Ein Basar als Nerven-zusammenbruch

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Reportage
zuerst erschienen am 21. Dezember 2014 in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, S. 40
Hier ist alles gefälscht, alles gefährlich, bunt, laut, lustig und brutal: Weihnachten in der Vorhölle des Konsums, in Tepito, Mexikos größtem und irrstem Markt. Sämtliche Versuche, ihn zu bändigen, sind gescheitert.

Pünktlich zum Fest lancierte Tepito über Twitter seinen Frühjahrskatalog 2015. Mit dabei: „Star Wars VII“, das im Rest der Welt erst ein Jahr später erscheint, das noch zu komponierende Pink-Floyd-Album „The Endless River 2“ sowie „Super Windows“, ein neues Betriebssystem von Microsoft, das auch auf einem Mac läuft. Das Statement endete mit dem anarchokapitalistischen Schlachtruf: „Wir sind mehr, wir sind billiger, wir sind tausend Mal lebendiger.“

Das Ganze war natürlich ein Hoax, gepostet von der Asociación de Piratas de Tepito - Piraterievereinigung Tepito -, beschrieb das System des größten Warenumschlagplatzes der Hauptstadt aber perfekt: Respektlos, wendig und alle Konventionen missachtend, ist Tepito dem herkömmlichen Markt der Discounter immer einen Schritt voraus.

Tepito ist das größte Einkaufszentrum von Mexiko-Stadt, in allerbester Lage, nur ein paar Blocks vom Zócalo, dem zentralen Platz vor dem Regierungsgebäude, entfernt und im ganzen Land bekannt für seine niedrigen Preise und das breite Sortiment. Das Viertel ist gut fünfzig Straßenzüge groß und so etwas wie das schwarze Schaf unter den Bezirken der Hauptstadt, eine laute, hässliche, heruntergekommene Gegend, ein dicht besiedeltes Labyrinth, eine mexikanische Favela. Es gibt Menschen, die dieses Viertel niemals betreten würden, und andere, die nichts lieber täten, als es zu verlassen.

Wenn Tepito das ganze Jahr über ein Irrenhaus ist, dann ist es in den Wochen vor Weihnachten der Basar gewordene Nervenzusammenbruch. Zu Hunderttausenden strömen die Mexikaner in das Viertel, um ihr Weihnachtsgeld auf den Kopf zu hauen. Neben Heiligabend steht mit Heilige Drei Könige das zweite große Gabenfest Mexikos vor der Tür - was der Weihnachtsmann vergessen hat, bringen zwei Wochen später die Reyes Magos, die Zauberkönige. Mitte Januar ist die durchschnittliche mexikanische Familie dann wieder pleite. Doch bis dahin halten ihre Pesos die Tepito AG am Laufen.

Von oben muss Tepito aussehen wie eine riesige Zeltstadt, ein wildes Planendickicht aus behelfsmäßigen Ständen, das durch die Straßen wuchert und die Bausubstanz mittlerweile komplett verdeckt. Es fängt gleich hinter dem Zócalo an, mit ein paar Decken auf dem Gehweg, auf denen USB-Sticks aufgetürmt sind, dann schwillt der Klang an, Stände schießen aus dem Boden, bunte Planen wuchern über den Kopf, und plötzlich ist man mitten drin: verschluckt vom Ungeheuer des mexikanischen Schwarzmarkts.

Eingeklemmt in eine sich unbarmherzig vorwärtsschiebende Menschenmasse, wird man an Ständen vorbeigedrückt, mit Seifenblasen bombardiert, von Wasserpistolen unter Beschuss genommen und mit brutal lautem Reggaeton terrorisiert, dem heißen karibischen Soundtrack der mittelamerikanischen Unterschicht. Während man wie Vieh durch die engen Gassen getrieben wird, einen Schubkarrenkuli im Genick, der einen fortwährend anschnauzt „Vorsicht! Achtung! Schubkarre! Hey!“, wird man Zielscheibe von Koberern, die einen in ihre Amüsierlokale locken wollen, gerät ins Visier von Schminkkünstlern und Piercern, bekommt Quietschtiere ans Ohr gehalten, und fliegende Händler drücken einem unvermittelt ihre Nagelfeilen ins Gesicht.

Ein Besuch in Tepito hat mit einem Einkaufsbummel so viel gemeinsam wie ein Weihnachtsspaziergang mit der Schlacht von Guernica. Die Händler von Tepito verscheuern alles, was nicht echt ist: Jeans von Abercrombie, Jacken von Pull&Bear, Sonnenbrillen von Ferrari und professionell gebrannte Raubkopien aller jemals erschienenen Filme, vier Pesos pro DVD, keine 25 Cent. Wem das Autoradio geklaut oder das Handy entrissen wurde - hier kann er es wiederkaufen.

Dass die Ware nicht echt ist, weiß jeder. „Hecho en Tepito“ - hergestellt in Tepito - ist in Mexiko ein geflügeltes Wort für alles Provisorische, Halbseidene, Unechte, Getürkte.

Laut einem Forbes-Bericht vom letzten Jahr haben neun von zehn Mexikanern mindestens einmal wissentlich ein gefälschtes Produkt gekauft. Der Verlust wird auf knapp hundert Milliarden Dollar geschätzt. Doch wenn es einen Gewinner gibt, dann dieses anarchische Viertel. Tepito ist vielleicht das erfolgversprechendste Geschäftsmodell, das Mexiko zu bieten hat. Ein Paralleluniversum der Konsumindustrie, in dem die Marke zur Ware wird und die Allgegenwärtigkeit der Kopie sie schließlich komplett entwertet.

Zu Weihnachten wird das Sortiment komplett umgestellt

Alle Versuche, Tepito zu bändigen, sind gescheitert. Auf Razzien reagieren die Tepiteños mit Blockade der angrenzenden Hauptverkehrsader Eje 2 Norte oder entführen Touribusse. Laut dem ehemaligen Bürgermeister Marcelo Ebrard sitzen fünf Prozent der Tepiteños in einem der Gefängnisse der Hauptstadt. Die Schädel seiner Bewohner sind rundgeschlagen, ihre Visagen finster, die Arme tätowiert.

Tepito ist kriminell, aber auch auf eine kreative Art flexibel, und kann wie eine Kulisse von einem Tag auf den anderen komplett umgebaut werden. Wo gestern noch ein Fahrradladen stand und Clowns auf Stelzen Seifenblasen über die Köpfe pusteten, kann heute schon ein düsteres Kabuff brüten, vor dem tätowierte Skinheads einen Faustkampf austragen und Gangster auf Motorrollern sich einen Stofffetzen mit Lösungsmittel reinziehen.

An Weihnachten stellt Tepito sein gesamtes Sortiment um: Es gibt meterhohe Piñatas, glitzernde Sterne aus Karton, die kiloweise mit Süßigkeiten gefüllt werden und über den Köpfen der Passanten baumeln wie riesige Seeminen, es gibt Avengers und Barbies in allen Variationen, aufblasbare Supermänner, WWF-Smackdown-Skateboards, Hundewelpen in Schuhkartons, Wasserpistolen, Nerf-Guns, Zwillen und Plastik-MGs aller Größen und Kaliber, Wrestlermasken, Kindergitarren, Styropor-Ironmänner und Rentierkostüme. Rosa Plastikweihnachtsbäume. Mannshoch aufeinander gestapelt liegen die Plüschfiguren, aufgebahrt zum Scheiterhaufen der Kuscheltiere.

Zwischen Ständen mit speckigen Pommes und gebratenen Bananen handeln und feilschen die Städter auf den letzten Drücker noch einen Deal für ihre Liebsten raus. Und auf einmal ist man draußen, verdaut und ausgespuckt vom Monster der mexikanischen Schattenwirtschaft. Auf der Eje 2 Norte wälzen sich die Autos durch den Feierabendverkehr, und die Lichter der Ampeln blinken wie ein riesiger Schwibbogen in der Dämmerung. Na dann, feliz navidad.