung: Stunden und Tage vor dem Computer zu verbringen, um dann Frauen zu treffen, die man im wahren Leben nie ansprechen würde. Andererseits: so eine Zeitverschwendung ist es auch wieder nicht – es macht ja Spaß. Es ist jedesmal wieder spannend, mit Personen Kontakt aufzunehmen, von denen man nur die Tarnnamen weiß, und die auch nichts über mich wissen. Deshalb schaue ich auch weiterhin in die Chaträume. Gestern abend waren es wieder drei Stunden. AnnaH hat mich abblitzen lassen, aber egal. Es gibt noch andere Frauen, vor allem online. Und täglich werden es mehr. Internet ist die Zukunft, heißt es doch.”

Im Internet (AOL) finden sich Online-Flirt-Tips. Zum Beispiel folgender für Jungs: „Versucht erst mal ein normales Gespräch aufzubauen. Redet über Jobs oder Hobbies. Das kommt immer gut.” Und: „Gib ihr deine Adresse. Frauen mögen es, Bilder per Snail Mail (normaler Post) zu versenden.” Mädchen wird geraten, ihre Telephonnummer nicht herauszugeben und beim Beschreiben des eigenen Aussehens nicht allzu sehr zu mogeln.

Mel B

„Ich hätte keine Lust auf Blind Dates im Internet. Mich sollen Jungs beim ersten Rendezvous zum Essen einladen.”

Mel B, 22, ist bei den Spice Girls, und die sind diese Woche bei jetzt zu Gast.