Fanny Elssers Fuß

Feuilleton
zitiert nach: Hans Bender [Hrsg]: Klassiker des Feuilletons, Stuttgart 1967. S. 63-71.

Im Prater ist gegenwärtig ein Schuh Fanny Elßlers zur Schau gestellt, ein leichtes Erzeugnis aus Leder und Atlas, in Welchdem die große Tänzerin einstmals eine der anmutigsten Rollen ihres Repertoires, die Marcelline in dem Ballett „Das übel gehütete Mädchen“, getanzt hat. Eine weibliche Fußbekleidung ist und bedeutet viel; sie ist eine geschäftige Weckerin mannigfaltigster Gefühle, und man begreift: die Sitte ritterlicher Polen, die aus dem Schuh, indem sie ihn, von dem schönen Fuße gestreift, als Becher an den Mund führen, die Gesundheit ihrer  Dame trinken. Vollends der Schuh einer Tänzerin! Er ist ja die Hülle des vornehmsten Werkzeuges, womit sie arbeitet, die Maske und Verräterin des Fußes, der die Grundlage ihrer Persönlichkeit, ihres Talents und ihrer Kunst bildet. Es hat in Wien, wo schöne Frauenfüße gedeihen, wohl nie einen mehr bewunderten, höher gepriesenen und volkstümlicheren Fuß gegeben als den Fuß Fanny Elßlers. Noch ist es so lange nicht her, da konnte man bei uns ältere Leute erzählen hören, daß Fanny, als sie noch ein Kind war, von ihrer Mutter in einer Butte rücklings in die Tanzstunde getragen wurde. Diese Mutter, gab man an, sei eine Verkäuferin auf dem Naschmarkte gewesen, eine Fratschlerin, wie das Wiener Wort lautet.

Man denke sich das lebendige Bild, wie die derbe Frau die Butte schleppt, aus welcher, während die kleinen Hände den Rand des Holzgeschirres fassen, ein zartes Figürchen mit zierlicher Nase und hellen Augen halb ängstlich, halb munter hervorguckt. Von den Vorübergehenden würden die einen ob des lieblichen Schauspieles freundlich gelächelt, die anderen würden spöttisch den Kopf geschüttelt haben, denn an die glänzende Zukunft eines armen Kindes glauben nur die wenigsten Menschen. Nur sind beide Angaben, die von dem Stande der Mutter und die vom Tragen der Butte, leider unrichtig. Erst nach Fanny Elßlers Erfolgen ist dieses Volkslied von ihrer Kindheit gedichtet worden. Fannys Eltern gehörten dem Kreise der Halbbildung an, wie denn der Vater des Mädchens der Abschreiber und eine Art Sekretär des alten Joseph Haydn gewesen ist. Auch ist es ja nicht unbekannt, daß Haydn, dieser Urgroßvater des Wiener Walzers, die kleine Fanny aus der Taufe gehoben und daß er ihr ein Goldstück in die Windel eingebunden hat. Das sind die schlichten Tatsachen, die jedoch in ihrem scheinbar zufälligen und doch so geistreichen Zusammenhange wunderbar genug sind.

Jene Legendenbildung ließ sich wohl halb unbewußt von zwei Beweggründen leiten: einmal sollte die Künstlerin, deren Tanzruhm die ganze Welt erfüllte, ein echtes Wiener Kind, sie sollte aus dem tiefsten Schoße des Volkes aufgestiegen sein, und zum andern durfte der noch in der Entwicklung begriffene Fuß, der zu den wundersamsten Sprüngen erlesen war, das harte Pflaster dieser Erde nicht berühren.

Bei der Betrachtung des ausgestellten Tanzschuhes, der allerdings mehr Raum gewährt, als für das übliche Ideal eines Frauenfußes vonnöten wäre, entsann ich mich einer kleinen Forschungsreise, die ich schon vor mehreren Jahren unternommen hatte, um hinter die Spuren des Fußes der verewigten Tänzerin zu gelangen. Ihr Fuß mußte ja irgendwie und irgendwo, sei es als Zeichnung, sei es in Gips oder Marmor, festgehalten sein. Ich führte mich bei Fräulein Kathi Prinster ein, der Cousine Fanny Elßlers, deren treue Lebensgefährtin sie von Kind auf bis ans Ende gewesen ist. Fräulein Prinster wohnte in einer der stillen, kühlen Gassen, die sich von der Kärntner Straße nach der Seilerstätte hinabziehen. Man ging eine steile Treppe hinauf; der Tritt hallte vor Einsamkeit. Das Stubenmädchen öffnete, meldete: die Dame des Hauses sei zu sprechen. Das Empfangszimmer war mit altmodischen, mageren steifen Einrichtungsgegenständen ausgestattet, an den Wänden hingen Erinnerungen an Fanny Elßler. Die Stubenluft war von einer faden Reinheit, als ob hier kein warmblütiges Wesen  atmete. Nicht lange, so trat Fräulein Prinster aus einer Seitentür herein, wie aus der Schachtel genommen; ein schneeweißes Häubchen auf dem Kopfe, graue Löckchen an den Schläfen, und aus dem schmalen Gesicht schauten kluge alte Augen, die auf dieser Welt wohl mehr gesehen haben mochten, als der Mund zu sagen für gut fand.

Sie kam mir mit altmodischer Grazie liebenswürdig entgegen und empfing mich gleichsam mit verbindlichen Grüßen von Fanny Elßler, die mich wohl gekannt habe. Sie zeigte mir mehrere Nachlasstücke ihrer berühmten Base, unter anderen ein Taburett, auf welchem Frau La Roche, die Gattin des Burgschauspielers, Fanny Elßler in ihren beliebtesten Rollen in Stickerei verewigt hatte. Auch brachte sie eine in dunkelvioletten Samt gebundene Mappe herbei, umrahmt von elfenbeinernen Zierstäbchen, in der Mitte des Umschlages die zierlich verschlungenen Anfangsbuchstaben von Fanny Elßlers Namen. Fräulein Prinster machte mir diese Mappe samt Inhalt zum Geschenke. Sie enthielt eine lange Reihe von Zeitungsurteilen über Fanny Elßlers Tanzleistungen,die aber, voll überschäumender, nicht selten geradezu toller Bewunderung, zur Bezeichnung der ihr eigentümlichen Kunstweise nur herzlich Wenig beibringen. Als Prachtstück lag eine auf Atlas gedruckte „Wiener Zeitung“ bei. Als biographisches Merkzeichen der wahrhaft jungfräulich erhaltene, mit Goldleisten umrahmte Zettel des Wiener Operntheaters vom 21. Juni 1851 - dem Tage, an dem Fanny Elßler von den Brettern geschieden ist. Fräulein Prinster ward immer wärmer, je mehr sie von ihrer Fanny sprach, obgleich sie sich mehr in begeisterten Allgemeinheiten bewegte, als auf Einzelheiten einging. Als ich sie fragte, ob sie sich an Gentz erinnere - „Gentz?“ fragte sie und schien sich zu besinnen. „Ach ja“, sagte sie dann, „der gute alte Herr!“ Alt war er freilich und gut konnte er leicht sein, der sechsundsechzigjährige Mann, dem Fanny Elßler ihre zwanzigjährige Schönheit hingab. Zuletzt führte mich Fräulein Prinster zu einer alten Kommode, auf der das beste Andenken an Fanny stand: ihr Fuß und ein Teil ihres Beines in Alabaster ausgeführt. Mit einer gewissen Andacht betrachtete Fräulein Prinster das Bein von der Sohle bis über das Knie, und als ob sie die unterbrochene Gestalt in Gedanken ausbauen wollte, rief sie, mich bedeutsam anblickend, aus: „Oh, sie ist schön gewesenl“ (Ich erinnerte mich dabei an ein Wort, das einst Rahel von Varnhagen von ihr gesagt hat: „Da stieg die ganze Venus aus dem Meere.“) Leider steckt der Fuß in einem Schuh, und das übrige Bein macht nicht den Eindruck, daß es die Wirklichkeit treu wiedergebe. Fräulein Prinster teilte mir mit, daß dieses Werk nach einem Gipsabguß gefertigt sei, den eine Dame nach der Natur abgenommen habe. Dieser Abguß sei noch vorhanden und zwar hier in Wien. Ich erfuhr, wo er zu erfragen sei, und so war der Zweck meines Besuches erreicht. Zum Abschied schenkte mir die gute Dame noch die Feder, mit der Fanny Elßler zuletzt geschrieben, eine sehr spitze Feder, in Messing gesteckt, daran ein Stiel aus Bein, am Ganzen noch starke Spuren von Tinte. Kathi Prinster ist so lange nach Hietzing auf das Grab Fanny Elßlers hinausgegangen, bis sie vor Müdigkeit nicht mehr konnte. Nun schläft sie neben ihr in der kühlen Erde.

Es war doch ein eigenes Gefühl, als der Diener, der mir die Bescherung ins Haus brachte, den umhüllten Gipsfuß Fanny Elßlers oder vielmehr ihr Gipsbein - denn der Abguß reicht bis über das Knie - aus dem Tuch wickelte. Die Wirklichkeit berührt stets fremdartig; in ihrer Gegenwart fällt man jählings aus seinen Gedanken, Träumen, Einbildungen. Gewöhnlich fühlt man sich enttäuscht, wie jenes Kind, das sich den Kuckuck als ein farbenprächtiges Geschöpf vorstellte und nun, als es ihn sah, einen Vogel mit grauem Gefieder an ihm fand. Allein auch ihre eigentümlichen Reize hat die Wirklichkeit, vor allem den unerschöpflichen Reiz, wahr zu sein, und in eben dieser Wahrheit auf mögliche ideale Ziele, die doch wieder eine nur erhöhte Wirklichkeit sind, hinzuweisen. Diesen Reiz besitzt der Fuß, das Bein Fanny Elßlers in vollem Maße. Der Fuß ist nicht mehr aus der jugendlichen Blütezeit der Künstlerin, wie ihn Friedrich Gentz gesehen haben muß; er trägt vielmehr den Charakter reiferen Frauenalters an sich mit deutlichen Spuren mannigfaltigen Gebrauches und Verbrauches. Der Fuß legt sich mit seinen Zehen recht klar auseinander, nur die große Zehe, ziemlich lang, länger als die zweite - bei antiken Füßen findet sich das umgekehrte Verhältnis -, ist ein wenig einwärts verschoben, und die dritte und vierte Zehe sind etwas gegeneinander gedrückt, während aber die fünfte Zehe, gleichsam der naivste Finger an dieser unbeholfenen Hand und sonst das Stiefkind weiblicher Füße, völlig freiliegt. Über dem zweiten Gelenke der großen Zehe findet sich eine ansehnliche ‚~ :-iı.-tung, eine kleinere über der kleinen Zehe, und die  Adern des Fußes treten stark hervor. Um das Knie ist die Wulst voller und die Haut mürber, als es sich mit den Forderungen der Schönheit verträgt; die Knöchel machen sich kräftig geltend. Wie gesagt, es ist ein reiferer Fuß, ein frauenhaftes Bein, in Gips abgegossen, von der Bildhauerin Fanveau zu Florenz 1847, als Fanny Elßler schon siebenunddreißig Jahre alt war. Wie anders aber, wenn man, von den kleinen Unbilden der Zeit absehend, das treffliche Tanzwerkzeug  als Ganzes betrachtet! An diesem Fuße lernt man, daß Kraft die Wurzel der Anmut ist. Der nicht kleine, ziemlich fleischige Fuß ruht auf einem sicher gebauten Gewölbe, der Rist springt rasch, ja zuletzt eilend zu der Fessel hinauf, die sich schlank zusammenzieht; reizend ist diese leise geschweifte Linie des Schienbeins, und jene entgegengesetzte Polsterung des Unterbeins, die von den Anatomen als Streckmuskulatur des Fußgelenkes bezeichnet wird, faßt sich anmutig streng zusammen, ohne einen der drei Muskeln, die doch beim Tanzen scharf hervorspringen müssen, ahnen zu lassen. An den beiden Stellen, wo sich vielfältige Möglichkeit der Bewegung sammelt und wo sich gleichsam Sitze des Willens befinden: am Fußgelenke und am Kniegelenke, nimmt sich das Bein zur stärksten Energie und in dieser Energie zugleich zur höchsten Grazie zusammen. Linienzug, Fläche, plastische Form des Beines sind von einem unvergleichlichen Schwung. So nimmt sich Fanny Elßlers Fuß und Bein im ruhenden Zustand aus, wo innewohnende Anlage und zurückgelassene Spuren der Kunstübung, indem sie einander anzuregen scheinen, das Unbewegte doch wie in einer gewissen Bewegung begriffen zeigen. Nun beflügle man diesen Fuß, füge den anderen hinzu, baue diesen schwungvollen Leib aus und setze auf die schlanke Schulter das ovale Haupt mit dem vor Anmut strahlenden Gesicht - dann hat man das Wunder vollbracht, eine Fanny Elßler wenigstens in der Einbildung zu schaffen.

Auf solchem Fuße, wie ihn Fanny Elßler besaß, stehen und wandeln dauerhafte Gestalten. Sie hat lange gelebt, ohne eigentlich alt zu werden. In jenen Jahren, wo es noch nicht Zeitgeist war, das Burgtheater durch Unverstand zugrunde zu richten, sah man Fanny Elßler immer in Gesellschaft der von ihr unzertrennlichen Kathi Prinster in jeder neuen Aufführung dieser Bühne. Man dachte an kein Alter,wenn man sie gehen, stehen, sitzen sah. Adolf  Wilbrandt hat ihr zu ihrem siebzigsten Geburtstage ein warm empfundenes Gedicht gewidmet. Der Dichter fragt sich, was sie „so unbegreiflich jung“ erhalte? Er findet den Grund davon in ihrer harmonischen Natur. Er mag recht haben. Wenn wir ihn aber, minder poetisch, in ihrem tüchtigen Knochengerüste suchen, wer will uns unrecht geben? Was hier von ihrem Körper, freilich nicht weiter als bis über das Knie, wo im Gipsabguß vollere Formen beginnen wollen, geschildert worden, erregt wohl die Begier nach weiterer Kenntnis, die durch Kathi Prinsters bedeutsamen Ausruf: „Oh, sie ist schön gewesen!“ noch verschärft wird. So gibt der Philologe, wenn der Text seines Autors vielleicht bei der belangreichsten Stelle abbricht, den Stoßseufzer von sich: Reliqua desiderantur.