Der Rutschky-Kreis

Essay
zuerst erschienen im August 2019 in Die Zeit Nr. 33/2019
Fast eine Sekte: Mit dem Freundeskreis rund um die Zeitschrift „Merkur“ konnte man es sich genauso schnell verderben, wie man von ihm und seinem intellektuellen Glanz angezogen wurde. Die Geschichte einer gefährlich ambivalenten Beziehung

Die Szene spielt in einem Restaurant des Münchner Glockenbachviertels, Frühjahr 1994. Dramatis personae sind die Erziehungswissenschaftlerin Katharina Rutschky, Kurt Scheel, der einflussreiche Herausgeber des Merkur, und ich – einige Jahre jünger als die beiden, von ihrer Einladung geehrt und eifrig um Erzeugung von Wohlgefallen bei den Älteren und irgendwie Eingeweihteren bemüht. Der Abend ist schon einigermaßen fortgeschritten, als mir – durch Alkohol und Kooptierungswonne unvorsichtig geworden – ein Fauxpas unterläuft. Robert Schneiders Roman „Schlafes Bruder“, reite ich in mein Unglück hinein, hätte ich neulich gelesen, und – ich müsse es sagen – das habe mich „aus irgendwelchen Gründen irgendwie sehr berührt“ (oder so ähnlich).

Der atmosphärische Blitzeiseinbruch am Restauranttisch entging mir, während ich meinem Lektüreeindruck nachhing, einige Sekunden lang. Katharina Rutschky war übergangslos in einen Modus verfallen, den man im Englischen going ballistic nennt. Es war kalte narzisstische Wut. „Ach, Herr Wackwitz“ – gesungen als ein absteigender fis-Moll-Herablassungsdreiklang. Und dann ging ein Strafgewitter auf mich nieder, das mich nicht nur als Literaturbanausen und Kitschheini dastehen ließ, sondern auch als eine politisch indiskutable Figur. „Also, wenn Sie hier mit dem literarischen Austrofaschismus sympathisieren, dann weiß ich auch nicht mehr.“ Sie wurde fast ein bisschen laut. An Nebentischen entstand Aufmerksamkeit. Es war die Ausstoßungsandrohung. Ich stand kurz vor der Exkommunikation aus dem Rutschky-Kreis.

Die dann, vor allem durch den mäßigenden Einfluss Kurt Scheels, abgewendet werden konnte. Aber die Grenzen waren aufgezeigt. Was war das für ein Kreis, aus dem man verstoßen werden konnte, wenn man Robert Schneider gut fand? Das frage ich mich, seit seine drei Chefs (Hohepriester, Charismaträger, Zentralkomitteemitglieder) Kurt Scheel, Katharina und Michael Rutschky tot sind, immer öfter. Ich weiß natürlich nicht, wie es anderen mit den dreien ergangen ist. Ich aber erlebte sie als das Lordsiegelbewahrungstrio eines Clubs, der für Jahrzehnte mein inneres Leben in ähnlicher Weise strukturiert hat, wie es die Mitglieder des George-Kreises von ihrem alternativen gruppensoziologischen Langzeitexperiment zur Elitenbildung aus dem ersten Drittel des letzten Jahrhunderts berichten. Die Rutschky-Schüler, ein Dutzend längst erwachsene und meist recht etabliert gewordene Personen, sind heute ein Kreis ohne Meister.

Seine Zentralfigur war ein „Karriereabbrecher“ Freuds Studie „Die am Erfolge scheitern“ enthält Michael Rutschkys Berufsbiografie in nuce – was er auch wusste. Nach der großen (und nicht vorhersagbaren) Resonanz seines Buchs „Erfahrungshunger“, eines theoretisch-erzählenden Essays in Buchlänge, standen ihm 1980 die Türen zum literarischen Establishment weit offen. Er durchschritt sie zunächst in die Redaktion der Zeitschrift Merkur hinein, wechselte aber kurz darauf zu Hans Magnus Enzensbergers Transatlantik, einem der nachwirkungsreichsten publizistischen Experimente der späten Bonner Republik. Wo er es freilich auch nicht lange aushielt.

Nach einem Herzinfarkt zog er sich 1985 nach Berlin zurück, wo er bis 2018 gelebt hat – als freier Autor, Editor-at-large des Zürcher Alltag und graue Eminenz des Merkur, wo ihn inzwischen sein bester Freund Kurt Scheel ersetzt hatte. Man kann pressegeschichtlich plausibel machen, dass Rutschkys Einfluss auf den Merkur in den Achtziger- und Neunzigerjahren mindestens so groß war wie der des Herausgebers Karl Heinz Bohrer. Diese unterirdisch-irreguläre Einflussnahme auf das wichtigste intellektuelle Diskussionsforum der Republik ergänzten er und seine Frau durch seltsam elternhafte Beziehungen zu jüngeren Intellektuellen, die in der langen Zerfallsphase der Achtundsechziger-Flutwelle nach Orientierung und Publikationsmöglichkeiten suchten.

Für diese Jüngeren bedeutete der sich in den Achtzigerjahren formierende Berliner Kreis Gegenöffentlichkeit und Türöffner zugleich. Sie debütierten im Alltag und stiegen dann gegebenenfalls zu Beiträgern des Merkur auf. Ein Stück dort platziert zu haben war für „uns“ (wie wir uns zu sehen begannen) oft wichtiger als das Studium – für mich in jedem Fall erheblich wichtiger als irgendwelche Karriereschritte meiner beginnenden Berufstätigkeit. Der Alltag, der Merkur und der Umgang mit dem Ehepaar Rutschky wurden zu einer Art intellektuellem Lebensmittelpunkt. Durch die Tagebücher Michael Rutschkys bewegt sich eine lange Prozession libidinös besetzter Jungmenschen. Schon in München hatte das kinderlose Paar den jungen Rainald Goetz als Götterliebling und Idealsohn erkoren. In Berlin wurden Rutschkys spätere Erben Jörg und Mariam Lau (heute beide Redakteure der Zeit) zu engen Freunden, aber auch Ina Hartwig, Kathrin Passig, Gerhard Henschel, Michael Kroeher, Harry Nutt, Dirk Knipphals, Jan Feddersen, Mark Degens, David Wagner und andere. Ich selbst war durch räumliche Entfernung in eine weitere Umlaufbahn verbannt und konnte nicht an den sonntäglichen Treffen zu gemeinsamer Lektüre klassischer Theorietexte teilnehmen. Umso intensiver entfaltete sich die Mentor-Zöglings-Dynamik bei Besuchen. Meine Geschmeicheltheit vermischte sich mit Erwähltheitsphantasmen und der intellektuellen Autoritätsgläubigkeit des entsprungenen schwäbischen Seminaristen. Kurt Scheel war Majordomus, Außenminister und die einzige in einem regulären Büroleben verankerte Führungsfigur des Kreises. Dass ihm ein grausiger Tod von eigener Hand bevorstand, hätte damals niemand für möglich gehalten.

Die schriftstellerischen Hauptmotive Michael Rutschkys waren erstens der Versuch, Theorie erzählerisch fruchtbar zu machen, und zweitens eine radikale Kritik dessen, was er „Meinungsfreude“ nannte. Damit hängt seine große und bis heute nicht systematisch gewürdigte Leistung zusammen: die Entwicklung einer „Meta-Essayistik“, die es anders als der traditionelle Prunkessay verschmäht, mit literarischer Feierlichkeit Überzeugungen auszuarbeiten, die jeder und jede eh schon hat. Im Gegenteil. „Was ich als Meinung und Überzeugung ohne weiteres Nachdenken in mir vorfinde, das bildet ein höchst fruchtbares Ausgangsmaterial. Meine Schlußpointen sollte ich als Autor daraus nicht gewinnen“, heißt es in der Vorrede zu der Essaysammlung „Reise durch das Ungeschick“ aus dem Jahr 1990.

Dass sich der Kreis diese Maxime zu Herzen nahm, hat in der Publizistik bis heute Spuren hinterlassen. Und überhaupt: Nicht nur die Dekonstruktion des allgemeinen publizistischen Meinens, sondern auch andere Mantras des Rutschky-Milieus – die Akzeptanz eines sozialdemokratisch gezähmten Kapitalismus, die Westbindung, die solidarisch-kritische Amerikabewunderung und vor allem die Verachtung jeder Form von Kulturpessimismus und aller bildungsreligiösen Distinktionsrituale –, das waren Leitfäden, anhand deren ich und andere mit Rutschky gut aus der Bonner in die Berliner Republik gekommen sind. In einem Interview kurz vor seinem Krebstod spricht Rutschky über seine späte Lektüre von Dahrendorfs „Gesellschaft und Demokratie in Deutschland“. Das sei im Grunde das Regierungsprogramm der sozialliberalen Koalition gewesen – und man kann ergänzen, dass es für ihn und dann auch für „uns“ all you know and all you need to know zusammengefasst hat.

Diese unbestreitbar grundvernünftigen Ideen bildeten eine Art Matrix, die in stundenlangen Gesprächen – auf Spaziergängen, in Kreuzberger Restaurants, am Frühstückstisch der Wohnung in der Wartenburgstraße, in Bars – variiert und improvisatorisch ausgearbeitet wurde. Zweifel an den Essentials verbot sich bei Strafe von Kommunikationsabbruch und Wut. Wodurch ihre fortwährende dialogische Bekräftigung – so geistvoll und mit wertvollen Lektüretipps gespickt sie war und wie intensiv sie einen oft noch monatelang beschäftigte – auf die Dauer etwas Bauchrednerisches annahm. Der Kreis um George hatte einst eine Art Verleiblichung der Meistergedichte durch das „Vortragen“ – die Rezitation der Schüler vor dem Meister – als das zentrale Ritual etabliert. Das posthume Tagebuch Rutschkys zeigt, dass auch für ihn der verschwiegene libidinöse Sinn jener Gesprächsorgien darin lag, dass ihm Jüngere, die er mochte (wahrscheinlich sogar mehr mochte, als sich beide Parteien eingestehen wollten), seine eigenen intellektuellen und politischen Lebensmotive zurückspiegelten.

Das Ausbleiben oder nur unvollkommene Gelingen dieser Spiegelung zog narzisstische Wut nach sich. Oder Melancholie: „Das Ehepaar Lau zeigte ihm an, wie es sich von ihm gelöst hat und eigene Ideen verfolgt. Jörg Lau erklärte ihnen, welche Chancen der Irakkrieg bietet, und kein einziger Gedanke stammte von R.“ Auch Rutschky wollte seine eigenen Gedanken – und möglichst wenig anderes – aus dem Mund Jüngerer hören. Oft habe ich mich bei unseren Gesprächsmarathons als Stichwortautomat gefühlt. Aber trotz solcher Ermüdungserscheinungen gehören unsere Gespräche unbedingt in die positive Bilanzspalte. Es gibt wenige Menschen, denen ich intellektuell so viel verdanke, und auch nur wenige, mit denen ich, falls alles gut lief und die Spiegelung gelang, so viel Spaß haben konnte, besonders wenn er mich an meinen Dienstorten im Ausland besuchte und wir unsere alkoholisierten „Terrassengespräche“ zelebrierten. Jahrzehntelang sah mir sein Introjekt beim Schreiben über die Schulter. Oft genug war er mein erster Leser, und immer ein ermutigender.

Das war die Tagseite des Kreises. Es gab auch eine Nachtseite. In meinem Tagebuch lese ich unter dem Datum 16. 9. 1991: „Innerlich beschäftigt mit meinem Aufenthalt bei Rutschkys in der Wartenburgstraße und deren erbarmungslos-unausgesetztem Gekläffe gegen mich. Erstaunlich, wie viel das in mir hochbringt. Erstens die ‚intellektuelle Fertigmacherei‘ im Internat, als immer einer schlauer und cooler sein wollte als der andere. Noch tiefer ist die Erinnerung an mein Elternhaus, den Mief der frühen Jahre, meine eigene Verklemmtheit. Ich höre sie im Pöbeln des hessischen Kleinbürgers, der bei Rutschky nach dem dritten Bier hochkommt. Dazu ein Traum heute: Tanzstunde. Wir sind in einer schönen Tallandschaft aufgestellt, die Mädchen in einer Reihe, die Jungs gegenüber. Ich aber kapriziere mich darauf, hinter den Mädchen zu fliegen, statt eine aufzufordern. Ich schwebe über einem herbstlich besonnten Abgrund. Nachdem ich die Reihe der Mädchen einmal unschlüssig auf und ab geschwebt bin, haben alle schon Partner.“

Was mir bei dem 1991 beschriebenen Besuch zustieß, war offenbar wieder jene kalte Wut gewesen. Die Stefan-George-haft gnadenlose Strafraserei des narzisstischen Größenselbst, dessen schwarze Seite hervortritt, wenn es sich ungenügend gespiegelt sieht. Und meine immer intensivere Verstrickung in das „Game of Thrones“ in der Berliner Wartenburgstraße ließ mich damals – mein Traum wusste es besser als ich – die soziale Bodenhaftung verlieren. Die Traumarbeit von 1991 erwies sich ein paar Jahre später sogar als prophetisch: Meinen Roman „Walkers Gleichung“, der aus einem längeren Gedankenspiel mit Rutschky hervorgegangen und von Scheel eine Weile lang lektoriert worden war, wagte ich nicht in der Anderen Bibliothek zu publizieren. Hans Magnus Enzensberger, der bewundert-gehasste Rutschky-Erzfeind, hatte mir ein sehr freundliches Angebot gemacht. Aber ich wusste, es anzunehmen würde den – mir damals undenkbaren – Bruch mit dem Kreis bedeuten. Brüche aus nichtigerem Anlass mit prinzipien- und selbstbewussteren Intimi oder fellow travellers begleiten seine Geschichte. Die Trennungs-Urszene (der „Hofmannsthal-Moment“) war die Verstoßung und damnatio memoriae des ersten Adepten Rainald Goetz gewesen. In ihn waren Katharina und Michael, wie im posthumen Tagebuch enthüllt wird, offen verliebt.

Goetz war die literarisch bedeutendste „unzuverlässige Spiegelfigur“, die sich den intellektuellen und erotischen Verschmelzungswünschen beider spektakulär entzog. Erotische Fantasien über Goetz bedrängten noch den alternden Rutschky. Die kalte Wut war grenzenlos. Aber auch Heiner Müller durfte in der Wartenburgstraße nicht erwähnt werden, Elias Canetti nicht, mein literarischer Mentor John Berger nicht, zu Beginn unserer Bekanntschaft auch nicht Thomas Mann. Und schon gar nicht Robert Schneider. Nicht nur Personen waren Anathema, sondern auch mangelnde Glaubensfestigkeit in Bezug auf die kanonischen Dogmen. „Jörg Lau hatte einen wunderbaren Kuchen gebacken. Er veröffentlichte gerade in der Zeit einen Artikel, der den verheerenden Wirkungen nachgeht, die Computerspiele auf die intellektuelle und charakterliche Entwicklung von Kindern ausüben – vor zehn Jahren hätte er sich über die ganze Argumentationsfigur lustig gemacht und sie als stock response der Kulturkritik denunziert.“ In jenem Artikel Jörg Laus hatte der Kulturpessimismus sein Gorgonenhaupt erhoben. Während mir im Glockenbachviertel seinerzeit ein Fehltritt ins Kunstreligiöse unterlaufen war. So anregend unsere Gespräche waren, sie glichen Spaziergängen über ein Minenfeld.

Spiegelübertragung, narzisstische Idealisierung, Begabungsförderung, zielgehemmte Erotik, Erwählung, Initiation, Wut, Strafe, Verstoßung: Es war der Versuch, eine alternative kulturelle Solidarität zu begründen. In grandiosen Tagträumen Rutschkys war sein Kreis die Kulturelite der wiedervereinigten deutschen Demokratie. „Neulich quälte ihn mal wieder der Gedanke, daß es ihm misslungen sei, als ‚Habermas’ jüngerer Bruder‘ Anerkennung zu finden, keine entsprechenden Preise, keine Veröffentlichungsmöglichkeiten, kein Podest“ (Rutschky über Rutschky in den „Tagebuchaufzeichnungen 1996–2009“). Das Ohr wirklicher Machthaber hatte er nur im Traum: „Diesmal treffen sie in der Etagenwohnung auf Jürgen Habermas. Er hält einen Vortrag oder hat ihn gerade abgeschlossen. Begrüßung; er kennt R. noch genau. Draußen, vor dem Aufzug, beginnt R. ihm seine Ideen auseinanderzusetzen. Habermas hört mit leichter Abwesenheit zu, scheint aber voller Interesse und Einverständnis. Daß jetzt alles auf den Optimismus ankomme, eine positive Zukunftsvorstellung; wie triftig man in diese Perspektive Norbert Elias’ Zivilisationstheorie einbringen könne. Begeistert geht R. unten, auf der regennassen Straße, seiner Wege, voll der Überzeugung, dass jetzt der wahre Ruhm einsetze“ (ebenfalls in den „Tagebuchaufzeichnungen“) .

Solche Träume vom Künstlerstaat scheitern notwendigerweise. Aber sie haben Folgen, und nicht nur zerstörerische. Künftige Kultur- und Psychohistoriker werden den Kreis um Rutschky als bildungssoziologische Versuchsanordnung am Übergang zur Berliner Republik studieren. Künftige Literaturhistoriker werden seinem bedeutenden Werk die Gerechtigkeit verschaffen, die es längst verdient hätte. Der Rutschky-Kreis ist Geschichte. Erst jetzt können wir zu verstehen beginnen, was er eigentlich gewesen ist.