Der Russe, der raus aus Russland will

Portrait
zuerst erschienen am 17. August 2008 in Frankfurter Allgemeine Zeitung, S. 30
Eigentlich wollten wir über Design und Mode reden. Es ist aber schon schwer genug, mit Andrej Arschawin überhaupt zu reden. Eine Reise ans Ende von Sankt Petersburg

Die Karriere des russischen Fußballstars Andrej Arschawin steht so still wie der Weiher hinter dem Trainingszentrum seines Klubs FC Zenit St. Petersburg. Enten zeigen Tauchkunststücke, Angler halten schläfrig ihre Ruten, reglos schweben die Seeanemonen, und von der Dorfjugend, die auf der anderen Seite ausgelassen Picknick macht, hört man keinen Laut. Auf dieser Seite des Sees geht das Training in einem Hagelschauer turmhoch geschlagener Bälle zu Ende. Reporter scharen sich um Dick Advocaat, den Trainer, und dessen Neuerwerbung Sébastien Puygrenier. Advocaat ist schlechter Stimmung, Zenit hat eine Pechsträhne, die Spieler sind demotiviert, es gibt zu viele gelbe Karten. Auch die anwesende Presse ist nicht glücklich, niemand spricht Französisch und Puygrenier nichts als das. Arschawin ist so abwesend, als ob er nur Kisuaheli spräche; er steckt mitten in einer Zerreißprobe, die er selbst inzwischen eine Seifenoper und die der Sportjournalismus die Arschawin-Saga nennt.

Der Stern des gebürtigen Petersburgers begann unter westlichem Einfluss zu steigen: „Wir waren glücklich, als der Klub ausländische Trainer holte. Sie haben unsere Mentalität verändert und uns erlaubt, so zu spielen, wie wir es wollten.“ Das europäische Individualitätsprinzip sagte Arschawin zu. Schon als Kind war er ein Trotzkopf, der einmal von der Schule flog und aus Protest das Training in der Fußballschule hinwarf. Und als vier Ärzte ihn, den Zahnkranken, in der Poliklinik packten, damit ein fünfter mit der Zange kommen konnte, hat der künftige Stürmer erfolgreich die Flucht ergriffen und bis zwanzig keine Zahnarztpraxis mehr besucht. Das einzige Kind geschiedener Eltern lernte früh, sich zu wehren, Entscheidungen zu treffen und Verantwortung zu übernehmen. Entsprechend kreativ navigiert Arschawin heute auf dem Spielfeld: „Ich folge keinen spielerischen Dogmen. Man erlaubt mir, mich frei zu bewegen und zu improvisieren, je nachdem, wie ich das Spiel lese. Der Trainer möchte, dass ich mehr Möglichkeiten für den Angriff habe.“

Die Rechnung ging auf, bis das Starprinzip mit dem russischen Kollektivitätsprinzip kollidierte. Nur noch selten sieht man die Nummer zehn, vom Ballbesitz magnetisiert, raketenschnell nach vorne stürmen, drei, vier Haken durch die Verteidigung schlagen und mit kühnen Tangentialmanövern Tore machen. Die Leidenschaft fehlt, klagt sein Trainer. Zwar weiß man in Russland inzwischen, was kollektive Passionen für das vielbeschworene Nationalgefühl bewirken, doch man hat noch nicht begriffen, dass man das gewisse Etwas der Stars, die solche Gefühle wecken, nicht mit barer Münze kaufen kann.

Der FC Zenit gehört Russlands mächtigem, regierungsnahem Unternehmen Gasprom, das reich genug ist, auf lukrative Transfers zu verzichten, wenn nationales Prestige involviert ist. „Arschawin ist der beste Spieler, den Russland je hatte“, sagt Maxim vom Petersburger „Sport-Express“, als er mich nach dem geplatzten Interview im Auto mit zur Metro nimmt. Zenit versucht ihn mit allen Mitteln zu halten. Arschawins Agent Dennis Lachter bezeichnete das Klubverhalten jüngst unverblümt als Diktatur: „Dem russischen Sport-Establishment bedeuten die Wünsche eines Spielers absolut gar nichts. Er ist ein Sklave.“ Nun haben die Tottenham Hotspurs ein revidiertes Angebot vorgelegt, und Lachter weilt seit Tagen in Moskau, um es durchzuboxen. „Sie bieten 23 Millionen Euro“, sagte Arschawin an diesem Freitag am Telefon, „aber das hat Zenit noch nicht akzeptiert.“ Für die Entwicklung des 27-Jährigen und letztlich auch für seinen Beitrag zur Nationalmannschaft wäre ein baldiger Wechsel in eine Avantgarde-Liga von größtem Wert. Deshalb macht er Dienst nach Vorschrift, hat jüngst sogar ein Spiel bestreikt und senkt mit seiner stillen Verzweiflung die Moral der Truppe. Plötzlich ist alles wieder wie im Kindergarten, als er auf seine arbeitende Mutter warten musste, die ihn erst zwei Stunden nach allen anderen Müttern abholen kam: „Ich war immer traurig“, verriet er einmal, und jetzt holt die Einsamkeit ihn wieder ein: „Es gibt europäisches Interesse an vielen russischen Spielern, aber der einzige, der noch darum kämpft, das Land zu verlassen, bin ich.“

Beim ersten Telefonat klingt Arschawins Stimme hell und glasklar. „Dann bin ich wahrscheinlich im Ausland“, sagt er, als ich meinen Besuch ankündige. Beim nächsten Gespräch wirkt er niedergeschlagen und gehetzt, vom Ausland ist nicht mehr die Rede. Nach dem Thriller der Visumsbeschaffung steigt die Spannung vor Ort weiter, denn das Zenit-Trainingszentrum liegt in einem kartographisch schlecht markierten Gelände weit vor der Stadt. Ich vertraue mich einem Petersburger Taxifahrer an und lerne, dass Autos in der alten Zarenfestung so etwas wie Trojanische Pferde sind. Das erklärt die Vielzahl der SUVs und den mobilen Anarchismus: im Auto befindet sich der Russe in der inneren Emigration.

Grimmig entschlossen steuert mein von Kopf bis Fuß in Denim geschweißter Fahrer sein Kamikaze-Taxi durch Datschen, schroffe Wohnsiedlungen und Industriegebiete, unterbrochen von quietschenden Stopps und stakkatoartigen Wortwechseln mit Rentnergestalten am Wegesrand. Doch der ungefederte Parforceritt über Schlaglochpisten und Autobahnkreuze ist vergebens. „Wir machen es morgen“, textet Arschawin, schon auf dem Heimweg, als ich noch auf den Entenweiher starre. Die schnelle Metro bringt mich knapp vor Büroschluss ins Petersburger Zenit-Quartier, wo man mich für das Samstagsspiel gegen Moskau akkreditiert: Meine letzte Chance; denn das Visum läuft am Sonntag ab. Ich frage meinen Fußballbruder, ob die Hoffnung auf ein Interview nach dem Spiel realistisch ist? Wenn sie gewinnen, ja, antwortet er sibyllinisch, sonst besser vor dem Spiel. Bleib dran, simst mein Bruder.

Ich habe Glück, Zenits Pechsträhne macht eine Pause, das Spiel geht 2:1 für Petersburg aus, auch ohne Arschawin-Tore. Von der Fankurve, wo niemand sich je hinsetzt, wogen sturmwindartige Choräle, die Stimmung im Petrowskij-Stadion ist grandios. „Es ist besonders schön, zu spielen“, sagt Arschawin, „wenn du den Atem des Stadions spürst“. Verblüffend schmal, blass, in sich gekehrt und mit kurz geschnittenen Haaren erscheint er kurz nach dem Spiel in der Mixed Zone. „Kommen Sie mit“, sagt er und stellt mir den Übersetzer vor: „Bis zum Trainingslager sind es zwanzig Minuten. Reicht das? Ich spreche schnell.“ Die Nummer zehn sitzt vorne beim Fahrer, der sich so innig dem Gespräch zubeugt, dass um die Sicherheit zu fürchten ist. Arschawin wirkt erschöpft, unmöglich zu übersehen, was seine widerspenstige Position ihm physisch und seelisch abverlangt. Auf die ersten Fragen reagiert er einsilbig, lebhaft wird seine Stimme erst, als es um Artjom, seinen dreijährigen Sohn, geht, den er sich zur Uefa-Cup-Preisverleihung auf die Schultern setzte. Wurde Andrej von seinem inzwischen verstorbenen Vater genauso geliebt? Sehr, ist die Antwort. Sergej Arschawin war selbst ein begabter Fußballer, der seinen Sohn mit sieben Jahren in der Zenit-Schmiede Smena unterbrachte. Ihm will Andrej nicht zuletzt das souveräne Raumgefühl verdanken, mit dem er komplexe Bewegungsabläufe intuitiv synthetisiert: „Der größte Anteil steckt in den Genen: Die Leute, die ihn auf dem Feld gesehen haben, sagen, dass er besser gespielt hat als ich. Ich bin eine Kopie meines Vaters.“

Hat Andrejs an die Lippen gelegter Finger beim Torjubellauf vielleicht mit den Hoffnungen seines Vaters zu tun? „Ich verrate nie, was es genau bedeutet, aber ich kann sagen, dass ich es zum ersten Mal beim Uefa-Cup-Spiel in Griechenland so machte. Dann habe ich beschlossen, dabei zu bleiben.“ Und seine Unsichtbarkeit im EM-Halbfinale: Konstitutionsschwäche, wie seine Kritiker meinen? „Nein, das spanische Nationalteam war stärker und hatte alle Elemente fest in der Hand.“ Wie gewinnt man Spiele, mit den Füßen oder mit dem Kopf? „Kommt drauf an, was einer zu bieten hat. Ich muss meinen Kopf gebrauchen, weil ich physisch nicht so viel her mache“, sagt der 62 Kilo schwere und 1,72 Zentimeter große Stürmer.

Von dem überschäumenden Glück, das sich vor laufenden Fernsehkameras so oft in Arschawins Gesicht gespiegelt hat, ist an diesem Samstagabend nichts zu spüren. Was ist in ihm vorgegangen, als er nach dem Viertelfinalsieg über die Niederlande hemmungslos heulte? „Sonst weine ich nie, aber ich hatte das Gefühl, dass jeder in Russland in diesen Augenblicken dasselbe empfindet, von Moskau bis nach Wladiwostok, bei einem Zeitunterschied von neun Stunden. Jeder war stolz auf sein Land. Und ich fühlte dasselbe.“ Vor einem Jahr kandidierte Arschawin in Putins Partei „Einiges Russland“ für den Petersburger Stadtrat, ohne sein Mandat dann auszuüben. Vor den Parlamentswahlen war sein Foto an Häuserwänden und in Illustrierten zu sehen. Hat der inoffizielle Zar der russischen Seele sein Lächeln verkauft? Arschawins Antwort ist nicht ohne Widersprüche: „Ich habe kein Geld dafür bekommen, also kann ich es nicht verkauft haben. Unsere Besitzer Gasprom gehören zu einer Regierungsstruktur. Unser Gouverneur hat mich gebeten, sie zu unterstützen. Außerdem ist mein politischer Standpunkt der gleiche wie ihrer. Keiner hat mich zu etwas gezwungen.“

Trotzdem spricht der geradlinige Petersburger, der seine Mutter vor allem dafür lobt, dass sie ihn zur Ehrlichkeit erzogen hat, mit zwei Stimmen, einer willensstarken und einer fatalistischen. Als es um die Dauer seiner Karriere geht, sagt er bitter, dass er prinzipiell lieber früh aufhören würde, um hinzuzusetzen: „Aber ich werde versuchen, bis zum Ende durchzuhalten, möglicherweise länger.“ Später wäre er aus Liebe zum Fußball gern Präsident eines Klubs, „denn ich interessiere mich mehr fürs Coaching als für Funktionen“. Ansonsten möchte er Geschäfte führen, die ihm Geld einbringen.

Mode?, frage ich den diplomierten Textildesigner, denn eigentlich wollte ich mit dem elegantesten Jongleur der russischen Nationalelf über Stil und Mode reden. „Fashion!“, hat er schon am Telefon entgeistert gerufen, denn ins Designfach ist er eher zufällig gerutscht. Mit Einsen in Chemie und Mathe bewarb er sich erfolgreich an der chemisch-technischen Abteilung des Petersburger Instituts für Technologie und Design, um der Sportuniversität zu entgehen, denn „selbst wenn man dort überhaupt nichts tat, wurde man noch promoviert“. Weil man ihm seine Trainingsabwesenheiten aber als Bummelei auslegte, wurde er in die Textillehre versetzt, zu zwanzig Mädchen. Seine Schüchternheit legte er selbst unter diesen verschärften Bedingungen nicht ab, auch wenn er die schöne Julia, die ihm an einer Ecke des Newskijprospekts vor fünf Jahren über den Weg lief, mit gewohnter Zielstrebigkeit geheiratet hat.

Wir sind inzwischen im Trainingslager angekommen, und Arschawin lädt dazu ein, das Gespräch an einem Picknicktisch in der Nähe des Weihers fortzuführen. Spürt er noch etwas vom russischen Pioniergeist und Idealismus? „Ich habe als Kind keine Weltraumfahrerträume gehegt. Meine Mentalität ist nicht russisch, ich sehe nicht russisch aus. Ich glaube, ich bin kein typischer Russe.“ Die Bemerkung spricht Bände. Der Ex-Kandidat des „Einigen Russlands“ ist desillusioniert. Was bedeutet dem bestbezahlten Spieler der russischen Liga das Geld? „Es gibt mir Freiheit. Im Prinzip ist das alles.“ Empfindet er seine derzeitige Lage als Gefangenschaft? „So scharf möchte ich das nicht formulieren“, sagt er gequält.

Sein Tagesablauf ist rigide, zur Zeit mit bis zu zwei Spielen die Woche und einer vier Monate alten Tochter, um die er sich nach dem Training kümmert. Das ersehnte Ausland kennt er fast nur aus der Mannschaftsbusperspektive: „Letzten Winter habe ich den FC Barcelona spielen sehen und mir die Stadt angeguckt. Ich war drei Tage da und bin mit Freunden herumgelaufen. Einfach dort zu sein, war schon ein Vergnügen.“

Naiv und bedingungslos ist seine Neugier auf den Westen nicht. Während des Uefa-Cups hatte er Gelegenheit genug, Mentalitäten zu studieren. Er spricht von Schiedsrichtervorurteilen gegenüber den Russen und sagt ganz allgemein: „Man liebt uns in Europa nicht.“ Die Bayern Münchener empfand er als überheblich, ansonsten „eine gut geölte Maschine, die selten aussetzt“. In der „Gangster- und Hooliganstadt“ Marseille warfen sie mit Flaschen und Küchenmessern: „Man kann ständig Böses von ihnen erwarten.“ Vor dem Uefa-Finale in Manchester zwang ein tückischer Feueralarm die Zenit-Spieler mitten in der Nacht auf den Korridor, doch die westlichen Spielbedingungen machen für Arschawin alles wieder wett: „Auf einem perfekten Rasen wie in Leverkusen ist es viel leichter, zu schaffen als zu zerstören. Du denkst nur an Fußball. In manchen russischen Städten musst du an ganz andere Dinge denken.“

Bleibt das Gerücht aus der Welt zu schaffen, dass eine verwöhnte Nummer zehn sich per Limousine zur Arbeit kutschieren lässt. Arschawin fährt eigenhändig einen familientauglichen Mittelklassewagen, in dem er mich zur Metro bringt. Sehen Sie Filme?, frage ich noch. „Sehr selten, sogar vom ,Terminator‘ habe ich nur Teil eins gesehen; nicht weil ich keine Filme mag, sondern weil sie viel Zeit in Anspruch nehmen. Es ist nicht so leicht, wenn Sie zwei Kinder haben. Wir wollten schon dreimal in den Zoo, doch es ist nie etwas daraus geworden.“