Die Bibliothek meines Freundes (Bibliothek XIII)

Essay
zuerst erschienen 2011 im Ausstellungskatalog für Martin Mlecko, Bourouina Gallery

Es ist ein kleiner Raum unter dem Dach, in Kreuzberg, durch das Kippfenster zum Hof sieht man die Sonne am Abend. Die Wohnungstür führt direkt hinein, ganz amerikanisch, man steht also, wenn man in die Wohnung meines Freundes kommt, gleich direkt in der Bibliothek. Mit fünf großen Schritten hat man den Raum durchquert, fünf Schritte sind es auch in die andere Richtung, er ist also fast quadratisch, dieser Raum.

Die eine Seite des Raumes ist die Bibliothek, die andere Seite ist die Küche. Es ist eine Küchenbibliothek, genauer: eine Schiffskombüsenbibliothek, denn die Küche meines Freundes sieht haargenau so aus wie die Kombüse eines Schiffes.

Ich weiß nicht mehr, wann es angefangen hat, aber es muss so ungefähr zwei Wochen nach deinem Tod gewesen sein, dass die Bibliothek sich veränderte. Erst waren es nur sechs Bände von Simenons Maigret, die ich mir eines Abends mitnahm. Dort, ganz links, neben dem roten Camus-Fach, klafft jetzt die Maigret-Lücke. Ich lese die Bücher und aus manchen fallen Krümel, Brotkrümel, und ich denke daran, wie du in deinem Bett gelegen hast, mit Kommissar Maigret und dem Honigbrot, und wie du dann alles vollgekrümelt hast.

Dann kamen deine Eltern und haben deine Romane mitgenommen, Idol und Jäger. Dort, wo sie standen, in der Horzon-Brücke unter dem Air-Nippon-Airways-Flugzeug, da ist jetzt nichts. Der Grundstein deiner Sammlung, Stevensons Schatzinsel in einer sehr hübschen Ausgabe von 1953 (dein Vater hat sie dir geschenkt, das war der Anfang von allem), liegt jetzt auf dem Küchentisch.

Ich denke daran, wie du hier vor mir gestanden hast, den Arm ausgestreckt wie ein Gutsherr. „Schauen Sie hier, liebes Swinchen, unsere Speisekammer ist gut gefüllt!“ hast du gerufen, und wir haben uns vorgestellt, dass wir nie wieder raus müssen aus unserer Kombüsenbibliothek, weil ja genügend Bücher für die nächsten Jahrzehnte da sind.

Ich finde Notizen zwischen den Büchern. Eine geht so: „Was geschieht mit den Charakteren aus unveröffentlichten Romanen? Wo gehen sie hin? Sterben sie? Rächen sie sich?“ - Und ich denke an all die Bücher, die du noch schreiben wolltest.