Ein Fegefeuer namens Berlin

von 
Fiktion
zuerst erschienen am 8. August 2010 in Die Welt
Tobt in der deutschen Hauptstadt wirklich das beste Nachtleben der Welt? Der Journalist Joseph Roth hatte bereits 1930 seine Zweifel – und schrieb einen Klassiker über die „Berliner Vergnügungsindustrie“. Genau 80 Jahre später lädt Marc Fischer sein Idol zu einer imaginären Tour durch die Party-Metropole

An einem Sommerabend des Jahres 2010, ich fahre gerade mit meiner frisch frisierten Vespa durch Berlin, läuft ein Herr mittleren Alters vor mir über die Straße.

Er ist klein und schmal, hat einen Schnurrbart im Gesicht und trägt ein rosa Hemd mit gepunkteter Fliege zum Maßanzug mit eng geschnittenem Bein. Es ist der Schriftsteller/Österreicher/Jude/Katholik Joseph Roth, und nichts Besonderes wäre an der Sache, wäre nicht eben dieser Schriftsteller/Österreicher/Jude/Katholik schon seit über siebzig Jahren tot. Es wundert mich aber auch nicht groß: Manche Menschen sterben nie; dazu habe ich erst vor ein paar Tagen einen Text von Roth gelesen, er hat ihn 1930 für die „Münchner neueste Nachrichten“ geschrieben. Dieser

Text, eine Glosse namens „Berliner Vergnügungsindustrie“, beginnt so: „Manchmal in einem Anfall heilloser Melancholie trete ich in eines der üblichen Berliner Nachtlokale, nicht etwa, um mich zu erheitern, sondern um die Schadenfreude zu genießen, die mir der Anblick des industriellen Frohsinns bereitet.“ Tristesse, Miesepetrigkeit, Ennui - redete Roth wirklich vom weltbekannten Spaß-&-Exzess-Berlin der Endzwanziger/Ganzfrühdreißiger Jahre des letzten Jahrhunderts? Hatte er sich eventuell verschrieben oder die Stadt verwechselt mit dem öden Frankfurt oder stumpfen Moskau zu der Zeit? Offenbar nicht, denn im gleichen Ton ging’s weiter: Roth, damals in Berliner Hotels lebend, zog durch die Stadt und beklagte sich über die „unsagbare Eintönigkeit“ des Nachtlebens, über den „einheitlichen Typ des Nachtbummlers“ mit der „Nonchalance einer Schaufensterpuppe“, über die „infantilen schmalhüftigen“ Bardamen, die alle aus „dem gleichen Schönheitsmaterial gemacht“ zu sein schienen. Die Vergnügungs- und Freudenkultur industrialisiert, gleichgeschaltet und von Aktiengesellschaften geleitet - und all das drei Jahre, bevor Hitler loslegte!

Roths Text, ein gigantischer Verriss der Berliner Club- und Bar-Kultur, ist damit ein Großangriff auf die einzige Eigenschaft der Stadt, die bisher weder von Berlinern noch von Nicht-Berlinern in Zweifel gezogen wurde: Dass es hier ein Nachtleben gäbe, das mit nichts auf der Welt vergleichbar wäre.

Arm, aber sexy, weil: Egal was ist, ob Krise, Krieg, Kinderdealer in Neukölln oder Hartz IV, gut trinken kann man in Berlin immer, gibt ja praktisch mehr Kneipen als Supermärkte und Wäschereien. Da Roth, Alkoholiker bis zum bitteren Ende (Delirium Tremens Mai 1939 in Paris), aber nicht unter dem Verdacht steht, von Bars und Drinks keine Ahnung zu haben, müssen seine Argumente ernst genommen werden. Wir wollen darum ihn, Roth, durch das Bar- und Club-Berlin von heute führen, mit ihm ausgehen also, um herauszufinden, ob die Stadt was taugt oder wir uns nicht seit Jahren einer großen Halluzination hingeben. Denn wenn Berlin überhaupt existiert, dann ja nur nachts, ne c’est pas?

Es ist aus diesem Grund, dass ich Roth anhalte und am Jackettärmel zupfe. Erstaunter Blick, etwas rot sind seine Augen, doch ich mag sie sofort.

„Trinken Sie was mit mir, Herr Roth?“ „Warum? Kenn‘ ich Sie?“ „Erzählen Sie mir nicht, dass Sie keinen Durst haben“ „Zahlen Sie? Ich habe nie Geld, müssen Sie wissen.“ „Selbstverständlich“ „Nun gut“, sagt Roth und springt auf. Ich gebe ordentlich Gas, um ihn zu beeindrucken, Roth krallt sich fest, es gefällt mir.

„Warum halten Sie vorm Kaufhaus Jonaß?“, fragt Roth. Wir stehen vor dem Riesengebäude Ecke Torstraße/Prenzlauer Allee, in dem sich seit Kurzem eine Dependance des Londoner Members-Clubs „Soho House“ befindet. „Es gehörte mal dem Juden Golluber, bis er von den Nazis enteignet wurde. Ich trank mal Schnaps mit ihm, im ,Romanischen Café‘, vor langer Zeit. Stefan Zweig war auch dabei.“

„Erst hatten die Nazis das Gebäude, dann die Kommunisten und jetzt ist es eine Art Vergnügungspark für junge Leute mit Geld und einflussreichen Bekannten, die darüber abstimmen, ob man mitmachen darf oder nicht“, sage ich, während ich die Helme verstaue.

„Und Sie sind Mitglied in diesem Verein?“ „Nein, aber eine Frau hat mich eingeladen, mal vorbeizuschauen.“ „Solange wir was zu trinken bekommen, soll’s mir recht sein“, sagt Roth. „Aber warum stehen da Tischtennisplatten im Foyer? Sind Bars und Hotels heute Orte, an denen man erst mal Sport machen muss, bevor man trinken darf?“ „Im Berlin von heute manchmal ja.“

Es fühlt sich gut an, mit Roth unterwegs zu sein. Es gibt ja nicht mehr viele Typen wie ihn: Flaneure, die keine Wohnung haben und von Ort zu Ort driften; Heimatlose, die trotz allem immer auf der Suche sind. Roth war schon „on the road“, bevor der Beatnik Jack Kerouac 20 Jahre später diese Art der Existenz berühmt machte; und von überall, wo er war, in Polen, Russland, Deutschland, Österreich, Frankreich, hat Roth Geschichten und Texte mitgebracht, die bis heute zum Schönsten und Traurigsten gehören, was man lesen kann.

Der Aufzug entlässt uns in die Bar im siebten Stock. Sofort leuchtet Roths Gesicht auf: Ledersofas, ein Rundtresen, livrierte Kellner - hier sieht alles so aus wie in den Hotelbars in Wien und Paris, in denen Roth Bücher wie „Hotel Savoy“, „Radetzkymarsch“ und „Hiob“ geschrieben hat. Das „Soho House“ scheint sich die Zeit Roths zurückzuwünschen, mit dem Unterschied, dass hier keine Maßanzugträger mit Goldfedern an den Bar-Tischen sitzen und Novellen schreiben, sondern bloß ein paar Typen mit MacBooks, die so tun, als würden sie hoch konzentriert arbeiten.

Roth will gleich an den Tresen, doch ich ziehe ihn weg, den ersten Drink wollen wir auf der Dachterrasse nehmen, denke ich, die Aussicht wird Roth die Miesepetrigkeit seiner Glosse austreiben.

„Dit is Ballin!“, sage ich darum und zeige, nicht unstolz, auf den Alexanderplatz und das Regierungsviertel weiter hinten, das im Sonnenuntergangslicht vor uns ausgebreitet liegt. „Dit is nich Ballin. Dit is Amerika“, sagt Roth. Er weist auf den grün gekachelten Pool und die Halbnackten, die dort auf Polsterliegen herumliegen. Dialoge auf Englisch umwehen uns, sie handeln von Photography, The Art World und Fashion-Editorials.

„Obwohl die Sonne scheint, friert mir hier ein bisschen“, meint Roth. Es ist unsere erste Begegnung mit der Gleichförmigkeit der internationalen Ausgehkultur, die er in seinem Text beschrieben hat: „In allen Städten ein ganz bestimmter, einheitlicher Typ von jugendlichen, das heißt alterslosen Genießern… glattrasiertes Gesicht und straff zurückgekämmtes Haar … und diese Lässigkeit aus den Modejournalen … diese falsche Weltmüdigkeit im gläsernen Blick.“

Und ja, so ist es auch ein bisschen am Pool des „Soho House“: Ein Großteil der Männer –Fotografen, Chefredakteure, Schauspieler irgendwie – ist in exakt demselben Hautton gebräunt (Medium Bronze); sie scheinen teure Pflegeprodukte zu benutzen und tragen zur Betonung ihrer im Fitness-Studio herausgearbeiteten Brustmuskulaturen alle dieselben tief ausgeschnittenen V-T-Shirts zu engen Hosen. Man kann nicht sagen, wie alt sie sind oder ob sie schon Kinder haben oder jemals welche zeugen werden. Etwas Homosexuelles ist auch an den Heterosexuellen, die mit ihren schönen Frauen am Pool herumpusseln. Es scheint der uniforme Stil dieser Welt zu sein, die nicht mehr zwischen Job/Freizeit unterscheidet, sondern beides stets für sich beansprucht.

Bloß was das Gesichtsdesign betraf, hat Roth sich geirrt: Vollbärte sind häufiger anzutreffen als Glattrasierte. „Warum diese ungepflegten Bärte?“, fragt Roth, während wir uns zwei Bier und Hamburger mit Pommes bestellen, da die Küche des „Soho House“ nicht für ihre österreichischen Mehlspeisen berühmt ist.

„Um härter zu wirken vielleicht“, mutmaße ich und nehme einen Schluck Bier. „Außerdem befinden wir uns im Krieg mit den Taliban.“ „Nach der Monarchie kam nichts Gutes mehr zustande“, sagt Roth und sieht traurig durch mich hindurch, vielleicht in die von ihm so geliebte k. u. k. Vielvölkerstaatszeit. Leider habe ich die Handynummer seines Freundes Otto von Habsburg nicht, ärgere ich mich.

Zwei Drinks später verlassen Roth und ich das „Soho House“. In dem Restaurant „Grill Royal“ bin ich mit meinem Freund Lothar verabredet. „Auch er trägt Vollbart, ist aber ein feiner Kerl, nicht ungebildet auch“, briefe ich Roth, damit er nichts falsch macht.

Im „Grill“ selbst ist nichts los, darum warten Roth und ich mit Bieren in der Hand vor dem Laden. Die Spree schimmert im Mondlicht, er ist entweder voll oder fünfsechstelvoll, so genau weiß man das beim Mond ja nie.

„Ich mag die Spree“, sagt Roth in die Nacht hinein. „Obwohl sie mit der Seine natürlich nur das S gemeinsam hat.“ Die Seine ist wichtig in Roths letzter und einer seiner bekanntesten Geschichten, „Die Legende vom heiligen Trinker“. Ein Trinker wie er bekommt Geld von Gott, will es ihm immer wieder zurückgeben und vergeht. Roth mochte Gott, aber gegen die Nazis in Deutschland hatte Gott nichts machen können, darum war Roth nach Paris gegangen und hatte immer mehr getrunken, Wein und Schnaps und Gin schon zum Frühstück.

„Trinken Sie lieber oder schreiben Sie lieber, Herr Roth?“„Ich schreibe lieber, als ich trinke, aber ohne zu trinken, schreibe ich nichts“, sagt er. „Ich komme einfach mit der Welt nicht zurande. Ich kenne sie nur, wenn ich schreibe, und wenn ich die Feder weglege, bin ich verloren.“ Es ist vor allem dieser Ton, den man nach dem Lesen seiner Texte nicht mehr aus dem Kopf bekommt. Egal, wovon er schrieb eigentlich.

Lothar kommt. Roth und er mögen sich sofort, wir entscheiden, die Friedrichstraße herunterzuwandern zu einer Bar, dem „King Size“.

Sofort ist klar, dass es dort ganz toll ist: Weil der Laden endlich mal wieder klein ist und nicht riesengroß wie sonst alles im Berlin der letzten Jahre, weil’s hier ja angeblich so viel Platz gibt. Zu viel Platz aber hat schon oft geschadet. Wer zu viel Platz hat, sieht sein Gegenüber nicht; wer zu viel Platz hat, kriegt nichts mit und geht unter im industrialisierten Vergnügen. Clubs wie das „Cookie’s“ oder „Weekend“ sind mittlerweile leider so geworden.

Das „King Size“ dagegen ist so, wie eine Bar zu sein hat: eng und unbequem, viele aufgeregte Menschen drängen sich davor, Tanzmusik aus dem New York der frühen 80er-Jahre ist zu hören. Hübsche Frauen rauchen hübsche Zigaretten; der Musiker Maximilian Hecker erzählt traurige Liebesgeschichten; der Autor Moritz von Uslar feiert seinen vierzigsten

Geburtstag und trägt einen Hut, den Roth ganz chic findet. Auch die Schriftstellerin Helene Hegemann ist da, sie sitzt auf einem Kantstein, ich erkenne sie an ihrer berühmten Haarfrisur. Schnell erzähle ich Roth von ihrem Wahnsinnserfolg, damit er mitreden kann.

„Und, kann’se schreiben?“, fragt Roth.“ „Schreiben kann’se, aber manchmal schreibt’se auch ab“, sage ich. „Das sollte man eigentlich nicht. Aber sie ist jung, nicht wahr?“ „Sehr jung. Und sie soll ganz gut saufen können, für eine Achtzehnjährige, heißt es.“

Lothar kommt mit frischen Vodka Tonics zu uns rüber.

„Na dann, Prost!“, sagt Roth und lacht, zum ersten Mal richtig an diesem Abend.

Das „King Size“ ist so gut, dass es ihn all seine Mäkeleien an der Berliner Vergnügungsindustrie mit einem Schlag vergessen lässt. Er flirtet sogar mit einer Amerikanerin, Komikerin aus Los Angeles. „Ist das Ausgehen nicht vielleicht der zivilisatorischste Akt, den der Mensch je erfunden hat?“, schreie ich Roth durch den Lärm zu. „Neben der Monarchie - JA!“, brüllt er zurück, durch das wunderbare Sirren und Flirren überall.

Es ist kurz nach fünf Uhr morgens, ich bin schon etwas müde, aber einen Ort muss ich Roth noch zeigen. Es ist die Art Ort, für die Berlin in den letzten Jahren bekannt geworden ist; der Grund, warum so viele Amerikaner, Spanier, Franzosen herkommen: die „Bar 25“. Auf kaum einen Platz könnte man Roths Vergnügungsindustrie-Kritik eigentlich mehr anwenden als auf diese Bretterbudenlandschaft am Spreeufer zwischen Mitte und Friedrichshain: Tage- und nächtelang tanzen die Menschen hier zu Elektromusik im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit und scheinen reproduzierbare Gefühle abzurufen, viele mit Chemikalien, wenige ohne.

Mit achtzig, neunzig Sachen fliegen Roth und ich auf der Vespa durch die Stadt. Dann sind wir da.

Typen mit Kappen und dreckigen, zerrissenen T-Shirts umgeben uns, während wir uns an den Holzbauten und unter den Bäumen entlang zur Bar vorarbeiten; alles stinkt, schwitzt, tropft. Zwei Jungs in Matrosenanzügen prosten uns zu, auf einer Schaukel sitzt eine Meerjungfrau mit großen Pupillen.

Ich nehme Roth an die Hand und ziehe ihn durch die Menschen.

„Wo zur Hölle sind wir - in der Hölle?“, fragt Roth, der von den Tanzenden nach rechts und links geschubst wird, sodass ihm die Fliege verrutscht. „Eher ist’s das Fegefeuer. Die Menschen verschwinden, werden aber ein paar Tage später auch wieder ausgespuckt, wenn sie Glück haben.“

Endlos langer, melancholischer Blick aus den wunderschönen roten Josephrothaugen. „Wenn’s 1930 auch so gewesen wäre, hätte ich damals vielleicht mehr Spaß gehabt.“ Und dann, genau zu Sonnenaufgang, ist er verschwunden.