Ein einziges Zuhören (Warum ich Musik liebe und wohin sie mich geführt hat)

Essay
zuerst erschienen 2010 in Elke Heidenreich (Hg.), Ein Traum von Musik, Random House, S. 294 - 305

Mein iPod, auf „Shuffle Songs“-Funktion eingestellt, bietet mir eine unvorhersehbare Folge aus den 11.543 Musikstücken an, die auf ihm gespeichert sind: Running Wild, Tindersticks; Ino-Kantate, Gundula Janowitz; La Nostra Morte, Renata Tebaldi; Old Artist, Archive; Hey Porter, Johnny Cash. Konventionellere Musikhörer mögen solchen Art Mix nicht. Ich bin im Grunde auch ein konventioneller Hörer. Mit Klassik Radio kann man mich zum Beispiel jagen. Klassik Radio ist ein Beliebigkeitsgenerator wie das Shuffle-Programm. Mein iPod lässt sich zum Glück so einstellen, dass er mir die Musik vorspielt, die ich hören möchte, in der von mir bestimmten Reihenfolge.

Aber was, wenn der eigene Kopf „Shuffle Songs“ spielt? Die Hörrinde des Großhirns als ein lebenslanges Archiv von Tönen, über deren Einsatz und Verwendung man keine Kontrolle hat, und während man eben noch unwillkürlich aus einer Klaviersonate von Hindemith vor sich hinsummt, hat man im nächsten Moment das russische Volkslied Podmoskovnye Vetschera oder die Sprechmelodie einer italienischen Hostess im Ohr, die einen zum Anschnallen auffordert, obwohl man gar nicht im Flugzeug sitzt.

Gedächtnis lässt sich zwar nicht kontrollieren, ich bilde mir trotzdem ein, dass mein Nervus acusticus ein ausgesprochen eigenwilliger DJ ist, so wie er sich auf der zerebralen Bühne zwischen Innenohr  und Gehirn manchmal viele Stunden lang austobt und dann Charles Ives mit Rammstein, Karel Gott mit einem Schnellkochtopf, Vespa mit Ramazotti mixt, ohne sich um seinen Wirt, mich, zu kümmern. Inzwischen habe ich dafür eine Lösung gefunden, doch dazu später.

Die Wissenschaft sagt uns, das menschliche Hörverhalten wird in früher Kindheit geprägt, durch eindringliche Hörerlebnisse. Vermutlich sind diese Erlebnisse wie viele Ur-Erfahrungen nicht angenehm und werden selten erinnert. Säuglinge, in deren Nähe mit gedämpfter Lautstärke Mozart gespielt wurde, sollen früher als andere auf ihre Umwelt reagieren, und zwar mit mehr interaktivem Vertrauen in dieselbe. Leider werden weltweit vermutlich nur wenige Kinderwiegen mit Mozart beschallt.

Man kann sich vorstellen, wie in den ersten Lebensmonaten Zufälle ein traumatisches Hörerlebnis auslösen, und zwar als eine Art Aufhören. In seiner etymologischen Bedeutung weist das Wort Aufhören auf den Alarmzustand des frühzeitlichen Menschen hin, der im Moment der Gefahr aufhorcht. Der Schreck droht inzwischen nicht aus dem Pandämonium dunkler Vorgeschichte, sondern wird von einer an sich harmlosen Geräuschquelle verursacht. Eine Bachsche Passacaglia, der Schrei einer Möwe oder das Vibrieren einer Fensterscheibe eignen sich neben unzähligen anderen akustischen Einflüssen zur Traumatisierung eines Babys, das sich der Invasion von Geräuschen nicht entziehen kann und stattdessen in Form eines wehrlosen Zuhörens reagiert, das sich in den ersten Jahren ein paar Mal wiederholen mag und das Kind nicht nur seiner Kontrolle darüber beraubt, welche Geräusche es auf seiner Hörrinde abspeichert, sondern auch darüber, welche es wieder (und zu welchem Zeitpunkt) abruft. Das Ergebnis ist ein akustisches Chaos im Kopf.

Man wieß von prominenten Fällen, dass Musizieren einsam machen kann. Im Allgemeinen scheinen Musiker aber doch gesellschaftsfähige Menschen zu sein. Sie geben und sie nehmen (Töne), sie haben ein ausgeglichenes Verhältnis zur Musik und zur Welt. Musik vereint, vor allem jene, die sie praktizieren.

Sie kann aber auch ausschließen. Zum Beispiel Menschen, die Musik lieben ohne sie auszuüben, zum Alleinsein neigen und zu der von Friedrich Nietzsche überlieferten Wahrnehmung, Musik und Tränen ließen sich nicht auseinanderhalten.

Menschen mit einem unausgeglichenen und deshalb oft sentimentalen Verhältnis zur Musik können nicht genau bestimmen, was Ursache, was Wirkung: Macht mich die Musik einsam oder treibt mich die Einsamkeit dazu, Musik zu hören? Ein gestörtes Verhältnis zur Musik ist wahrscheinlich Anzeichen für ein gestörtes Verhältnis zur Welt insgesamt. Musikhör-Junkies ziehen sich gerne zurück, scheuen Gesellschaft, entwickeln pedantisch-leidenschaftliche Beziehungen zu ihren Audiogeräten und -theken, hassen öffentliche Konzerte und verachten jeden Versuch, sich mit Menschen, die ihre Obsession nicht teilen, über Komponisten, Musiker und deren Tun mitzuteilen.

An meiner Wiege wurde bestimmt nicht Mozart gespielt. Immerhin reagiere ich noch heute auf eine Kirchenweise von Paul Gerhardt mit einer Dankbarkeit, wie man sie bei wichtigen Kindheitserinnerungen empfindet. Ob ein dramatischer Höreindruck Ursache dafür ist, dass aus mir ein Zuhör-Junkie geworden ist, kann ich nicht sagen. Vielleicht bin ich ein verhinderter Musiker. Abgesehen von einem einigermaßen anständigen Knabensopran habe ich es in Sachen musikalischen Ausdrucks zu nichts gebracht. Oft genug tauchte seit ungefähr meinem zehnten Lebensjahr die Vorstellung auf, Klavier spielen zu wollen, Trompeter werden zu müssen, aber da war immer ein anscheinend unüberwindliches Hindernis, oder ich konnte mir einbilden, es sei einfach zu spät. Ich bin nur ein paar hundert Meter von Johann Sebastian Bachs Geburtshaus zur Welt gekommen, unterhalb der Wartburg (Tannhäuser!, Liszt etc)., mein Onkel Egon Malsch war jahrzehntelang Kirchenmusikdirektor und Kantor der Herderkirche zu Weimar (und damit Bachnachfolger), und auch sonst gibt es Musiker in meiner Familie. Aber für mich hat es nicht mal bis in die Musikschule gereicht. Meinen Eltern ist kein Vorwurf zu machen. Der Widerstand auf meiner Seite war einfach zu stark und anhaltend.

Als Zweijähriger wurde ich jedoch dabei beobachtet, wie ich vor dem Röhren-Radio in unserem Wohnzimmer zur Elizabethan Serenade auf einem Hocker hin und her wippte. Ich sollte das viele Jahre lang immer wieder tun (zu wechselnden Musikstücken), später immer sorgfältiger darauf achtend, von niemandem dabei gestört zu werden. Richtig los ging diese körperbewegte Hörerei, als meine Eltern den ersten Kassettenrecorder kauften. Denn eigentlich drehte es sich bei diesen Wipp-Sitzungen um das Erlebnis der Wiederholung: Songs der Krautband Novalis, Marc Bolan, T.Rex und der Teenage Dream, oder Victoria de Los Angeles und Fischer-Dieskau mit „Nur wer die Sehnsucht kennt“, zufällig bei Freunden abgestaubte oder von meinen Eltern aufgenommene Stücke: Ich muss solche Sachen jeweils mehrere hundert Male gehört haben, bevor ich – kurze Zeit nach dem Stimmbruch – mit dem Wippen Schluss gemacht habe.

Nicht aber mit der diskreten Zuhörpraxis. Als ich mich mit achtzehn Jahren zum Studium in die sowjetische Provinz Woronesh entsenden ließ, war ein billiger Schallplattenspieler eine dringliche Anschaffung. Es war die Zeit der späten Breshnew-Ära, und selbst in einer vergessenen Stadt auf der russischen Schwarzerde konnte man für durchschnittlich 1.45 Rubel (ca. fünf DDR-Mark) Melodia-Schallplatten mit so ziemlich dem gesamten Repertoire der Weltklassik kaufen. Aber auch Ravi Shankar im Konzert mit Yehudi Menuhin, Folkloreweisen aus Madagaskar und Nicaragua, Charlie Parker oder Simon & Garfunkel. Bestimmt sind meine heterogenen Musikinteressen auf das konfuse Schallplattenangebot im müde und ideologisch nachlässig gewordenen Land des Roten Oktober zurückzuführen.

Und auf den Einfluss jener Multikulti-Szene in den Studentenunterkünften der Staatlichen Universität Wladimir Iljitsch Lenin, in die ich für fünf fröhlich-unbehütete Jahre eintauchte, obwohl mir der Kontakt zu Menschen aus anderen Ländern seitens der Behörden untersagt war.

Unser Uni-Quartier beherbergte nicht nur junge Leute aus dem damaligen kommunistischen Weltsystem, sondern man kam auch aus Quebec, Padua oder Göteborg. Auf den Korridoren des Wohnheims vermischten sich die Stimmen von Bob Marley, Wladimir Wyssotski und Johnny Rotton. Vanessa aus Mocambique zeigte mir Griffe auf der Gitarre, die einen Klang erzeugten, als käme er direkt aus dem Indischen Ozean. Binjam aus Äthiopien spielte auf dem einzigen Klavier im Quartier. Meist spielte er Lionel Richie oder Stevie Wonder, manchmal aber auch „Am Brunnen vor dem Tore“. Er hatte keine Ahnung, dass der Lindenbaum einer anderen Epoche angehörte als die sonstigen Stücke in seinem Repertoire. Für ihn war das deutsche Popmusik. Den Text dazu hatte er sich von einer Freundin aus Cottbus aufschreiben lassen. Da er Deutsch weder lesen noch sprechen konnte, hatte sie ihm die Verse von Wilhelm Müller in russischer Sprache notiert, so gut es eben ging. Binjam sang mit leichtem, äthiopisch-russischem Akzent aus der „Winterreise“.

Musik konnte manchmal verbinden. Aber da war diese wilde Fremde, der (ungreifbar nahe) Krieg mit Afghanistan, die Veteranen nachts an Lagerfeuern im Stadtpark, mit Orden an der Brust, oft mit Verstümmelungen, johlend und mit leergetrunkenen Wodkaflaschen fuchtelnd, bis die Einsatzwagen kamen. Da waren Hunger und nässende Hautekzeme, die Angst vor dem KGB und davor, dass bei fünfundzwanzig Grad Kälte die Heizung wieder ausfallen könne, da waren diese Verzweiflungs-Urlaute einer Bäuerin, die meinem mauritianischen Freund James und mir für zwei US-Dollars ein Kilo Rindfleisch überließ und dazu hervorstöhnte: Alles was ich hab!

Für einen Jungen aus der kleinen, spießigen DDR war das manchmal ein bisschen viel. Ich verschloss mich der Fremde, ich hörte lieber weg und zu. Der Teller drehte unaufhörlich Melodia-Schallplatten. Irgendwann kannte ich die Tristan-Aufnahme von Covent Garden aus dem Jahr 1953 mit Furtwängler, Flagstad und Sudhaus auswendig. Auch ohne den entsprechenden romantisch-intellektuellen Kontext hätte das „Erbleicht die Welt mit ihrem Blenden… Selbst dann bin ich die Welt“ einem Zuhörer von Pink Floyd’s The Wall (Crazy, over the rainbow, he is crazy…) oder Leonard Cohen’s „Waiting for a miracle“ vertraut vorkommen müssen.

Jedoch bekam ich auch den Kontext. Der Kulturoffizier im Besatzungsheer der Roten Armee Alexander von Dymschitz soll nach 1945 bei der Verteilung von Buchbeständen aus deutschen Bibliotheken auf sowjetische Universitäten auch Woronesh bedacht haben. Tatsächlich fand ich dort eine der berühmten (und für einen Ostdeutschen damals sonst unzugänglichen) Grisebach-Ausgaben von „Die Welt als Wille und Vorstellung“. Die Lektüre spendete Trost. Sie bestätigte mir zum einen, dass ich in der schlechtesten aller denkbaren Welten zu Hause war, zum anderen, dass die Musik die höchste Kunstform sei. Sie bringe Selbstentzweiung und Kampf auf dem höchsten Niveau zum Ausdruck. „Die Musik ist also keineswegs, gleich den andern Künsten, Abbild der (platonischen) Ideen, sondern Abbild des Willens selbst. Sie stellt zu allem Physischen der Welt das Metaphysische, zu aller Erscheinung das Ding an sich dar.“ Offiziell studierte ich in Woronesh die damals junge Wissenschaft Quantenchemie. Dank Schopenhauer und Dymschitz lernte ich aber vor allem das Chaos um mich herum akzeptieren und bekam den Schlüssel in die Hand, aus dem Breshnew-Tollhaus zu entfliehen: die Musik. Eine Plastinka mit Svjatoslav Richters Einspielung von Prokofjevs 7. Sonate war in jedem Falle einer Laborstunde zur Herstellung von Polyurethan-Harzen vorzuziehen.

Ein paar Jahre darauf, im Zeitalter der Perestroika, kehrte ich nach Moskau zurück. Eine österreichische Freundin machte mir ein folgenreiches Geschenk: Sie überließ mir ihren Walkman. Die dazugehörige Kassette enthielt eine einzige Aufnahme, und zwar Arvo Pärts Tabula Rasa. In den folgenden Wochen trieb ich mich zu Fuß und mit der Metro in einer seit meiner Studienzeit veränderten Stadt herum. Da waren die Coca-Werbungen auf der Gorki-Straße, Mercedesse am Roten Platz, die einem Speaker lauschende Menge am Puschkin-Square, glatzköpfige Kinder mit pergamentener Gesichtshaut, in Rollstühlen durch die Straßen gerollt, mit handbemalten Pappschildern auf dem Schoß: Ich komme aus Prypjat. Ich erlebte zum ersten Mal ein Roadmovie, in dem ich selbst mitspielte und das mich vor und zurück durch die Zeit des späten Sowjetsozialismus spulte. Die Filmmusik stammte von einem estnischen Komponisten, spröde Akkordfolgen für Gideon Krämers Violine, von einem allmählich verstummenden präparierten Klavier begleitet. Auf meinen endlosen Spaziergängen durch das kaputte Perestroika-Moskau wurde ich zu einem Walkman. Das Gerät ein Körperteil, eine Prothese, um mit dem Chaos um mich herum und immer auch in meinem Kopf klar zu kommen. Zwar hatte ich mit Vierzehn das Wippen aufgegeben, aber jetzt konnte ich mich in aller Öffentlichkeit bewegen und zuhören, unter Aus- und Einschluss aller Öffentlichkeit.

Knapp zwei Jahrzehnte später, irgendwie in einem anderen Leben, gehörte ich zu den ersten iPod-Benutzern in meiner Umgebung. Ich habe normalerweise für technologische Neuigkeiten nicht sofort etwas übrig. Diesmal war es anders. Der iPod schützt mich vor allem Lärm, ganz gleich, ob er von außen oder innen kommt. Zwischen der von mir ausgewählten Musik und meiner Hörrinde steht nichts mehr, sobald ich mich anschließe. Der DJ im Kopf tut, was er soll, und die Umwelt lässt mich in Ruhe.

Ich sollte Schopenhauer als (Musik-)Erzieher später dankbar sein. Weder Polyurethane noch die Molekülorbitalmethode zur Beschreibung chemischer Bindungen haben meinen beruflichen Weg für lange Zeit markiert. Kaum war in Deutschland die Mauer gefallen, bekam ich das unglaubliche Angebot, gemeinsam mit einem Kollegen ein deutsches Dreisparten-Stadttheater zu übernehmen: unter anderem mit Orchester, Chor und Sängerensemble. So etwas nennt man Quereinsteigen, obwohl es in meiner Situation eher der Bewältigung der Eigernordwand ähnelte, denn ich hatte zwar eine Menge adäquater Musik im Kopf, aber natürlich Null Praxis. Das war nicht nachzuholen, bestenfalls zu ersetzen durch die Kompetenz von Mitarbeitern, denen man Vertrauen schenkt. Im Laufe der Zeit entwickelte ich möglicherweise ein „Gespür“ dafür, ob eine Sängerin für die Partie der Dorabella geeignet war oder ein Dirigent das richtige Tempo für die Stelle mit dem Kinderchor in La Boheme gefunden hatte. Eine heimliche Distanz gegenüber den Praktikern blieb.

Als wir zu unserem Abschied von Basel ein Buch über die Programme und Aufführungen zwischen 1996 und 2006 herausgaben, waren darin mehr als dreihundert Produktionen in Oper, Schauspiel und Ballett verzeichnet, jährlich bis zu achthundert Vorstellungen: darunter Raritäten wie Zimmermanns Soldaten, Rameaus Les Paladins oder die musiktheatralischen Projekte von Helmut Oehring, Herbert Wernicke, Christoph Marthaler oder Joachim Schlömer. Unser Theater galt als besonders ambitioniert in der szenischen Interpretation von Musik, die nicht unbedingt für die Bühne geschrieben worden war.

Heute muss ich bekennen, es geht nichts über das Hören. Auch nicht in der Oper. Immer häufiger habe ich mich in den letzten Jahren anlässlich sogenannt umstrittener Aufführungen wie ein alternder Abonnent in den Sitz gedrückt und die Augen geschlossen. Was für eine Labsal das manchmal war, nicht den Erziehungsmaßnahmen eines Regisseurs ausgesetzt zu sein. (Ich höre das Hohngelächter von Menschen, die diese Zeilen lesen und sich über Jahre aufgeregt haben über meine Theaterprogrammatik, in der es immer auch um modernes Regieführen ging. Ich muss selbst lachen.)

Ich gestehe, Anfang der neunziger Jahre ein paar Mal den Berliner Club Tresor besucht zu haben. Natürlich habe ich mir nicht gleich eine dieser Partisanenuniformen zugelegt, in denen das Hardcore-Publikum gewöhnlich auf der Tanzfläche erschien, aber Techno war wie das Pfeifen im Dunkel ungerufener Stimmen und Geräusche. Techno wurde vorübergehend eine neue körperbewegte Zuhörpraxis. Ich hatte auch Sympathie für die unironischen Proklamationen, die diese Szene hervorbrachte. Von einer Vergeistigung der Maschine war die Rede, technologischer Spiritualität und: „Techno überwindet, was Adorno die Entfremdung des modernen Bewusstseins durch die Mechanisierung nannte“.

Inzwischen ist über Rave, die martialische Tonverbindung zwischen Körper und Maschine, Chill out oder Down tempo vielfältig und sicher auch erschöpfend geschrieben worden. DJing gehört zu den Fakultativangeboten vieler Privatschulen, und Stars wie Tiesto füllen Stadien, manchmal sogar zu Olympischen Spielen. Am Anfang stand (wie immer bei neuen Musikbewegungen) eine distinkte Gruppe von (in diesem Falle) Elektro-Gurus und -Jüngern, die sich in dunklen Winkeln des postindustriellen Zeitalters von Detroit, Manchester und schließlich auch Berlin einnisteten und diese mit hochfrequenten Acid-Tracks gegen die Kommerzialisierung verteidigten. Und das mit einer Dickköpfigkeit, als seien sie Opernintendanten der Achtundsechzigergeneration. Möglicherweise aus technologischen Gründen scheint diese Musik leicht verderblich zu sein. Die meisten Produkte klingen schon in der nächsten Saison wie dilettantische Ambitionen eines Elektrobastelvereins. Und die sterblichen Überreste des Techno-Kults huschen inzwischen mit 40 Dezibel durch die Massageräume von Luxushotels.

Bis ans Ende der Welt kann das Zuhören gehen. Vor sieben Jahren hatte ich die Vorstellung, die Wüste Gobi in der Mongolei könne so etwas wie ein anthropologischer Konzertsaal sein. Oder ein natürlicher iPod mit Stimmen untergegangener und über die Steppen verstreuter Völker. Das Reich Dschingis Khans, größtes Imperium aller Zeiten, die Siedlungen und Städte der Mongolen waren längst von der Gobi aufgesogen, aber in den Gesängen der Nomaden hallten alte Verwandtschaften nach. Ich hatte schon früher ein paar Mal Obertonsänger gehört, die zwei Töne zugleich anstimmen konnten und sich selbst mit der Pferdekopfgeige begleiteten.

Wir drehten einen Film über die Musik der Hirten und ihrer Nachbarn an der Seidenstraße, unter anderem an einem Canyon, in dem es vor Jahrmillionen zu einem Massensterben von Sauriern gekommen sei soll. Auf dem Weg dorthin stießen wir auf dem Feld zwischen den Grasnarben auf ausgetrocknete Kadaver von Pferden, die im Winter zuvor verhungert sein mussten. Die Steppe war zunächst wie vom Horizont abgeschnitten, und uns schien, niemand habe zuvor dieses Land betreten. Irgendwann tauchten Dünen auf, und plötzlich standen wir vor senkrechten Sandsteinwänden in der Farbe von abgehangenem Rindfleisch. Ich hätte mich nicht gewundert, wenn sich dort oben eine Flugechse festgeklammert hätte. Stattdessen stand in einer Nische diese Frau in einem kegelförmigen, ultramarinblauen Kleid. Sie trug eine schwere Perlenkette und an jeder Hand vier Ringe. Ihr Kopf war mit einer mitraartigen Haube geschmückt. Dann begann sie zu singen. Nie vor- oder nachher bin ich einem Menschen mit einem Tonumfang von mindestens zweieinhalb Oktaven begegnet. Was diese Frau von sich gab, könnte so etwas wie ein Urlaut gewesen sein. Sie sog ihre Töne irgendwie aus der Tiefe des Canyons und warf sie in den stahlblauen Himmel. Die Frau sang ungefähr zehn Minuten, bevor sie zum ersten Mal Luft holte. Es hagelte auf uns herab. Noch heute beginnt es manchmal in meiner Kehle zu vibrieren, und ich habe das Gefühl, die Stimme dieser Frau breite sich in meinem Rachenraum aus.

In den letzten drei Jahren habe ich die meiste Zeit im arabischen Raum, vor allem in Dubai, verbracht. Ich bin dort zum Beispiel Menschen begegnet, die vor zwanzig Jahren aus Birmingham oder Leeds an den Golf gezogen waren und irgendwann in der Wüste für sich und ihre Landsleute einen Kirchenchor gegründet hatten. Musik als ein letztes Festhalten an der Heimat. Zum Konzert einer persischen Popdiva tauchten Tausende Iraner auf, die in Dubai leben, ein paar von ihnen sahen wie Kopien von Michael Jackson aus. Dubai, die Drehscheibe zwischen Ost und West, vorübergehende Destination für moderne Nomaden aus aller Welt und Heimat der Beduinen, zeigt auf ehrliche Weise das Chaos der Globalisierung her. Es gibt keine Gewissheit, nichts ist für immer. Die Stimmen der Völker schwirren durcheinander als Kanon mit unendlichen Variationen. Keine Leitkultur. Nicht ein DJ, sondern Hunderte. Konventionellere Kulturmenschen mögen diese Art Mix nicht. Mir scheint er alle Mal besser als das Geschrei des Fundamentalismus. Ich habe dem Gesumm irgendwie gerne zugehört.

Zuhause hat mit der Zeit eine neue Bedeutung bekommen. Das Land, in dem ich aufgewachsen bin, gibt es nicht mehr, ebenso wenig jenes, in dem ich studiert habe. Das ist irgendwie gut so, verursacht keinen Phantomschmerz, aber manchmal verwundert es noch, wie es möglich war, dass das alles so schnell unterging. Zuhause ist nicht Thüringen, nicht Deutschland oder die Schweiz, wo ich heute lebe. Man ist versucht, sich einen Ort der Vertrautheit zu erhalten. In meinem Falle ist Zuhause Unterwegs. Unterwegs als ein vertrauter Zustand, fast schon ein Ort. An den ich zurückkehre wie andere nach Hause zurückkehren. Ich bilde mir ein, Unterwegssein und Zuhören sind Synonyme. Das Hörchaos in meinem Kopf hat sich mehr und mehr gelegt, seitdem ich – vor allem, wenn ich unterwegs bin – das Repertoire der Musik, die ich höre, klein halte. Im Grunde höre ich monatelang immer wieder dieselben dreißig Stunden Musik. Sie sind die Essenz meines Zuhauses, mein Antikmöbel, mein Küchengeruch, mein Rosenstock vor dem Fenster und die Grafik an der Wand. Dreißig rationierte Stunden Musik als (vielleicht) letzte Heimat. Und das Zuhören ist der Weg dorthin.