Der Kippenberger-Skandal

Kommentar
unveröffentlicht
Joachim Lottmann (56) über zwei Texte, die Kunstgeschichte schrieben – und ihn selbst vernichteten

In den 80er Jahren kannte ich den Maler Martin Kippenberger. Es war sein Jahrzehnt. Am Ende dieses Jahrzehnts, als meine beiden zeitgleichen Texte geschrieben wurden, befand er sich auf dem absoluten Höhe- und Scheitelpunkt seiner Karriere. Ich hatte ihn im Februar 1980 in Hamburg kennengelernt, wurde aber erst sechs Jahre später in Köln ein richtiger Freund. Ich, deutlich jünger, schrieb viele Texte für ihn, und er beschenkte mich großzügig mit Aufmerksamkeit, Bildern und anderen Werken, und Frauen. Geld gab es in Kippenbergers Freundeskreis keines. In meinem Roman Mai, Juni, Juli portraitierte ich den Superstar mit leichter Hand, also zutreffend, bewundernd und wie stets auch ein bisschen verletzend – was ihn mehr kränkte, als er zugab. Aber die gegenseitige Liebe blieb über Jahre groß.

Im Frühjahr 1989 dachten wir uns eine Medienaktion aus, eine typische Kippenberger-Idee, auch wenn sie ursprünglich von mir stammte. Ich wollte zwei Porträts über ihn schreiben, eine Hymne und einen Verriss, und beide Texte zur selben Zeit in verschiedenen Organen veröffentlichen. Der eine Text sollte so vernichtend sein wie der andere vergöttlichend. Letzterer sollte im Stern erscheinen, ersterer in einer der damals wichtigen Zeitgeist-Zeitschriften Tempo oder Wiener. Wie einem heute nicht schwerfällt zu begreifen, rissen sich die Zeitgeist-Zeitschriften um den Verriss, während die Hymne vom dünkelhaften Stern nur halbherzig akzeptiert wurde. Der Stern war schon damals keine Zeitschrift im engeren Sinn, sondern eine Art Generationen-Phänomen, nämlich das Organ der 70er-Jahre-Geprägten. Das ist sogar heute noch so. Letzte Woche las ich den Stern noch einmal beim Zahnarzt und quälte mich durch die Titelgeschichte Die schreckliche Pubertät. Da wurde so getan, als erlebten heutige Kinder dieselbe Pubertät wie die Kinder der 70er Jahre. Sie würden ihre „Alten“ hassen, Drogen nehmen, sexuell ausflippen, harten Rock hören und so weiter. Dass seit anderthalb Generationen unsere Kleinen von liebevollen Alleinerziehenden geschützt und problemfrei großgezogen werden, ignoriert der Stern so beharrlich wie absichtsvoll. Und natürlich konnte er damals mit einer Hymne auf einen Künstler, der Joseph Beuys und den ganzen Sozialismus-Unfug verhöhnte, nichts anfangen.

Und so kam es zur Katastrophe: Der Verriss erschien, die Hymne – unter einem Vorwand – nicht. Kippenberger, dessen Freundin gerade im Krankenhaus ein Kind entband, war zerknirscht. Aber es kam noch schlimmer. Der Verriss war von der Zeitschrift bombastisch aufgemacht worden, über neun Heftseiten, mit vielen Verfärb-Großfotos, die Starfotografen extra noch angefertigt hatten. Tempo und Wiener hatten damals eine heute nicht mehr nachvollziehbare Bedeutung und Verbreitung. Zumindest in der Kunst-, Medien- und Literatenszene las jeder den Text – auch Kippenbergers Freundin, und zwar wenige Tage nach der Geburt des gemeinsamen Kindes. Viele Zeitungen brachten Berichte über den ‚unerhörten Text‘, in dem Martin Kippenberger als historisch einmalige Verkörperung von Sexismus, Größenwahn und Genie verleumdet wurde, mit üppigen, nie versiegenden, intimen Details und persönlichen Anekdoten. Seine Freundin war außer sich.

Sie zwang Kippenberger, mich aus der Stadt und der Szene zu verbannen. Alle meine Freunde trennten sich von mir. Auch meine damalige Freundin Caroline von Nathusius biss in den sauren Apfel. Sie war beruflich darauf angewiesen, in Köln weiter zu verkehren. Im Kölner Klüngel – mein Verlag gehörte dazu – gingen für mich alle Türen zu.

Ich konnte die nächsten zehn Jahre keine Bücher mehr veröffentlichen. Erst nach Kippenbergers Tod lockerte sich nach und nach die ‚Kippi-Fatwa‘, also das stillschweigende Lottmann-Verbot.

Kurioserweise war ausgerechnet der Hymnen-Text die ganze Zeit verschollen. Er war ja nie erschienen, und außer Kippenberger, mir und ein paar Stern-Redakteuren wusste niemand, dass es ihn überhaupt gab. Keine Kopie, keine digitale Datei existierte, in der Zeit vor Erfindung des Internets. Erst in dieser Woche, am 9. September 2016, kam das Originalmanuskript bei einer Aufräumaktion zum Vorschein, über 27 Jahre nach der Entstehung. Den Verriss-Text dagegen hat es immer im öffentlichen Bewusstsein und in den Archiven gegeben. Waahr wird ihn in zwei Wochen ebenfalls an dieser Stelle ins Netz stellen.

Mir geht es inzwischen wieder gut. Nach der Aufhebung der ‚Kippi-Fatwa‘ Anfang des neuen Jahrhunderts habe ich zehn Bücher veröffentlicht, teilweise auf Manuskripten der Fatwa-Zeit beruhend, teilweise gänzlich neue, wie die Bestseller Die Jugend von heute (2004) und Endlich Kokain (2014). Auch Caroline von Nathusius kehrte zu mir zurück (2003). Inzwischen lebe ich aber sehr glücklich in zweiter Ehe mit einer Österreicherin zusammen, einem echten Wiener Mädel, in der schönen Stadt an der Donau, im Zweiten Bezirk.