Die digitale Generation

Essay
zuerst erschienen am 16. November 1984 in Die Zeit Nr. 47, S. 79.
Wer sind sie —die Computerkinder? Wachsen da in bundesdeutschen Kinderstuben die seelenlosen Technokraten der Zukunft heran? Handelt es sich um blinde, süchtige Opfer der modernen Welt? Oder eignen sich die „Kids" eine Technologie „von unten" an, vor der die Erwachsenenwelt bereits resigniert hat?

Nehmen wir zum Beispiel Martin, einen blassen, stillen, etwas schüchternen Vierzehnjährigen in T-Shirt, Jeans und den unvermeidlichen Turnschuhen. Er wohnt mit seinen Eltern in einem Reihenhaus mit Garten am Rande einer Großstadt, in einer Gegend, die als Surrogat westdeutscher Mittelschicht-Ambientes gelten könnte. Unten in seinem Souterrain-Kinderzimmer steht inmitten von Stapeln zerlesener Superman-Heftchen und ausrangierter Plüschtiere sein Computer: ein Zentralgerät, ein Farbmonitor, ein ständig schnurrendes Diskettenlaufwerk, ein Drucker, zusammen immerhin ein Wert von 4000 Mark, zweimal Weihnachten und Geburtstag plus Zuschuß von der Oma.

Martin sitzt ziemlich viel am Gerät, „so eigentlich den ganzen Tag außer der Schule, und außer, wenn meine Mutter runterkommt und den Strom abdrehen will, wenn’s spät wird. Das hat sie aber noch nie gemacht“. Er programmiert eigene Videospiele. „So eins am Tag“, sagt er bescheiden. Warum? „Die fertigen Spiele, da hast du doch gar keine Chance, das geht ja alles so schnell. Wenn ich sie selber mache, kann man es steuern. Außerdem wird da sonst immer nur geballert – das finde ich blöd.“

Natürlich muß ich zunächst eine Runde spielen. Martin lädt „Fabrik“, sein Lieblingsspiel, dessen Programm er für satte 1000 Mark an eine Computerzeitschrift zum Abdruck verkauft hat, von der Diskette in den Computer. Es ist, wie alle Videospiele, ziemlich anstrengend. Die Spielfigur, ein kleines, zitterndes Monster, das aussieht wie ein grinsendes Smartie, muß sich über Leitern, Fließbänder und Förderkörbe von links unten nach rechts oben durcharbeiten – ständig bedroht von hin- und hereilenden „Meistern“, hektischen Robotern und „flüssigem Eisen“.

Meine Figuren fallen bereits beim Fabriktor fallenden Hämmern zum Opfer und stürzen mit einer quäkenden Version des Trauermarsches von Rimski-Korsakow („hab’ ich aus ner Platte von meinem Vater abgehört“) in den elektronischen Orkus. Martin schafft es – ebenso natürlich – bis in die siebte Ebene und darf sich zu „Freude schöner Götterfunken“ in seine Siegerliste eintragen. Da steht sowieso nur er.

Böse Lehrermonster

Obwohl Martin in einer wohlbehüteten Kleinfamilien-Idylle aufgewachsen ist, zeugen seine Eigenbau-Spiele – es sind über hundert – allesamt vom harten Kampf um die Existenz. Fast immer muß man sich mühsam durch Ebenen kämpfen, in denen das Überleben von Mal zu Mal schwieriger wird. Einzig ein Labyrinth mit Namen „Schuleschwänzen“ deutet eine direkte Umsetzung der Realität an – da wird „Freddy Schwänzer“ von bösen Lehrermonstern, alsbald sogar von „Polizisten“ und „Bürgermeistern“ durch die Gänge gejagt.

Kindliche Ängste, in elektronischen Sphären ausgelebt? „Nee, vor der Schule habe ich keine Angst, da bin ich zu gut für“, sagt Martin, und man möchte ihm das auf Anhieb glauben. Ob er denn nicht manchmal Angst vor dem Computer hat, diesem leblosen, seelenlosen Ding? „Wieso? Der ist doch mein Sklave.“

Sklave? Ist das so etwas wie ein Machtgefühl über die Maschine? Da grinst er lässig. „Na, das ist doch kein Mensch. Der antwortet halt immer, wenn ich will. Und der kann sich nicht irren, der macht keine Fehler – die Fehler mache ja immer nur ich.“ Aber wird man nicht, wenn man so oft am Computer sitzt, selbst zur Maschine? „Da kann ich mich noch einkriegen“, erwidert er im Brustton der Überzeugung. „Ich bin doch keine Maschine!“ Und warum wird ihm diese ewige, gleiche mathematische Logik, die stupiden „Peeks“ und „Pokes“ nie langweilig? „Langweilig ist’s immer nur für die, die’s nicht kapieren“, grinst er fast ein wenig arrogant. „Und so über zwanzig, da kapiert man das eben nicht mehr leicht.“

Ein Monitor wie ein Altar

Später dann kommt Martins Mutter mit Cola und Kuchen herunter. „Das mit dem Computer halten wir für wichtig für die Zukunft“, sagt sie. „Nur, es macht mir Sorgen, daß der Martin sich da so zurückzieht. Früher hat er wenigstens mal Fußball gespielt, und jetzt verkriecht er sich so in sich herein, daß wir uns manchmal fragen, was wir da falsch gemacht haben. Dabei haben wir uns immer ausgesprochen, über alle Probleme, da gab es nie laute Worte oder Schlimmeres in unserer Familie, nicht wahr, Martin?“ Doch der antwortet nicht. Er starrt an die Wand und ist irgendwo weit weg – bei einem Variablenproblem, irgendwo in den Sphären digitaler Logik, jedenfalls dort, wohin ihm auch die verständnisvollste Mutter nicht folgen kann.

Martin könnte typisch sein für jene geheimnisvolle Spezies der „Computerkinder“, über deren Psyche sich inzwischen Heerscharen von Pädagogen und Soziologen Sorgen machen. Aber sind jene „Opfer des Elektronikzeitalters“ tatsächlich Opfer? Zeichnet sich in den bundesdeutschen Kinderstuben etwa eine „Revolte im Stillen“, eine Realitätsverweigerung mit den Mitteln der kalten Logik ab, angesichts derer man sich geradezu nach den alten rebellischen Söhnen und Töchtern zurücksehnt, die wenigstens noch Ideale und Gefühle propagierten? Wachsen da, im Schoße der Wohlbehütetheit, neue, kleine Monster heran?

Ein anderes Beispiel: Carsten ist sechzehn, er wohnt mit seiner Mutter, die aus der alternativen Szene kommt, in einer kleinen Wohngemeinschaft. Sein Zimmer ist von oben bis unten schwarz gestrichen, von der Decke baumelt eine Ultraviolett-Lampe. Das blaue Viereck des Computermonitors wirkt hier wie das Tabernakel eines okkulten Altars. Auch Garsten selbst ist von oben bis unten modisch-schwarz gekleidet, in seinen Haaren, die über den Ohren wegrasiert sind und in New-Wave-Art senkrecht nach oben stehen, vermute ich Brisk.

Für Carsten ist der Umgang mit „der Büchse“, wie er seinen Computer nennt (andere Kids nennen ihre Geräte „Erbse“, „Gurke“ oder „Eimer“), Ausdruck einer Lebenshaltung, die sich deutlich gegen die Stilformen der Erwachsenen richtet. Der Computer symbolisiert seine Abgrenzung gegen die „Müsliart“ seiner Mutter und deren Bekanntenkreis. „Die reden und reden immer nur“, sagt er, „über Raketen und sauren Regen und was sie schon wieder alles falsch gemacht haben, Probleme und Psycho und so, alles Frust. Nee, keinen Bock.“

Schüchtern ist Garsten keinesfalls, er hat ein gesundes Selbstbewußtsein. Er benutzt den Computer als Medium für elektronische Experimente, für Musik und Graphik, nebenher spielt er in einer Avantgarde-Gruppe namens „Elektrogrill“, die im Ruf steht, bei ihren lauten Auftritten ganze kunst-hungrige Säle zu räumen.

Verweigerung? Opfer? Solche Haltungen vermutet Garsten eher bei seinen friedensbewegten Mitschülern. „Ich kann das Wort ‚Frieden‘ nicht mehr hören“, sagt er. „Jeder redet heute vom Frieden – bei mir in der Schule haben sie eine Friedenswoche gemacht, mit ner Menschenkette und Gesang und so. Nee, das geht mir auf den Geist. Immer sind sie dagegen. Gegen sauren Regen, gegen Raketen, gegen dies und das. Das ist doch öde. Ich will mich mit der Zukunft beschäftigen, und deshalb beschäftige ich mich mit dem Computer.“

Für Garsten sind die Formen und Inhalte der Alternativbewegung längst zur Massenkultur, zur Opferhaltung geworden, gegen die er sich individuell abgrenzen will und muß – der Computer fungiert dabei als ein Medium, mit dem er nicht nur gegen die Revoltierenden von einst, sondern auch gegen die kulturellen „mainstreams“ der Technikskepsis revoltiert – er fühlt sich dabei als Avantgarde, weil er etwas versteht, vor dem alle anderen Angst haben.

Süchtig nach klarer Logik

Gewiß – es gäbe jetzt genügend andere Beispiele zu erzählen, in denen die jugendliche Computerei zur Sucht geworden ist. Süchtig werden kann man allerdings auch beim Briefmarkensammeln oder Fußballspielen, von Rockmusik und Disco. Was aber unterscheidet das Medium Computer von allen anderen Hobbys? Was verleiht ihm diesen fast mythologischen Glanz, die (meist negative) Faszination bei den Erwachsenen. Und was treibt die Leidenschaft für sich im Grunde ständig wiederholende mathematische Logik bei den Kindern an?

Zunächst gelten da die „klassischen“, bereits bekannten Argumente, wie sie auch Martin ins Feld führte: Computer antworten, und zwar jenseits von Launen und Stimmungen. Sie sind damit verläßliche Partner. Sie haben obendrein etwas, womit Kinder in der modernen Welt aufgewachsen sind: einen Bildschirm. Das Computerprogrammieren schafft eine Sphäre klarer, verbindlicher Logik, in der man sich vor der widersprüchlichen, problembeladenen Welt verstecken kann.

Verdrängung also? Ersatzbefriedigung? Dem steht die Tatsache gegenüber, daß die meisten „Kids“ sehr wohl zwischen Computerrealität und „echter Welt“ unterscheiden können – sie lernen Programmiersprachen mühelos wie eine Fremdsprache. Sie eignen sich damit ein „Codesystem“ an, zu dem die Erwachsenen keinen Zugriff haben. Hier werden die Rollen umgedreht: Die sonst allwissenden Erwachsenen verlieren plötzlich Macht und Autorität.

Nein, mit Revolte im klassischen Sinne hat das nichts zu tun – die meisten Kids haben ein ungebrochenes Verhältnis zu Werten wie „Karriere“, „Reichtum“ und „Familienleben“. Es geht ums Selbstbewußtsein – und das ist in der Pubertät eine kostbare „Ware“. Als Computerkid wird man vom Opfer zum Täter. Man eignet sich eine Zukunft an, vor der „die Alten“, so scheint’s, bereits in Zukunftsängsten und einer weitverbreiteten Zivilisationsklage resigniert haben.

Weiter noch: Nicht nur Weltuntergangsgefühle und Technikskepsis, auch das pädagogisch-psychologische Vokabular, das sich im Zuge der diversen Emanzipationsbewegungen entwickelte, hat heute auf breiter Front die bürgerlichen Reihenhäuser erreicht. Ständige Kommunikation – wie Martins Mutter sie betont – ist zu einem Credo geworden, das ständige Offenbarung der Kinder fordert. Diese „Pädagogisierung der Erziehung“ hat zwar die alten, auf purer Macht aufgebauten Autoritäten weitgehend abgebaut – und damit das Leben für Jugendliche leichter gemacht. Gleichzeitig wurde aber eine Art „Vertrauenszwang“ geschaffen, ein moralischer Zwang zur Offenbarung des eigenen Innenlebens. Die Pädagogisierung hat die „autonomen Bereiche der Kindheit“ weitgehend zerstört – jene pubertären Bereiche, die sich dem Zugriff, ja dem Einblick der Erwachsenenwelt sperren.

Der Computer, so könnte man meinen, ist in seiner „anderen Sprache“ ein ideales Medium für eine neue Subkultur – für eingeschworene Gemeinschaften, die ihre eigene Sprache sprechen, ihren eigenen Stil entwickeln. Die sozialen Kontakte der Computerkids jedoch sind eher sporadisch, „am Objekt“ orientiert – sie haben mit den alten Cliquen, die ihre eigenen Codes und Kürzel gegen die Sprache der Erwachsenen entwickeln, wenig zu tun.

Nein, der Computer erzeugt nicht neue Wir-Gefühle, die Kids suchen nicht „soziale Dichte“. Computer ermöglichen eher das Gegenteil: Eine Sphäre, in der man unabhängig vom ständig lauernden Verständnis der Erwachsenenwelt seine pubertären Träume ausleben kann, ein Terrain, auf dem ungestörte Einsamkeit herrscht – ungestört auch von den modischen Cliquen mit ihren abgezirkelten Ritualen und Stilformen. So generiert der Computer eine „Anti-Subkultur-Subkultur“ – er richtet sich gegen die Erwachsenenwelt, aber auch gegen den „Zwang zum Sozialen“, wie er in den unzähligen Jugendkulturen – New-Wavers, Punks, Popper, Hardrock-Liebhaber, Fußfallfans und wie sie alle heißen mögen – herrscht. Er errichtet eine Domäne für die Schüchternen, garantiert die „Asozialität“ der Einsamkeit.

Eine glänzende Mischung, der Computer. Er eignet sich als Distanzwaffe zu sozialem Umfeld und Elternwelt, steht aber angepaßten Träumen nicht im Wege. Er ist beides in einem: subversiv und konform.