Das toxikologische Manifest

Pamphlet
zuerst erschienen 2007 in „Breites Wissen – Die seltsame Welt der Drogen und ihrer Nutzer“, Eichborn Berlin

1. Drogen sind normal.

Man kann Statistiken oder einfach die Zeitung lesen, ins Kino gehen oder Samstagnacht in einen Club: Der Genuß von Drogen, auch von illegalen Drogen, ist zur gesellschaftlichen Regel geworden. Ihre Einnahme ist nicht mehr verbunden mit Avantgardegedanken und Rebellentum. Noch in den siebziger Jahren galten Drogen, neben dem Terrorismus, als die letzte Form der Verweigerung gegen die erwachsene Gesellschaft. Heute wirkt die Bereitschaft, für Drogen sein Leben zu geben, reichlich angestaubt. Der letzte große Popstar in der langen Reihe derer, die mit 27 und unter Drogeneinfluss starben, war 1994 Kurt Cobain. Spätestens mit seinem Tod endete die große Epoche romantischer Drogensucht. Auch der auf der kuscheligen Wirkung von Ecstasy gegründete Traum von der „ravenden Gesellschaft“ ist folgenlos versickert wie der Urin der Love-Parade-Besucher im Tiergarten. Heute zeigt man sich Drogen gegenüber vergleichsweise entspannt. Und zwar sowohl auf Seiten derer, die sie nutzen, wie auf Seiten derer, die Drogen offiziell bekämpfen. Das Rauchen von Haschisch ist noch nicht einmal mehr ein Kavaliersdelikt, über die Abgabe von Heroin an Süchtige wird diskutiert, und Ecstasy wird bei Angstpatienten eingesetzt.

2. Drogen machen interessant.

Anders als Politiker und Drogenbeauftragte weiß das Publikum, was es von seinen Dienstleistern zu erwarten hat: ein gutes Produkt, keine saubere Weste. Der eine oder andere drogenbedingte Aussetzer gehört dazu, schließlich hat abweichendes Verhalten Unterhaltungswert. Ihre Drogengeständnisse haben weder Jack Nicholson noch Xavier Naidoo geschadet. Nachdem das Model Kate Moss dabei fotografiert wurde, wie sie im Aufnahmestudio ein paar Lines schnupfte, steigerte das mittelfristig nur die Zahl der Aufträge. Als Christoph Daum heimkehrte von seiner Kokainbuße in der Türkei, da empfingen ihn die Fans des 1. FC Köln wie einen Erlöser. Denn Menschen, die Drogen nehmen, sind interessanter, schöner, wertvoller.

3. Drogen sind schneller.

Ob Novalis, Lord Byron und Thomas de Quincey – sie wollten nicht mehr an eine Erlösung im Jenseits glauben, sondern suchten sie sofort und mittels Rausch. Baudelaire sprach deshalb auch von den „künstlichen Paradiesen”. Dafür eigneten sich ganz besonders das Opium und das Haschisch – Drogen, die die Stimmung heben, aber die auch beruhigen. Mit der Entdeckung des aufputschenden Kokains begann man, den Rausch auch aufs Diesseits einwirken zu lassen. Ein Vorreiter dieser neuen Drogenpraxis ist Sigmund Freud. Die Einnahme von Kokain beflügelte den Wiener Arzt zu besonderen sexuellen und intellektuellen Leistungen und gipfelte in seiner Theorie der Psychoanalyse. Und tatsächlich ist diese ja mit dem Koksrausch verwandt: Das Wühlen in der eigenen Vergangenheit, der Glaube, dass es die Lösung sei, Dinge auszusprechen, die Unermüdlichkeit. Ein dreistündiges Gespräch auf der Toilette eines Clubs, unterbrochen vom „Nachlegen“ in immer schnelleren Intervallen, fühlt sich kathartisch und heilsam an wie eine Blitzanalyse.

4. Drogen führen ins wahre Jenseits.

In den fünfziger und sechziger Jahren entdeckte man Halluzinogene wie LSD und Meskalin als Instrumente einer geistigen Erweckung und versuchte, deren Legalisierung zu erwirken, indem man sich auf das Recht der Religionsfreiheit berief. Die Menschen hätten schon immer berauschende Pflanzen zu sich genommen, allerdings in einem rituellen, schamanistischen Rahmen. Der müsse nur wiederhergestellt werden. Entsprechend unterschied man zwischen bewusstseinserweiternden guten Drogen und zudröhnenden schlechten Drogen. Gut, wer sich Zeit mit seinem Rausch ließ und ihn nutzte, um Erleuchtung und Frieden zu finden, schlecht, wer die Drogen schnell und gierig schlang wie Fastfood. Doch warum sollten ausgerechnet Substanzen, die die Wahrnehmng verzerren, als Instrumente der Erleuchtung taugen? Was man damals verkannte: Nicht der Rausch ist Begleiter oder Abklatsch der religiösen Erlösung, sondern umgekehrt: Erst lernten Menschen das momentane Glück der Drogen kennen, dann erst erschufen sie nach dessen Abbild das Jenseits. Die „künstlichen“ sind die wahren Paradiese.

5. Drogen sind natürlich.

Katzen gieren nach der Katzenminze, Schweinen stöbern nach Trüffeln. Der amerikanische Psychopharmakologe Ronald K. Siegel spricht vom Rauschbedürfnis als dem „vierten Trieb“ – neben dem Verlangen nach Nahrung, Schlaf und Sex. Menschen tun, wenn sie berauscht sind, amüsante, bemerkenswerte und auch erschreckende Dinge. Sie erfinden die Welt neu – oder plappern Unsinn. Sie erkennen sich selbst – oder ihren besten Freund nicht mehr. Sie haben phantastischen Sex – oder schlafen ein. Wenn Menschen Drogen nehmen, wollen sie gar nicht unbedingt glücklicher werden. Sie folgen dem Trieb, vorübergehend anders zu sein.

6. Drogen sind wie Urlaub.

Die meisten, die heute illegale Drogen nehmen, werden davon anders als von Nikotin nicht süchtig. Sie berauschen sich weder, um zu Gott zu finden noch um sich der Gesellschaft, den Eltern oder der eigenen Zukunft zu verweigern. Sie ballern sich gelegentlich weg, um abzuschalten oder endlich mal richtig aufzudrehen. Das Geld, mit dem sie am Freitagabend Drogen kaufen, haben sie sich in der vorangegangenen Woche hart verdient. Noch mehr als mit dem Paradies hat der Rausch für sie mit einer jüngeren zivilisatorischen Errungenschaft gemein: dem Urlaub. Ob als Extremsportabenteuer, als Entdeckungsreise oder bloßes Totschlagen von Zeit – Drogen versprechen einen wenige Stunden langen Abstecher in eine fremde, abwechslungsreiche Welt. Und alle Freunde kommen mit.

Im Englischen gibt es die Bezeichnung „recreational drugs, die sehr genau erfasst, worum es letztlich geht: um Erholung. Nicht unbedingt körperliche, aber geistige. Wer am Montag früh stark verkatert zur Arbeit antritt, den lässt das schlechte Gewissen die stumpfen Aufgaben wieder eifrig verrichten.

7. Drogen kann man nicht besiegen.

In einer globalisierten Welt bahnt sich jede Ware ihren Weg. Dass der Drogenkrieg nicht mehr gewonnen werden kann, ist lange klar. Dabei haben gerade die weltweit gegen Drogen zu Felde ziehenden USA am Beispiel vorgeführt, wie ein Staat den Rauschgiftkonsum steuern kann: durch beschränkte Verbote und hohe Besteuerung. Die Anzahl der Raucher ist daraufhin deutlich zurückgegangen, das öffentliche Leben ist weitgehend nikotinfrei. Solange die Drogen aber illegal bleiben, kann der Staat auch keine Steuern erheben und sie bleiben relativ billig. Ein ordentlicher Schuss Heroin kostet zehn Euro, ein Gramm Haschisch sogar nur fünf – das kann sich jeder leisten. Und auch wer sich Teureres gönnt, ist darum nicht unbedingt besser dran. Kokain wird wegen seines hohen Preises mit schädlichen Streckmitteln versetzt und macht genauso süchtig wie das zehnmal billigere Speed.

8. Drogen sind modern.

Die heutige Gesellschaft gestattet beim Streben nach Glück jedmögliche Manipulation am Selbst: Diäten, Schönheitsoperationen, Psychotherapien und die Gentechnik. Wie kann man aber, wenn Brustvergrößerungen erlaubt sind, den Handel mit Rauschgiften noch unter Strafe stellen? Beide verändern Körper und Seele, bergen Risiken und sind unbedingt modern.

9. Drogen gehört die Zukunft.

Menschen leben wie alle Tiere im Spannungsverhältnis von Glück und Schmerz, Euphorie und Depression. Das eine ist ohne das andere nicht denkbar. Nur durchlittener Schmerz lässt das Glück als solches erkennbar werden. Und auch: Ohne Kater kein Rausch. Doch das muß nicht sein. In seinem Manifest „Hedonistic Imperative“ verkündet der Brite David Pearce das Ende dessen, was er das „darwinistische Zeitalter“ nennt: Der Dualismus von positiven und negativen Empfindungen sei evolutionär notwendig gewesen, könne nun aber überwunden und die Menschheit mittels Drogen in einen Zustand permanenten Glücks versetzt werden. Pearce ist klar, dass weder die zahlreichen illegalen, geschweige denn die frei gehandelten Drogen die Präzision haben, die dafür nötig sind – die empathogene Wirkung von Ecstasy etwa werde mit Nervenschäden bezahlt. Aber er ist sicher: Wäre die Forschung erst mal frei, dann könne man die Menschheit auf ein völlig neues Niveau der Zufriedenheit heben.

10. Drogen müssen nicht sein.

Auch wenn die meisten, die Drogen nehmen, nicht süchtig werden, und in Deutschland ein Vielfaches an Menschen durch Verkehrsunfälle stirbt als durch den Konsum aller illegalen Drogen zusammen – Drogen sind immer noch gefährlich. Bei zu hoher Dosierung oder ungenügender körperlicher und geistiger Konstitution drohen bleibende Schäden und Tod. Dabei ist der Straßenverkehr für unsere Gesellschaft unverzichtbar, mit Drogen ist das anders. In den sechziger Jahren noch forderte der damalige Harvard-Dozent Timothy Leary, LSD möglichst schon dem Kleinkind zu verabreichen, dann würde es auch bald keine Homosexuellen mehr geben. Doch heute sind sich praktisch alle Befürworter des Drogenkonsums mit ihren Gegnern in einem Punkt einig: Niemand sollte zum Genuß von Drogen gezwungen werden. Ob vom Staat, dem Arzt oder dem besten Freund.