Die Clique

von 
Reportage
zuerst erschienen im Juni 1999 in jetzt-Magazin

Dies ist die Geschichte einer großen Freundschaft. Sie spielt in einem kleinen Dorf in der badischen Provinz und handelt von vier Jungs, die es aus ganz verschiedenen Teilen der Welt nach Deutschland verschlagen hat. Francis stammt aus Kenia, die Zwillingsbrüder Viktor und Leo aus Kasachstan, Dantes Eltern kommen aus Italien und von den Bahamas. Die vier Jungs haben wenig gemeinsam, dennoch sind sie Freunde geworden und nennen sich selbst „Die Clique”. Zwei Worte gegen die Einsamkeit in der Fremde, gegen die Angst vor Kneipenschlägereien und gegen das Fernweh. Zwei Worte wie ein Schwur, der sagt: Wir halten zusammen, egal was kommt.

Dante, Francis, Viktor und ich, wir hängen jeden Tag zusammen.

Wenn Dante zum Beispiel ein Problem hat, ist es für mich genauso, als hätte ich ein Problem.

Ein Kumpel von uns hat sich mal 1000 Mark vom Konto geholt, wir sind alle nach Karlsruhe gefahren und haben uns da einen schönen Tag gemacht. Dann kommen wir nach Hause, und seine Mutter ist ausgetickt. Fünf Minuten später ist er rausgekommen mit Tränen in den Augen und hat gesagt, ihrmüßt mir Geld besorgen. Noch am selben Tag haben wir ihm 800 Mark besorgt. Wir haben Sachen verkauft.

Unsere eigenen Sachen. Walkman, Fahrrad, alles, was wir so hatten.

Wir sind eins. Ich würde für jeden meinen Kopf riskieren.

Francis weiß bis heute nicht, warum ihn seine Mutter einfach „weggeschenkt” hat. Sie hatte versprochen, sich zu melden. Aber das ist schon vier Jahre her. Und jetzt, sagt er, sei sie ihm egal. Schließlich hält sie es nicht mal für nötig, ihm Briefe zu schreiben. Francis ist 16 und schwarz. Was erwähnenswert ist, weil es in Deutschland Menschen gibt, die zu ihm sagen, er sei ein Aff”, und er solle zurück nach Afrika. Was wiederum ein Grund dafür ist, daß Francis seine Zeit lieber mit Leo, Viktor und Dante verbringt. Die Freunde verstehen ihn, weil auch sie schlechte Erfahrungen gemacht haben. Mit ihrem Leben in der Fremde. Mit den Eltern. Mit den Deutschen. Wegen ihrer Hautfarbe.

Vor kurzem hat Francis eine Kiste gefunden mit Photos: er als Baby, auf dem Arm eines weißen Mannes, daneben Opa, Oma und die Mutter. Das war noch in Kenia. Der weiße Mann wurde später sein Daddy. Der hat ihn adoptiert, ihm den Nachnamen Caspar gegeben und ihn vor neun Jahren nach Deutschland geholt. Seitdem lebt Francis Caspar in Kirrlach, einem 10000-Einwohner-Ort in der Nähe von Karlsruhe, der so belebt ist, als wäre Totensonntag, 365 Tage im Jahr. Daddy war früher Diplom-Ingenieur und viel unterwegs. Jetzt ist er 77 Jahre alt und zuckerkrank. Im Februar hatte er einen Schlaganfall, seitdem ist sein Hals gelähmt, und er kann nicht mehr schlucken. Daddy liegt im Krankenhaus, und Francis wohnt mit seinen drei Geschwistern alleine in dem Reihenhaus. Die Tante kümmert sich. Ob Francis traurig ist um Daddy? „Nicht, solange er noch lebt.” Solange ist es wie immer. Im kleinen Hinterhof läuft den ganzen Tag HipHop, die Jungs sitzen auf den Stufen zur Veranda und blicken in den verwilderten Garten. Bier in der Hand. Sie werfen sich Gesprächsfetzen zu: Alles klar? Super, klar. Was geht heut” noch? Ständig Leute, die rein- und rauslaufen: Magret kommt mit Anita, Anita geht, Pino kommt. Nur Viktor, Leo und Dante bleiben, von mittags bis abends. Sie sind die Clique. Sie gehören zusammen, jeder spürt das. Nicht nur hier im Hinterhof, auch draußen, wenn sie unterwegs sind. Wehe, wenn sie einer blöd anmacht. Dann kann er sicher sein, daß er ein paar aufs Maul bekommt. Von Francis, von Dante, von Leo und Viktor. Clique heißt: sich täglich sehen, für den anderen den Kopf hinhalten.

Bevor Herr Caspar ins Krankenhaus kam, saß er meistens oben in seinem penibel aufgeräumten Zimmer und sagte nichts. Er hat Francis auch nicht gesagt, was da eigentlich war zwischen ihm und seiner Mutter. „Verliebt können sie nicht gewesen sein”, sagt Francis. „Sonst wären meine jüngeren Geschwister nicht auch von einem anderen Mann.” Wie er. Von einem Mann, den er mit sechs das letzte Mal in Kenia gesehen hat, Francis” Geburtsland, an das er wenige Erinnerungen hat. Nur, daß er und sein Bruder ständig auf der Straße rumhingen, daß sie Fahrradschläuche aufgeschnitten haben, Dreck hineingesteckt und mit einer Schnur zusammengebunden haben. Bis Daddy irgendwann kam und einen richtigen Fußball mitbrachte. Daddy hat sie später alle nach Kirrlach mitgenommen: zuerst Paul, den älteren Bruder, später Francis, dann Robert und Magret. Jetzt sind sie eine Familie in der badischen Provinz. Ohne Mutter. Und der Vater ist krank. Aber Francis hat seine Clique.

Wenn mich früher Deutsche gefragt haben und ich gesagt habe, ich bin Deutscher, dann sagten die: Das kann ja gar nicht sein. Im ersten Jahr habeich immer versucht zu erklären, warum ich in Kasachstan gelebt habe, daß ich Rußland-Deutscher bin. Dann habe ich es gelassen. Jetzt sage ich immer, ich bin Russe.

Immer hieß es: die Scheiß Russen. Aber Viktor und ich waren zu zweit, zwei Brüder, und zu zweit ist es schon leichter. Ich will nichts gegen Deutsche sagen, aber die sind schon falsch.

Wenn du mit einem Deutschen unterwegs bist, mußt du immer im Kopf haben: Du bist allein. Du kannst nicht damit rechnen, daß er dir hilft.

Bei einer Party haben wir sogar mal mit einem Deutschen Blutsbrüderschaft geschlossen. Du weißt schon, mit Johnny. Er sagte, wir halten zusammen – für immer.

Eine Stunde später, in einem Lokal, habe ich Streit gehabt. So einTyp hat gesagt: Was willst du, Nigger? Dann hat er mir meine Mütze vom Kopf geschlagen. Und Johnny? Der hat nicht geholfen, nur zugeschaut.

Leo heißt Leonhard und hieß früher Leonid. Als er noch in Altbasar, Kasachstan lebte. Dann siedelten seine Eltern nach Deutschland über, und aus Leonid wurde Leonhard, weil es „deutscher” klingt. Sein Bruder hieß immer schon Viktor. Beide sind 17 Jahre alt und Zwillinge. Identisch, sogar der mit Gel freigelegte Mittelscheitel. Die beiden erinnern an die Klitschko-Brüder, die Boxer, groß wie Bäume, dabei immer etwas ungelenk, wenn sie nur so rumstehen und nicht boxen. Leo und Viktor sind wild auf Kampfsport. Autodidakten, die aus Karate-Filmen lernen. Leo hat Viktor einmal das Trommelfell zerschlagen. Da hatte Viktor Leo ins Gesicht geschlagen, das Blut kam, und dann hatte Leo Viktor mit der flachen Hand aufs Ohr gehauen. Da haben sie beschlossen, sich nicht mehr zu prügeln. Zumindest nicht gegenseitig. Ansonsten gehen sie keinem Streit aus dem Weg. Früher wurden sie oft gehänselt, wegen ihrem russisch-rollenden „r”, wie in Viktorrrr. Aber bald schon war den anderen klar: Es gibt eine Grenze, mit den Kandlins legt man sich nicht an. Diese Kandlins gehörten zu den ersten Aussiedlern, die aus Kasachstan kamen. Das ist jetzt zehn Jahre her. Mittlerweile haben sie Fuß gefaßt: Der Vater arbeitet als Kraftfahrer, die Mutter geht putzen. Der Abschied, damals, auf dem Bahnhof, dauerte zwei Stunden, sagt Leo, weil sie jeden küssen mußten und so viele gekommen waren. Mit dem Zug ging es nach Moskau, von dort mit dem Flugzeug nach Frankfurt. Dann vom ersten Auffanglager ins zweite Auffanglager ins dritte. Und das war in Wiesental, dem Nachbarort von Kirrlach. Ein Jahr lebten sie in einer Halle mit hundert Russen. Es war nicht einfach, aber eine gute Zeit, weil sie alle fest zusammenhielten. Das Zusammenhalten ist den Brüdern wichtig, das erkennt man schon daran, daß sie ständig davon reden. Zusammenhalt unter Russen, unter Ausländern, in der Clique. Gegen Langeweile, gegen das Gefühl, fremd zu sein, und gegen Deutsche, die sie nicht akzeptieren, obwohl sie selbst Deutsche sind. Clique heißt: gemeinsam Erfahrungen sammeln und teilen und davon erzählen. Wenn Leo, Viktor, Dante und Francis zusammen sind, dann erzählen sie sich Geschichten, die sie gemeinsam erlebt haben. Vom Abend in Karlsruhe, wißt ihr noch? Oder von Johnny, mit dem sie Blutsbrüderschaft schlossen und der sie dann im Stich ließ. Die Geschichten sind wie ein Netz, das sie weiterspinnen, das die Vier zusammenhält, in das sie sich hineinfallen lassen: Gemeinsame Erfahrungen verbinden.

Viktor und Leo lernten Dante in der fünften Klasse kennen, mochten ihn von Beginn an nicht, schlugen sich mit ihm, worüber sie heute nur lachen können. „Die besten Freundschaften entstehen”, sagt Leo, „wenn man sich vorher nicht mag.” Über Dante lernten sie dann Francis kennen. Früher hingen sie jeden Tag zusammen, gingen auf Straßenfeste, in Discos, ins Freizeitheim. Jetzt machen Leo und Viktor tagsüber eine Lehre: Viktor als Schlosser, Leo als Kfz-Mechaniker. Spaß macht es beiden nicht, weil sie mit Leuten zusammen arbeiten, die anders drauf sind, die beim Skat Sachen sagen wie: Wer gewinnt, ist Chef, wer verliert, ist der Türk”. Dann weiß Leo, daß er und seine Freunde immer noch Fremde in der Fremde sind.

Warum ich die Kfz-Lehre angenommen habe? Ganz einfach: Ich wollte meine Eltern nicht enttäuschen. Ich war mit meinem Vater eine Lehrstelle suchen. Als mir eine angeboten wurde, konnte ich nicht nein sagen. Außerdem will ich meinem Vater nicht ewig auf der Tasche liegen.

Eigentlich würde ich auch lieber etwas anderes machen. Wenn ich mir aussuchen könnte, was ich mache, würde ich mir ein eigenes Studio auf-bauen, produzieren und eigene Platten machen. Wir hatten auch mal eine eigene Band. Dante war da mal Bassist.

Mein Traum ist ein Laden für HipHop-Klamotten. Das werde ich auch versuchen, wenn ich auf den Bahamas bin. Ich werde verschiedene Firmen anschreiben. Und falls ich genug Zusagen bekomme, werde ich schauen, daß ich genügend Geld zusammenkriege.

Dante wird bald im Paradies sein. Dort, wo das Meer in verschiedenen Farben glitzert, blau und grünlich und türkis. Dort wird er in den Bars sitzen, am Strand. Und abends, unter Palmen, in die Disco gehen. „Im Paradies sind die Leute auch viel offener als in Wiesental”, sagt Dante. Das hat er beim letzten Mal erlebt, als er dort war. Da ging er mit seinen Eltern eine Straße entlang, und sie unterhielten sich darüber, in welches Restaurant sie später gehen sollten. Bis sich ein Einheimischer einmischte und ihnen weiterhalf. Einfach so.

Dante, 17, sitzt zu Hause auf der Veranda. Er zieht zwei, drei Züge an der Zigarette und lächelt in sich hinein, so daß er kaum den Mund verziehen muß, als hätte er Angst, daß seine Fassade aufbricht, die doch so cool ist. Er holt ein Bild vom Paradies aus dem Wohnzimmer. Bahama Islands. „Ich gehe nach Freeport”, sagt er und sucht die Insel zwischen all den kleinen Farbkrümeln auf der Karte. Da! Oben, im Nordwesten, da ist Freeport, und da ist seine Mutter seit einem Jahr, weil sie es hier in Wiesental nicht mehr ausgehalten hat, wo sie zwanzig Jahre lang lebte. Sie kommt von den Bahamas, Dantes Vater ist Italiener und war Schiffskoch, als sie sich auf den Bahamas kennenlernten. Der Rest ist eine klassische Gastarbeiter-Karriere. Herr Ciccolella ging mit seiner Frau nach Deutschland, Verwandte sagten, dort würden Arbeiter gesucht. Erst Montage-, dann Leiharbeiter, und jetzt nach zwanzig Jahren ist er Vorarbeiter. Sein Sohn ist arbeitslos. Dante sagt, es lohne sich nicht, eine Lehrstelle zu suchen, weil er sowieso bald gehe. Und es ist auch nicht so, daß er so gute Noten hätte, daß sie ihm hinterherrennen. Den Hauptschulabschluß hat er vor kurzem geschafft. Die Schule hat er gehaßt, von der ersten Klasse an. Er kam mit den Lehrern nicht zurecht, und in der achten Klasse mußte er die Schule wechseln. Mit 15 hat er mal Handtaschen geklaut, ist eingebrochen. Und mußte zur Strafe 70 Stunden lang Schwerbehinderte pflegen. „Da habe ich gemerkt, wie gut ich es eigentlich habe.” Er mußte auch zur Therapie, wo sie ihm den „Kopf gefickt” haben, wie er sagt. Dreimal die Woche, zwei Wochen lang. Mit so komischen Spielen. Wo man ihm die Augen verband und er dem Partner vertrauen sollte, der ihn durchs Haus führte. Dante sagt, er habe daraus gelernt. Jetzt ärgert es ihn, daß seine Eltern nicht strenger mit ihm waren. Als Dante kriminell wurde, habe sein Vater nur gefragt: „Findest du richtig, was du gemacht hast?”

Bald soll alles anders werden, im Paradies. Wenn er in Freeport bei seiner Mutter ist, möchte er einen Laden eröffnen für HipHop-Klamotten. Im September verläßt er Deutschland, wo er geboren und aufgewachsen ist. „Das einzige, was ich vermissen werde”, sagt er, „ist die Clique.” Sie hat ihn verstanden, wenn er Ärger mit den Lehrern hatte und in der Schule nicht vorankam. Wenn er sich im Laden beobachtet fühlte, weil er eine dunklere Haut hat. Clique heißt: miteinander reden, wenn einen die Eltern nicht verstehen, sich gegenseitig Halt geben. Francis, Leo und Viktor haben versprochen, daß sie ihm schreiben. Und daß sie ihm bald ein Video von sich schicken. Und sie haben gesagt, daß sie ihn besuchen werden, im Paradies. Dante lächelt und schaut auf den Boden. Ob sie es dann wirklich tun, sagt er, sei eine andere Sache.