Der Doppelgänger

von 
Portrait
zuerst erschienen am 1. Juni 2013 in Die Welt/Literarische Welt, S. 3
Weltliteratur als Kaffeehausgespräch: Der ungarische Schriftsteller Petér Esterházy versetzt sich in den Kopf seines berühmten Landsmanns Dezső Kosztolányi. Eine Begegnung in Budapest

Sind wir nicht alle ein bisschen Kornel Esti? Auch wenn wir keine Ahnung haben, wer das eigentlich ist - nämlich der windigste Halunke, der innigste Liebende, der feigste und gleichzeitig mutigste Held der ungarischen Literatur. Erfunden hat ihn vor hundert Jahren ein lachender Melancholiker, hoch gewachsen, flackernder Blick: Dezső Kosztolányi. Ein geborener Schriftsteller, der mit jedem Satz der Welt bewies, dass sie aus Worten besteht. Der das Programm seiner Literatur schon im Vornamen trug; der Umlaut zwinkert seinem Leser spitzbübisch zu, wie das nur auf Ungarisch klappt.

Kosztolányi hat täglich im Kaffeehaus gesessen, geraucht, getrunken, Geschichten erzählt. Im New York in Budapest wog er Worte wie Zuckerstücke, legte sie auf den Federhalter wie auf einen Löffel und katapultierte sie in die Moderne. Eine Geschichte konnte zum Beispiel so beginnen: ,„Ich raste‘, erzählte Kornel Esti, ,an einem heißen Sommertag in der elektrischen Ostbahn heimwärts.‘“ Oder so: „Viertel vor zwei Uhr nachts im Kaffeehaus Torpédo, so lautete die Verabredung.“ Man merkt: Geschwindigkeit war das Elixier, das er begeistert herunterkippte. In der Straßenbahn an jenem heißen Sommertag verliebt sich Esti übrigens in ein Türkenmädchen. Weil das Türkische dem Ungarischen 330 Lehnwörter geschenkt hat, küsst er es 330 Mal. Moment, sagt der grammatisch penible Leser, wer wird hier geküsst, das Mädchen oder das Türkische? Beide, antworten Kosztolänyi und Esti wie aus einem Mund, denn sie sind eins. Worte sind Küsse und die Hebungen und Senkungen der Sprache erotische Rundungen.

Petér Esterházy, der bekannteste ungarische Schriftsteller der Gegenwart, sitzt im Kaffeehaus Central, nicht weit entfernt von Kosztolányis ehemaligem Stammlokal. „Wir hätten uns auch dort treffen können“, sagt er. „Aber es ist ein Schickimicki-Spanier eingezogen.“ Esterházys neuer Roman ist eine einzige Verbeugung vor Kosztolányi, ein Besuch beim bewunderten Ahn. Bereits der Titel ist die Visitenkarte, mit der sich der Hochstapler ausweist: „Esti“.

Warum macht ein Schriftsteller so etwas? Leiht sich eine Figur der Weltliteratur und schreibt sie weiter? War Esterházy, Jahrgang 1950, vielleicht auf der Suche nach einem Ersatzvater? Sein leiblicher bereitete ihm vor zehn Jahren erhebliche Kopfschmerzen. „Harmonia Caelestis“ war schon fertig, eine aufwendig recherchierte Familiengeschichte der Esterházys, eines der bedeutendsten Adelsgeschlechter Ungarns, dem auch heute noch viele Schlösser und Ländereien gehören. Das Buch war erschienen, als Esterházy entdeckte, dass sein Vater für den kommunistischen Geheimdienst spioniert hatte. Er sah sich gezwungen, eine „verbesserte Ausgabe“ nachzulegen.

Noch wenn er nachdenklich wird, lacht Esterházy seine Sätze: „Es war keine leichte Zeit damals“, sagt er in österreichisch gefärbtem, nicht gerade gebrochenem, nur etwas angeknackstem Deutsch. „Ich dachte, ich muss eine automatische Aufgabe haben, damit ich nicht in ein zu großes Loch falle. Dann bin ich doch hineingefallen und habe dort weitergeschrieben.“

Damals seien die ersten Esti-Geschichten entstanden, längere Erzählstücke, absurde Kurzgeschichten, die nun den Mittelteil des Romans bilden. „Es geschieht oft bei mir“, sagt Esterházy, „dass ich, wenn ich erst einmal mit etwas angefangen habe, alles durch diese Brille sehe. Es gibt diesen Witz: Ein Arzt zeigt seinem Patienten ein Dreieck, fragt ihn, ,was ist das?‘ Der Patient sagt: ,Eine Möse.“ Der Arzt zeigt ein Viereck. ,Und das?‘ ,Zwei Mösen.‘ Der Arzt: ,Wieso sehen sie immer Mösen?‘ ,Na, wenn Sie mir immer diesen Schweinskram zeigen!‘“ So habe Esterházy immer weiterschreiben müssen, und die 77 Vignetten, die jetzt am Anfang stehen, beruhten auf Notizen aus dieser Zeit, als er alles durch die Kornel-Esti-Brille sah.

Aber Kosztolányi sei nicht sein Vater, sagt Esterházy, er sehe ihn eher als großen Bruder. 1985 hielt er an der Universität einen Vortrag, in dem er ihn so nannte. Damals habe die Kosztolányi-Renaissance begonnen. „Es war so komisch“, sagt Esterházy, „in der Schule brachten sie uns bei, Kosztolányi sei ein L’art-pour-Part-Dichter gewesen. Wir wussten nicht, was das war; es musste jedenfalls etwas Schlimmes sein.“

Kosztolányi eilt in Deutschland der Ruf eines ungarischen Hugo von Hofmannsthal voraus, weil er eher konservativer Bürger gewesen sei als fiebriger Revolutionär. Und er habe, so Esterházy, die eigene Radikalität lange nicht bemerkt. „Aber er hat den ungarischen Satz verändert.“ Dieses Tempo, diese Keckheit, diese Kürze habe man vorher nicht gekannt.

In der Geschichte, die im Kaffeehaus Torpedo beginnt, erinnert sich Kornel Esti zum Beispiel an seine Studienzeit in Deutschland. Dessen Bewohner verehrt er auf eine Weise, die von Unverschämtheit nicht zu unterscheiden ist. Die Bildung der Deutschen sei atemberaubend, heißt es da. „Sie gehen vom Gymnasium an die Universität, aber auch da beenden sie ihre Studien nicht, und ich habe den Verdacht, dass sie sich danach allesamt am Universum einschreiben.“

Kosztolányis Universum ist eher flach als tief, eher witzig als vergrübelt und zu gleichen Teilen hell und dunkel. Anders als zum Beispiel beim in Deutschland ungleich berühmteren Sándor Márai kommen pathetische Wichtigtuereien, Ehrpusseligkeit, Standesdünkel, Eitelkeit darin allein als Antimaterie vor. Sein Schreiben ist stilisiert, macht sich aber die ganze Zeit über sich selbst lustig. Wie sehr er die Sprache liebt, zeigt sich an Sätzen wie diesem: „An den Tischen ließen sich Strohwitwer von elektrischen Windmaschinen kühlen und tranken Fruchtchampagner, in Damengesellschaft.“ Strohwitwer, Windmaschinen, Fruchtchampagner, Damengesellschaft! Und das Komma am Ende ist der Taktschlag des seligen Dirigenten.

Pythagoras glaubte, wenn sich die Sterne aneinander rieben, erfüllten sie das All mit Sphärenharmonie. Das stellte sich als falsch heraus. Bei Kosztolányi gilt es aber unbedingt; sein Schreiben ist Musik. Christina Viragh transponiert es seit Jahren in ein wunderbares Deutsch. Wenn dabei etwas verloren gehen sollte, fängt sie es anderswo wieder ein.

Kosztolányi zu lesen, sagt Esterházy, sei, wie Messi beim Fußballspielen zuzusehen. In seiner Jugend spielte Esterházy selbst ganz leidlich. Er erzählt, wie er einmal mit dem späteren Nationalspieler Lászlá Kuti auf dem Platz stand. „Ich habe ihn beobachtet, wie er in einer Situation plötzlich einen Schritt zurück machte. Dadurch entstand ein ganz neuer Raum. Ich habe ihm den Ball gegeben, und es war schon ein Tor. Einem guten Fußballspieler wie mir wäre es nie eingefallen zurückzutreten. Kuti war aber ein Weltklassespieler.“ Genau so, sagt Esterázy, spiele Kosztolányi auf dem Feld der Literatur.

In seinem Nachwort zum 2004 bei Rowohlt auf Deutsch erschienenen „Ein Held seiner Zeit“, einem Roman aus lauter Kornel-Esti-Geschichten, schreibt Esterházy: „Soviel menschenfreundlichen Zynismus, soviel verantwortungsvolle Nonchalance, vielsagende Oberflächlichkeit, großherzige Bosheit, seriösen Blödsinn - wo in der Weltliteratur findet man das noch?“ Und endet mit der Anverwandlung des Satzes, mit dem Flaubert sein Verhältnis zu Madame Bovary beschrieb: „Kornel Esti - c’est moi.“

Warum auch nicht? Kornel Esti ist ja selbst schon sein eigener Doppelgänger. Am Anfang, im ersten Kapitel des Romans - sein Untertitel raunt so behaglich wie irreführend altmodisch: „… in welchem der Autor den alleinigen Helden dieses Buchs, Kornel Esti, vorstellt und entlarvt“ - erinnert sich ein namenloser Ich-Erzähler an einen alten Freund. Er hat sich von ihm abgewandt, denn „ich fand seine krampfhafte Originalität ermüdend. Fortwährend verwickelte er mich in irgendwelche Skandale. Zum Beispiel riss er beim Spazieren, während wir nebeneinander hergingen, unvermittelt ein Küchenmesser aus der Innentasche seines Jacketts und begann es zur Verblüffung der Passanten am Randstein zu wetzen.“

Die beiden kennen sich von Kindesbeinen an. In ihrer Jugend hatte Kornel Esti keine Gelegenheit ausgelassen, seinen schüchternen Freund aufzuhetzen: „Zünde die Vorhänge an. Zünde das Haus an. Zünde die Welt an.“ Er traute sich nicht. Aber Esti auch nicht. War er womöglich ein Maulheld? Sie treffen sich wieder, als sie um die dreißig sind, in einer dunklen und stürmischen Nacht, wie bei Snoopy, dem Peanuts-Beagle und Möchtegern-Schriftsteller. Ihm gleich, beschließen sie, einen Roman zu schreiben. Beziehungsweise: Der Ich-Erzähler schreibt, Esti erlebt. „Ich bin die Treue in Person“, sagt der Erste. „Sei du an meiner Seite die Treulosigkeit, die Ausschweifung, die Verantwortungslosigkeit. Lass uns eine Firma gründen.“ Wie damals Faust und Mephisto - zwei Seelen wohnen, ach, in einer Brust.

Längst ahnt man, das Zwiegespräch einer zerrissenen Seele zu belauschen. 200 Seiten später heißt es über die Insassen eines Irrenhauses: „Die und undurchschaubar, so wie die echten Schriftsteller. Ihre Rede ist voller unverständlicher Anspielungen.“ In diesem Klub der Haare, Worte und die eigene Psyche spaltenden Sprachspieler ist auch Petér Esterházy Mitglied. „Keiner schreibt, was er ist, sondern was er gern wäre“, heißt es in der ersten Vignette seines Romans „Esti“. Ihre Überschrift, „Der einzige Held dieses Buches“, nimmt Kosztolänyis oben zitierten Untertitel auf, er singt die postmoderne Kopfstimme zum modernen Bariton. Der alte Witz ist weiterhin Programm. Esterházy fügt nämlich sofort hinzu: „Nichtsdestotrotz wäre es gut, noch eine Zeit lang zu leben.“

Im weiteren Verlauf inszeniert Esterházy ein Theaterstück wie von Artaud, ein alles verschlingendes Grand Guignol, ein Kasperletheater, in dem sich das Krokodil Kosztolányi selbst in den Schwanz beißt. Es treten auf: Esti, Esterházy und alle Gespenster, die ihm durch den Kopf spuken - sein Vater, überhaupt die Familie, aber zum Beispiel auch der Wilde Westen und jede Menge Wodka. Kornel Esti ist eine Maschine, meint Esterházy, in die alles hineinpasst, so eine Art literarischer Aktenvernichter. Mit dem Konfetti, das unten herausfällt, lässt sich herrlich schmeißen.

Das neunte Kapitel - „in welchem Pecser Ernst“ und sonst nichts, die Grammatik hat sich schon lange geschlagen gegeben - beginnt so: „Zwei Tote lagen schwarz im Januar Brasiliens, schon lange wollte ich einen Text so beginnen, und das ist ohne Zweifel ein knallenderer Auftakt, als dass ein Kornel Esti im Pecser Juli auf dem Bordstein saß“ - was bestimmt auch Christoph Ransmayr findet, der seinen Roman „Morbus Kitahara“ eben mit „Zwei Tote …“ usw. begann. Mal ist Esti eine üppig ausgestattete Blondine, mal trocknet er sich mit Wurst ab. Denn, so heißt es einmal: „Eine kulinarische Skizze, das möchte ich sein. Eine wohlschmeckende Verheißung.“ Esterházy variiert Kosztolányis Rezept, gießt ordentlich kommunistische Komik nach und pfeffert mit Calvino. Wo man umrührt, treibt ein Bonmot an die Oberfläche: „Im besten Fall dachte Esti an die Gegenwart, als wäre sie Vergangenheit.“

Im Central ist es dunkler geworden, schon aufgrund der vielen Espressi, wie Esti hinzufügen würde, und zwar egal welcher, Kosztolányis oder Esterházys. Was das Wichtigste sei, das er von Esti gelernt habe, frage ich. Esterházy schaut schelmisch. Er sagt, das sei eine Frage, über die er immerzu nachdenke: „Was bedeutet ein kurzer Satz?“