Der Mauermann

Reportage
zuerst erschienen im Oktober 2000 in Max, S. 134 - 140
Fassung des Autors
Er plante sie und war für ihren Abriss zuständig: Hagen Koch und sein Leben mit der Mauer.

Ohne viel mit ihm zu sprechen, stiefelt Stasi-Mann Hagen Koch im Sommer 1961 hinter Erich Honecker her. Trägt millimetergenau und „in tiefster kommunistischer Überzeugung“ in die Karten ein, wo in den nächsten Wochen die Mauer quer durch Berlin und um West-Berlin herum gezogen wird. Er ist Kartograf und macht seine Arbeit. „Das Wetter“, erinnert sich Hagen Koch, „war gut“. Honecker habe er nie von sich aus angesprochen. „Da funktioniert man auch ein bißchen, man kannte ja die Hierarchie. Ich war nur der Mann für die Karten.“ Als solcher wußte er natürlich, worum es ging. Daß der Erste Sekretär des Zentralkomitees der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, Walter Ulbricht, im Juni 1961 noch gesagt hatte: „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, schien ihm eine verständliche Notlüge. „Ich war ein richtig strammer Kommunist.2

Heute ist Koch, 60, „überzeugter Kapitalist“. Auf dem Tisch, der ein Drittel seines kleinen, überfüllten Arbeitszimmers in Anspruch nimmt, liegen dutzende Ordner. Denn er will jeden Satz, den er heraussprudelt, belegen. Übergenau, krankhaft korrekt ist der hektische Mann, dessen Leben die Mauer war. Den sie heute noch gut füttert.

Seine dünnen Haare sind grau, er hat hohe Geheimratsecken, wache Augen, ständig in Bewegung hinter seiner Brille, trägt eine Strickjacke und gestikuliert übertrieben wild. Wenn er keine Blätter oder Orden oder Fotos auf den Tisch legt, zeigen seine Hände die Mauer, immer, immer wieder, parallel, mit zehn Zentimeter Abstand. „Es war ja nicht eine Mauer, es waren zwei.“ Dazwischen der Todesstreifen. „Für den Westen war die Mauer einfach nur eine Mauer.“

Er war zur falschen Zeit am falschen Ort. Und das rentiert sich jetzt. „Wer sich auskennt, schätzt meine Arbeit. Am Montag kommt beispielsweise das italienische Fernsehen.“ Ganz Profi sagt er: „Wenn die Japaner mich filmen,
muß ich unheimlich langsam sprechen, damit sie mich synchronisieren können.“ Gerade arbeitet er an einer CD-Rom mit Mauerfotos, führt die Bilder auf seinem Computer vor. 1084 Aufnahmen aus dem Stasi-Archiv hat er, lauter Ostansichten der Mauer, gemacht von den Grenztruppen. „Im Westen wurde die Mauer ja fotografiert wie verrückt. Aber Bilder aus dem Osten sind Raritäten.“ Einige zeigen den „cleanen Teil der Mauer, der wurde bei Staatsvisiten den DDR Besuchern vorgeführt, sauber, nett“.  Er klickt neue Bilder auf den Schirm: Todesstreifen, Ostansicht. Dann „provokative Handlungen des Gegners“, Frauen, die kommunistische Grenzwärter nervös machen, indem sie ihren Pullover heben und ihre Brüste entgegenrecken. Amerikanische MPs, die das Centerfold des „Playboys“ den Kommunisten vors Teleobjektiv halten. Als die Bürger der DDR die Stasi-Archive stürmten und ihre Akten suchten, „behielt ich einen kühlen Kopf“. Hagen Koch suchte Material zur Mauer und brachte es Kistenweise nach Hause, Kosten-Nutzenrechnungen für neue Zäune, die Vorgabe steht oben: „Jede Maßnahme, für die der Aufwand geringer ist als 2,1 Mio Mark/Jahr und die zu einer Festnahme zusätzlich führt, ist prinzipiell effektiv.“

Skizzen und Pläne von damals hat er in Massen. „Vertrauliche Verschlusssachen“, die zeigen, daß trotz drohender Pleite die Herrscher des Arbeiter- und Bauernstaats die Grenze teuer aufrüsten wollten. Modernste Elektronik, rechnergestützte Sensortechnik, bestmögliche Nachtsichtgeräte sollten die Mauer ganz dicht machen. Für die Finanzierung der High-Tech-Grenze 2000 waren vom eigentlich bankrotten Staat für 1989 mehr als 1,2 Milliarden Mark bereitgestellt.

„Ohne mich geht in Medien und Wissenschaft nichts zum Thema Mauer“, sagt Hagen Koch, lächelt stolz, springt auf und ruft plötzlich laut: „Der Koch, der klaut wie ein Rabe.“ Er holt aus einem Schrank ein Banner aus Seide. Zwei auf eineinhalb Meter, die eine Seite blau, „Beste FDJ-Einheit, Jugendoffensive Staatsgrenze, Berlin 1962“.  Er dreht den Stoff um, in die rote Seite ist ein Ulbricht-Porträt eingestickt. Darunter steht: „Mit Walter Ulbricht siegen“. Ab in den Schrank mit dem Relikt. „Amis haben 50.000 Dollar geboten, aber ich geb es nicht her.“

Der Mann hat keine Berührungsängste, wenn das Honorar stimmt. Er hält gerne Vorträge bei der Bundeswehr oder beim Grenzschutz. Das war mal der Feind, „aber der zahlt richtig gut“. Koch sprach auch oft und lange mit verschiedenen in- und ausländischen Geheimdiensten, lieferte Insider-Wissen. Bei den Mauerschützenprozessen arbeitete er den Nebenklägern zu, für „Fachberatungshonorar“. In seinem Prospekt wirbt er für den Service „Bereitstellung von Materialien für Veröffentlichungen und Ausstellungen“.

Seine Lebensgeschichte, eine Goldgrube. Deshalb stehen drei Fax-Geräte im Büro, „die laufen ständig, Anfragen zu Vorträgen und Führungen. Was glauben Sie, was hier los ist?“ Der Ordner mit den Terminen für das kommende Jahr ist schon prallvoll.

Bis zu 500 Mark zahlen für sein Wissen und den gekonnt routinierten Vortrag japanische Touristen, das Bundesamt für Zivildienst, die Stiftungen der Parteien, Gewerkschaften, Bildungseinrichtungen aller Art. Hagen Koch ist im
Showbusiness, jeden Tag meist zwei Auftritte, immer Zeitnot. Er hat viel zu sagen, ohne Pause, ohne Ende liefert er exakte Daten aus seinem Leben und der damit verknüpften Zeit. „Meine Biografie bündelt die Geschichte.“ Er rennt durch sein „Berliner Mauer Archiv“, so nennt er seine 100 Quadratmeter-, Vierzimmer-Wohnung in Lichtenberg und holt die nächsten Dokumente, flüstert beschwörend „Bitte, nicht mit dem Wissen von heute urteilen“. 

Sein Vortrag ist gestählt durch hunderte von desinteressierten Schulklassen, denen er ihn bot und die er damit – er glaubt das wirklich - umbog. „Am Ende sind die aber alle dabei, die wollen keine Pause machen.“ Er schildert mit Eifer seine Kindheit, Jugend, „den psychologischen Hintergrund“, der zeigen soll, dass es für einen wie ihn nichts anderes geben konnte.  „Ich hatte es nicht anders gelernt“, sagt er oder „Wenn der das so sagt, dann ist das so, da war nichts zu machen“. Er zieht seine Grundschulzeugnisse hervor, um zu zeigen, was für ein netter Junge er war. In Betragen und in den politischen Fächern Note Eins. „Ich bin von klein auf gelenkt, geleitet und beeinflusst worden.“ Alte Fotos seines Vaters in Wehrmachtsuniform. „Berufssoldat, kein Nazi, wir lebten in Dessau in der Kaserne. Am Kriegsende kamen die Amis, ein Soldat nahm den Parade-Säbel meines Vaters von der Wand und hat gelacht. Da sieht er das Foto meines Vaters, in Uniform. Er sticht ihm die Augen aus. Ich gehe dazwischen, werde verprügelt. Meine erste Kindheitserinnerung.“

Der Mann, der nicht spricht, sondern verkündet und pro Stunde zwei- oder dreimal sagt „Glauben Sie mir einfach!“, hat sich warmgeredet. Er erzählt, wie Mielke ihn, als er die Kindheitserinnerung als Siebzehnjähriger Kameraden vorträgt, hört und dafür sorgt, dass er in die SED und zum Wachregiment kommt. „Schwursoldat an der Fahne, große Ehre.“ Wie er mit Ulbricht Volleyball spielt, obwohl „Ich Volleyball schon immer gehasst habe.” Ulbricht hat Volleyball geliebt und der junge Gefreite, der da an ihm und seinen Personenschützern vorbeiläuft, ist groß. „Also hat er mich persönlich aufgefordert mitzumachen. Da hatte ich natürlich keine andere Wahl, Ulbricht war ja  krankhaft scharf auf Volleyballspielen.“ Hagen Koch ist „nun mal reingewachsen in die DDR“. Zitiert: „Die Erziehung ist die Einheit von Überzeugung und Zwang.“ Er hat sich anvertraut, hat sich überzeugen und zwingen lassen.

Irgendwann stellt er aber fest, er ist bei den Verlierern. Das ist sein Ansporn heute, jetzt verdient er ordentlich und betont das. Hängt aber jedes Mal dran, „meine Motivation ist nicht nur Geld, ich will auch, dass das, was meine Kinder und ich erlebt haben, die nächsten Generationen nicht erleben müssen.“ Einer seiner Söhne war viereinhalb Jahre in DDR-Gefängnissen. „Hatte rumrebelliert“.

Auch Hagen Koch, anfangs der aufstrebende, einer Karriere nie abgeneigte Kämpfer für den Arbeiter- und Bauernstaat, bekam einige Jahre nach dem Mauerbau Probleme. Die Liebe war Schuld. Elke heiratete er, obwohl sein Kommandant ihn warnte. „Politisch kein sauberes Umfeld, zu viele Westbesuche.“ Hagen Kochs Trick: Er heiratete in Uniform, das war damals was Besonderes, kam oben gut an und sorgte erstmal für Ruhe. Trotzdem ging es von da an bergab. Heute versteckt sich Elke in einem kleinen Zimmer der Wohnung, die gleichzeitig Mauer-Archiv ist. Sie zeigt sich nie, ist nicht zu sprechen und verbreitet eine Aura wie Norman Bates Mutter in Hitchcocks „Psycho“. Dass sie mit allem nichts mehr zu tun haben will, liegt an dem, was ihr Mann gerne als besonders flotte Anekdote zelebriert: Ende der 60er Jahre, er hat gerade in die Karten den Atomkrieg eingetragen, „wenn die Bombe hierhin fällt, dann ist so ein Radius zerstört, wenn sie da hinfällt, dann so einer“, Ende der 60er drängen die Vorgesetzten. 
“Ich war nicht mehr vertrauenswürdig. Sie suchten einen Grund, mich, den Geheimnisträger, loszuwerden. Weil ich für einen Kollegen Hochzeitseinladungen fotokopiert hatte, kam ich in den Knast. Wegen Verbreitung von Pornografie, reiner Vorwand.“ Er, der alles belegen kann, zieht einen Bogen Papier aus dem Ordner, ein völlig langweiliges Stück Papier mit einer putzigen Zeichnung ohne jeden Hauch von Sex. „Ich saß im Knast und die setzten meine Frau unter Druck.“ Elke lässt sich scheiden. Auch Hagen Koch sagt zu allem ja, unterschreibt alles, was ihm vorgelegt wird und kommt sofort aus dem Gefängnis, studiert Kunstwissenschaft. So ist  er erstmal aus der Gefahrenzone. Ein Jahr später heiraten sie wieder, „dazwischen hatten wir miteinander eine Zeit, da war die Mauer ein Witz dagegen“. Hagen Koch geht „in die innere Emigration“. Bleibt aber beim Wachregiment, wird Kulturoffizier. Sie bekommen einen zweiten Sohn. „Koch hat abgeschlossen mit dem Arbeiter- und Bauernstaat. Vor allem als Koch nicht mal zur Beerdigung seines Vaters durfte. Wegen Westbesuchern, sagte der Chef.“ Koch nennt sich oft Koch, weil das so zackig klingt.

Schildert stolz, wie er sich durchschlängelt und Absetzbewegungen macht: „Ich habe jahrelang darauf hingearbeitet. In meiner Akte steht beispielsweise, Genosse Koch ist schwatzhaft, steht gern im Mittelpunkt, intrigenhaftes Verhalten. Ich habe mal einen Westjournalisten getroffen, also wurde gegen mich wegen Landesverrats ermittelt.“ Alles geplant von diesem cleveren Schweyk. Sein Ziel sei gewesen, sich problemlos aus dem Stasi-Dienst verabschieden zu können. Habe ja auch geklappt. „Ende der siebziger Jahre wäre ich fast noch mal umgekippt.“ Schuld hat, ganz klar, nicht er. Schuld haben andere. „All die Westpolitiker kamen zu Honecker. Und ich war mit dem Wachregiment dabei, wenn die Sekt schlürften mit ihm. Strauß, Wehner, Brandt. Der Honecker, der saß ja in Helsinki mit dem Carter und dem Schmidt rum. Ich dachte, wenn die den alle mögen, liege ich vielleicht falsch.“

Er kippt dennoch in die andere Richtung, verlässt die Stasi, nicht aber die SED, gerade, nachdem er, der Problemfall, endlich die 100-Quadratmeterwohnung an der damaligen Straße der Befreiung zugewiesen bekommen hatte. Da sieht er nichts Seltsames: “Nein, ich habe lange gewartet, dann kam die Wohnung, ganz einfach.” Er arbeitet im Zentrum für Kunstausstellungen in Ost-Berlin, ist seit 1988 auch Parteisekretär. Nein, nein, „urteilen Sie nicht so von oben herab“. Nicht aus Überzeugung Parteisekretär, betont und wiederholt er, sondern weil das Vorteile bringt. Damals sei er auf der Kippe gestanden. „Wurde ins Zentralkomitee geladen, Kurstraße, fünfte Etage, zu Wolfgang Hager, Chefideologe, persönliches Gespräch. Die Botschaft war: Junge, wenn du jetzt nicht funktionierst, gibt es kein Pardon mehr.“

Hagen Koch funktioniert ein Jahr, dann fällt die Mauer und er bringt kistenweise Material heim. „Dann bekomme ich Gelbsucht, sechs Monate Krankenhaus. Im Juli 90 verlasse ich es. Mein jüngerer Sohn fährt mich an meinen Arbeitsplatz. Da sitzt einer an meinem Schreibtisch, wird leichenblass und sagt, in den Akten stehe, ich sei an Gelbsucht gestorben. Ein Stasimann, höheres Tier. Hat sich abseilen wollen, saß auf meinem Platz, um unterzutauchen.“

Koch wittert die Chance. „Wir machen einen Deal. Ich bekomme kurz darauf den Job im Institut für Denkmalpflege.“ Ein guter Job, direkt an der Quelle. „Ich kam da rein in die geheimen Archive.“ Nein, überprüfen könne man das heute nicht mehr, aber er habe ja soviel Material, das sei der Beleg. Übergangs-Regierungschef Hans Modrow macht Hagen Koch, den Fachmann vom Institut für Denkmalpflege, zum Beauftragten für den Mauerabriss, das kann man überprüfen, setzt ihn so direkt an die nächste Quelle. Und Lothar de Maizière, der erste und einzige Nicht-Kommunist als ostdeutscher Regierungschef, bestätigt ihn. Koch deutet mit beiden Zeigefingern auf seine Brust: „Ende der Mauer und Anfang der Mauer, alles in einer Person.“

Er sei ein Kind seiner Zeit, ein Opfer der Umstände, sieht sich als Märtyrer. Ihn könne keiner, der im Westen aufwuchs, richtig verstehen. Und die aus dem Osten, die seien heute alle gegen ihn. „Die Opfer und die Täter. Für die einen die Stasi-Sau, für die anderen der Verräter.“ Auf seiner Stirn treten Adern hervor. Er tobt: „Ich war an allem Schuld. Ich wurde bedroht und beschimpft. Ich! Das ist doch verrückt!“

Während er redet, blättert er in einem Ordner auf dem Tisch. Da, der Einsatzbefehl 002/61. Er schlägt den Ordner auf, wirft ihn, daß es kracht, auf den Tisch, sagt triumphierend: „Hier, der Mauerbaubefehl, Einsatzbefehl 002/61. Noch was, ich war es, der am Checkpoint Charlie den berühmten, weißen Strich über die Straße zog, 1961, Befehl von Honecker.“ Das war am 15. August, der Tag, an dem Conrad Schumann als erster DDR-Grenzposten flieht. Schumann springt mit einem Satz über eine Stacheldrahtrolle in den Westen, wird dabei fotografiert. Das Bild ist ein Klassiker. „Ja, ja“, sagt Hagen Koch, „der Schumann. Netter Kerl. Wir haben nach dem Mauerfall viele Vorträge gemeinsam gehalten, Schema, er flieht, ich bleibe, wir zeigen jetzt mal die Mauer und das Leben von zwei Seiten. Sehr erfolgreich.“ Schumann starb vor kurzem. „Schade, unsere Vorträge waren sehr erfolgreich“, sagt Hagen Koch, der Kapitalist.