Der Theaterfresser

von 
Reportage
zuerst erschienen am 17. November 2013 in Welt am Sonntag, S. 52
In letzter Zeit ist es in Mode gekommen, sich ganze Fernsehserien in wenigen Tagen einzuverleiben. Geht das eigentlich auch mit einer Theatersaison? Ein Selbstversuch

Was ist ein Voyeur? Einer, der den Menschen Schönheit zutraut und sie ungeteilt genießen möchte. Bibiana Beglau schreit in „Reise ans Ende der Nacht“, Shenja Lacher verzweifelt in „Orest“, und Sandra Hüller sitzt in „Die Straße, die Stadt, der Überfall“ in der Badewanne.

Es ist am zweiten Tag meines Selbstversuchs in Sachen Theater, Orest mampft gerade verdrossen Tiefkühlpizza und spuckt Meteoritenschauer aus Teig ins Publikum, als ich denke: Vielleicht kann man den Wert einer Inszenierung ja auch über ihren Nährwert ermessen. Deshalb vorsichtshalber fürs Protokoll: Im Münchner Residenztheater wird heute Pizza gegessen, Champagner getrunken, Wein. Auf Bier-Niveau rutscht Orest nicht herab, selbst im härtesten Verzagen und in völliger Abgefucktheit.

Ja, Orest ist abgerückt, das muss man so sagen, schließlich sind wir hier im deutschen Regietheater, was übrigens ein Glück ist. Lieber ein abgerückter Orest als ein öder Orest. Schlimm wird es nur, wenn es zugleich abgerückt und öde ist. So wie drei Tage später, in Frank Castorfs Themenpark aus Celine-Motiven, „Reise ans Ende der Nacht“. Da ist es allerdings gleich mega-abgefuckt und mega-langweilig, und auch wieder irgendwie gut. Warum bloß? Auch um das herauszufinden, bin ich hier in München.

Der Selbstversuch besteht darin, fünf Tage hintereinander in zwei der besten Theater des Landes zu gehen, die Münchner Kammerspiele und das Residenztheater, und zu sehen, was passiert. Was das Theater kann, ob es mich erschüttert, berührt - was ja ein Theaterklischee ist, denn was soll das überhaupt heißen: erschüttert, berührt, in einer Zeit, in der wir in ultrarealistischen Ego-Shootern nach Feierabend Terroristen umnieten oder Pop-up-Eilmeldungen von ertrunkenen Philippinos auf dem Handy wegklicken? Oder ob andererseits rein gar nichts passiert und der kräftig bezuschusste Pizzateig bloß kurz hinter der Rampe zu Boden fällt und sich festtritt, wenn ein entnervter Besucher im Dunkeln die Flucht ergreift.

Im Gegensatz zu Großveranstaltungen, dem Berliner Theatertreffen zum Beispiel, bin ich ganz auf mich gestellt. Keine anderen Kritiker da, die in den Pausen damit beschäftigt sind, sich zu grüßen oder zu ignorieren, je nach Temperament und Bedeutung. Keine Premierenfeier und kein Gefühl, zu den Happy Few der Eingeladenen zu gehören. Nein, zur Abwechslung mal eingepfercht sein unter ergrauten Abonnenten im Lodenjanker, in der Pause endloses Schlangestehen für sauren Weißwein und hinterher durch den Regen ins Hotel eilen, wo die Matratzen durchgelegen sind und die Wände dünn. Nichts als Kritiker sein, so eine Art Dopingtester des Theaters, ein Undercover-Sittenpolizist.

Wenn ich aber ehrlich bin, will ich niemanden überführen. Vielmehr zieht mich eine Art innerer Zwang ins Theater, eine voyeuristische Liebe. Denn was ist ein Voyeur? Einer, der den Menschen Schönheit zutraut und sie ungeteilt genießen möchte. Der fürchtet, würde er selbst mitspielen, hätte er keinen Sinn mehr für das, was Joyce Epiphanien nennt - diese flüchtigen Momente, wenn die Dinge in einem anderen Licht erstrahlen.

Genau dafür ist das Theater erfunden worden. Es ist eine Epiphanienküche. Die Regisseure haben die Schürze um, schmecken Gefühle und Situationen auf ihre Entzückungs- oder Verunsicherungstauglichkeit ab. Die Schauspieler sind Vorkoster unseres Erlebens. Und man selber sitzt da, im Dunkel, starrt ins Helle, und das Herz macht manchmal kleine Sprünge. Kein Wunder, dass Platon vom Theater so angewidert war.

Sein Höhlengleichnis, selbst eine Art frühe Theaterkritik, sagt ja nichts anderes: Mensch, friss nicht diesen Quark, den andere dir auch noch vorkauen! Bau deine Erkenntnisse im Biogarten des eigenen Geistes an! Die Sonne der Wirklichkeit ist ein heißerer Herd als jeder auf Knopfdruck aufflammende Scheinwerfer! Platon, so viel ist mal festzuhalten, war kein Melancholiker.

Das muss man aber sein, das merke ich schon jetzt, am zweiten Abend im Theater, der einer der stärksten der fünf bleiben wird. Sonst fehlen einem nämlich das Sitzfleisch und die Neugier. Denn es geht hier weniger um die Welt als um die Innenschau. Der ideale Theaterzuschauer, denke ich, ist ein von sich selbst besessener, zur Liebe nur bedingt befähigter Skeptiker, ein melancholischer Voyeur.

Ich konnte das nur denken, weil Shenja Lacher es mir gezeigt hat. Lacher spielt Orest, in der Inszenierung des jungen Regisseurs David Bosch und nach einem Text-Remix der antiken Quellen durch den Schriftsteller John von Düffel. Bosch will unbedingt in den Regie-Olymp, das merkt man, es kann ihm gar nicht schnell genug gehen. Deshalb wählt er einen doppelten Ansatz aus Strebertum und Punkrock. Strebertum, weil klassisches Drama, die Figuren sind ungebrochen, sagen ihren Text auf. Es geht auf einen Höhepunkt zu, zack, eine überraschende Wendung, am Ende sind alle tot.

Und Punkrock, weil eben mit Pizza gespuckt wird und kieksend herumgetollt, weil Orest schon mal „Ahhh-lek-tra“ sagt und damit seine Schwester meint und weil es im anfangs makellosen Bauhaus-Bungalow, in dem die Atriden-Sippe haust, nach zwei Stunden aussieht wie bei Aischylos unterm Sofa. Das Zerlegen von Bühnen gehört im Theater zum guten Ton, parallel wird geraucht, gesoffen, eben die erwähnte Abgefucktheit zelebriert. Es ist ein Qualitätssiegel - Theater „made in Germany“, nach dem Mauerfall, nach den Ideologien, nach Frank Castorf.

Shenja Lacher ist sensationell. Es wäre ja so einfach, sich auf der Ästhetik auszuruhen - und dem erhaben Epischen des „Orest“-Stoffs und der Sprache, die Düffel so herausgeputzt hat, dass alle paar Verse ein Pentameter oder Alexandriner hervorblitzt, auf den Pathos-Leim zu gehen oder andererseits dem vermeintlich leichthin Hingerotzten, dem Radical Chic mit Springerstiefeln und Kapuzenpulli im Lounge Chair am Swimmingpool zu erliegen. Macht Lacher aber nicht. Lacher bleibt melancholischer Voyeur, zweifelnder Träumer, den die zickige Schwester (Andrea Wenzl) zum Muttermord anstachelt und der darüber wahnsinnig wird. Ein früher Prototyp des Hamlet. Beides Verhinderungsgestalten, Bestauner ihres eigenen Lebens. Die Tiefkühlpizza hat einen tieferen Sinn, denn sie kommt aus dem Eisfach der Seele.

So ist der Abend nährstoffmäßig reichhaltiger als der zuvor in den Kammerspielen, obwohl es da statt aufgetauter Pizza massenhaft Mohrrüben gab. Der Regisseur und Globalisierungsfanatiker Sebastian Nübling hat zum dritten Mal in Folge Schauspieler vom Tallinner N099-Theater engagiert und diesmal außerdem ein paar vom Königlich Flämischen Theater in Brüssel. „Ilona. Rosetta. Sue“ heißt das Stück, das vom tragischen Potenzial dem „Orest“ das Wasser reichen kann. Alkoholkranke Mütter gehen auf den Strich, Nymphomaninnen mit null Gramm Körperfett verpassen die Liebe ihres Lebens, ein kleines Mädchen hat ein großes Herz. Sogar ein Freundesverrat passt hinein. Immerhin geht es um die verdienstvollste Sache der Gegenwart, einen Job, in diesem Fall das Möhrenschnippeln.

Im „Orest“ kam ein Königssohn auf den Hund, hier beweisen arme Hunde, dass in ihnen Königliches steckt: Selbstachtung. Vielleicht ist das der Grund, warum sich der Abend empfindlich zieht. Die Moral-Claims sind schnell abgesteckt, die drei armen Frauen des Titels – zusammengecastet aus Prädikat-wertvoll-Arthouse-Sozialdramen von Arnos Kollek („Sue“), AM Kaurismäki (Ilona, Protagonistin aus „Wolken ziehen vorüber“) und den Dardenne-Brüdern („Rosetta“) – sind Opfer der Ver­hältnisse. Das ist sehr viel Karl Marx und sehr wenig Groucho, sehr viel Tränen und sehr wenig Lächler, geschweige denn Lacher, immerhin geht die Bühne halbwegs kaputt.

Allmählich machen sich auch bei mir die Verhältnisse bemerkbar. Im Bahn­hofsviertel, wo das Hotel liegt, grölen nachts angeschickerte Jugendliche, hu­pen Autokorsos nach Fußballspielen. Schmiermittel des Lokalkolorits ist das Weißbier. Im Bräuhaus ist es wie im Theater. Die Bedienungen sind verklei­det, die Gäste halten Monologe. „Revan­che“, doziert einer über den Charakter des Oberpfälzischen, „reimt sich auf Leckmiomoasch.“ Das beschreibt, denke ich an meinem Blutwurstgröstl kauend, Orests Einstellung ziemlich genau. Und im Paulaner-Stammhaus steht in der Speisekarte: „Lieber Weißbier als Shake­speare.“

Langsam wird es unheimlich, wie das Theater ins Leben hineinragt. Bevor ich mir tags darauf Elfriede Jelineks Hom­mage an die Mode und die Maximilian­straße „Die Straße. Die Stadt. Der Über­fall“ in den Kammerspielen anschaue, improvisiert im Kaufhaus Ludwig Beck am Marienplatz, wo ich nach einer Hose suche, eine Verkäuferin über die Geißel des „Visual Marketing“. So ein Tisch wie jener da heiße „Appetizer Table“, und man denke die Klamotten nur noch in Ensembles. Später im Theater gesteht Sandra Hüller als Jelineks Alter Ego, sie habe früher zur Tagung der Kommunis­tischen Partei Österreichs eine Chanel-Jacke getragen.

Der Schauspieler Benny Claessens ist in jeder Hinsicht eine Bombe, im Thea­ter und in Kalorien. Jelinek vergleicht die Hauben der Frauenkirche mit Kartof­felknödeln („der Rest ist Schweinsbra­ten“). Sie hätte anstelle der Kirchenhau­ben auch Ciaessens einsetzen können. Die Wucht seines Körpers bändigt er mit seiner Unschuldsmiene. Trotz seiner über 100 Kilo wirkt er zart. Man würde ihn gern tanzen sehen.

Heute spielt er Mooshammer mit Zehn-Zentimeter-Absätzen. Bald reißt er sich die Modemachermaske vom Ge­sicht, wie man das aus Horrorfil­men kennt, und ist von da an ein­fach Benny Claessens. Sandra Hül­ler und er werfen sich den Text zu wie Wollknäuel. Aus zwei Gründen gibt es heute nichts zu essen: weil vor lauter Reden zum Schlucken keine Zeit wäre und weil sich, wie Vampire vom Blut, Schaufenster­puppen von Textilien ernähren.

Jelinek hat seit Langem kein inte­ressanteres Stück geschrieben. Weil sie zur Abwechslung nicht nur ge­gen etwas ankalauert, das sie ohne Detailkenntnis und getragen von der Kraft des Mainstreams dämlich findet, wie die Finanzkrise oder den Kölner Klüngel. In diesen Text ist sie ganz anders verstrickt, weil sie in sich selbst das Fashion Victim er­kennt. Jelinek erhebt die Mode zum Sinnbild des Theaters. Sandra Hül­ler singt da capo: „Die Leute kaufen hier ein, um andere zu werden, schöner, eleganter, aber sie werden ja auch nicht andere, als sie waren.“

Bin ich allmählich ein anderer? Nein, ich kann mir hier die Beine in den Bauch sitzen, so wie Benny Claessens einen Abend später, wieder in den Kammer­spielen, nur diesmal als Onkel Wanja, wo er stundenlang kaum aufsteht, seine Knie werden es der Regie danken. Er sitzt, ein Fleischberg unterm Knabenge­sicht, träumt von der Geliebten, die ihn verschmäht, alles hier ist Samowar, Seuf­zer, Suff und Seele. Ciaessens starrt mich langmütig an, ich starre langmütig zurück. Ich bin, ich bleibe derselbe, trotz all der Schweinsbraten, des Blutwurstgeröstls, der Viertel Enten mit Blaukraut, der Riesenschnitzel, der Fleischpflanzerl mit Kartoffelsalat, die ich tagsüber in mich hineinstopfe. Bei manchen Bissen, während sich die Nährstoffe schon mit meinen Zellen verbinden, mich ummo­deln, zu dem, der ich schon immer war, empfinde ich epiphanische Genüsse. Sie kochen gut in München, im Bräuhaus und im Theater.

Vor Castorfs „Reise ans Ende der Nacht“ im Residenztheater trinke ich im Andechser am Dom wohlweislich ein Doppelbockbier. Es wird ein hypnoti­scher Trip, mit der toughen Diva Bibiana Beglau als Zeremonienmeisterin, die zwischendurch ein Huhn schüttelt. End­lich Schluss mit der Hausmannskost, denke ich nach fünf Stunden, als Bibiana Beglau schreit: „Ich will dein Geschlecht essen und Tiger gebären.“

Am nächsten Morgen besteige ich, oh­ne gefrühstückt zu haben, den Zug.