Fluss ohne Wiederkehr

Kritik
zuerst erschienen am 24. März 2014 in Die Welt, S. 22
Fassung des Autors
In seiner fünfstündigen Filmoper River Of Fundament geht Matthew Barney mit Norman Mailer in der Ursuppe schwimmen

Beginnen wir damit, was zu sehen ist: Die Kamera fliegt über den Salmon River in Idaho. Dann sind wir im nahen Ketchum, im Haus von Ernest Hemingway, bei seinen Artefakten, seinem Messer, seiner Schrotflinte und seiner Schreibmaschine. Dann ein Schuss. Ein Schnitt. Ein Kellergewölbe in Brooklyn Heights, in dem ein Fluss aus Fäkalien blubbert. Den Fluten entsteigt Matthew Barney, Ex-Model und Kunstbetriebs-Darling, sein Bart voller Exkremente, sein Fedora-Hut wohl ruiniert.

In der Dachwohnung über dem Keller sind die Vorbereitungen für Norman Mailers Trauerfeier im Gange. Barney tritt ein und verschwindet im Badezimmer, wo er der Toilette, über der ein Bild des Entfesselungskünstlers Harry Houdini hängt, eine Kackwurst entnimmt. Er wickelt sie in die Goldfolie ein, die im Papierkorb bereit liegt, und lässt sie behutsam wieder in die Kloschüssel gleiten.

Er legt seine Kutte ab und als er sich bückt, ist hinter ihm der wiedergeborene Mailer zu sehen, offenbar ebenfalls dem Fluss aus Fäkalien entstiegen. Mailers Phallus ist mit goldener Folie umwickelt, die sich spannt und schließlich reißt, während er steif wird. Als er Barney damit anal penetriert, sehen wir von hinten dessen Hodensack baumeln, pink und verletzlich.

Es fließt Sperma, es ist Quecksilber, unter der Tür hindurch in Mailers Wohnung, wo der Mexikaner vom Catering Gläser poliert, Flüsse aus Quecksilber fließen durch die Falten im gerafften Tischtuch auf der gedeckten Tafel, während die Streicher ihre Disharmonien intensivieren. Vor schwarzem Hintergrund dann: RIVER OF FUNDAMENT.

Natürlich geht es nicht um die Handlung in Barneys neuem Epos, nach dessen Europapremiere in der Münchner Staatsoper am vergangenen Sonntag ein Teil der Abonnenten doch recht verstört wirkte. Der Film basiert schließlich auf Mailers Roman Ancient Evenings, über den der Kritiker Harold Bloom im New York Review of Books schrieb: „Ich habe nicht vor, den Plot zu erklären, denn wer Ancient Evenings für die Handlung liest, wird sich aufhängen.“

Hier dennoch eine kurze Zusammenfassung: Der Roman erzählt die Leben von Menenhetet, einem Haremsaufseher und General im Heer von Pharao Ramses II., der einen Fluss aus Fäkalien durchschwimmen muss, um wiedergeboren zu werden. Dieser Fluss schwappt einem von nahezu jeder der über 700 Seiten entgegen, und auch ein stolzer „Obelisk“ ist nie weit: Wohl kein anderer Roman der Literaturgeschichte hat derart viele verschiedene Bezeichnungen für den Penis vorzuweisen. Zudem Sodomie mit Löwen, schwule Dreier mit Ebern und Fledermausdung als Amuse-Gueule.

Die Kritik begegnete dem Roman, den Mailer selbst für seinen besten hielt, fast einhellig mit höhnischer Ablehnung: Die New York Times nannte das Buch „ein Desaster“. Die Village Voice sah das Werk als „riesigen Furz“. Die Kritikerin des New York Magazine musste beim Lesen daran denken, was Raymond Chandler über Ernest Hemingway gesagt hatte: „Er schreibt, als ob auf seinem Grabstein stehen soll: Hier ruht ein Mann, der verdammt gut im Bett war. Bedauerlicherweise liegt er hier allein“. Mailers sechste Ehefrau Norris Church erinnerte sich später: „Unter der Oberfläche war Norman sensibel und voller Zweifel. Als Ancient Evenings erschien und niemand es mochte, versuchte er, sich nichts anmerken zu lassen. Aber er litt, ich sah es.“

Die Anregung zur Verfilmung durch Barney kam von Mailer selbst, kurz vor seinem Tod im Jahr 2007. Die beiden waren befreundet, seit Mailer in Barneys Film Cremaster 2, der auf seinem Tatsachenroman The Executioner’s Song basierte, den schon erwähnten Harry Houdini verkörpert hatte. Ebenso sehr wie von Mailers Text ist River of Fundament laut Barney allerdings von Harolds Blooms Rezension beeinflusst, in der Bloom die These vertritt, dass Ancient Evenings autobiographisch zu lesen sei. Menenhetet sei Mailer, so Blooms Überzeugung, und der Pharao sei Hemingway. Der Roman, Teil einer Trilogie, die nie zustande kam, würde demnach von Mailers Kampf erzählen, den mythischen Status von Hemingway zu erreichen, von seiner vergeblichen Jagd nach dem Weißen Wal, dem Great American Novel, mit dem ihm dies gelingen könnte. In Band 3, so der Plan, sollte Menenhetet schließlich als Norman Mailer wiedergeboren werden und in seiner Wohnung in Brooklyn Heights zehn Jahre lang an Ancient Evenings arbeiten.

So finden die fäkalen Rituale in River of Fundament nicht vor dem Hintergrund des vorchristlichen Ägypten, sondern vor jenem des New Yorker Literaturbetriebes statt, in Mailers Wohnung, deren Interieur Barney originalgetreu nachbauen ließ, um es auf einem Lastkahn den East River hinab driften zu lassen. Die Trauerfeier beginnt recht gesittet. Salman Rushdie ist gekommen, Debbie Harry, auch Jeffrey Eugenides. Der Pharao-Hemingway, lustigerweise von Paul Giamatti gespielt, der durch seine Darstellung eines erfolglosen Schriftstellers im Film Sideways bekannt wurde, singt am Kopfende der Tafel ein eloquentes Loblied auf die Zauberkraft der eigenen Exkremente. Einer der Catering-Köche rollt Maden-Sushi in Blütenblättern, während unter der Tafel diskret die schlaffen Penisse einiger Gäste manipuliert werden. Doch bald beginnt im Keller wieder der Fäkalienfluss zu blubbern.

Menenhetet-Mailer erfährt in dieser Nacht drei Reinkarnationen, mit denen er sein Ziel, als Pharao-Hemingway wiedergeboren zu werden, allerdings nicht erreichen kann. Bei seiner ersten Auferstehung wird Mailer von seinem jüngsten Sohn gespielt, John Buffalo Mailer – optisch eine Art Mini-Me seines Vaters –, und bei der letzten vom 94jährigen Sioux-Häuptling Bald Eagle, der 1953 in Otto Premingers Fluss ohne Wiederkehr mitgespielt hatte, nach dem Salmon River benannt, zu dem Barney am Ende zurückkehrt: Die Kamera folgt moribunden Lachsen auf ihrem letzten Weg stromaufwärts, während in Hemingways Hütte, dies ist die letzte Einstellung des Films, eine Blase platzt.

Parallel zu den körperlichen Auferstehungen hat Barney drei Performances arrangiert, in denen Autos die Rolle von Mailers Seele einnehmen. Der Fluss aus Exkrementen bleibt ihnen dabei erspart, nicht aber Flüsse im Allgemeinen: Nachdem im Zuge der ersten Performance in Los Angeles ein Chrysler Imperial von 1967 durch einen Pontiac Trans Am von 1979 ersetzt und dann von einer riesigen Drehkopffräse rituell vernichtet wurde, wird sein Wrack im Zuge der zweiten aus dem Detroit River gezogen, in den der Trans Am wiederum hineinstürzt – an genau der Stelle, an der Houdini, der in Barneys Werk für das megalomane Vorhaben des Künstlers steht, seiner Vergänglichkeit zu entkommen, sich 1906 gefesselt und in einen Sarg eingenagelt versenken ließ – um sich der heiklen Situation dann erfolgreich zu entziehen.

Vor einer festlichen Ruinenkulisse, am Ufer des stark verschmutzten Rouge River, vor den verlassenen Resten der weltweit ersten vertikal integrierten Automobilfabrik, wird der Kadaver des Chrysler dann in Teile gerissen, bevor diese mit Eisen in Hochöfen eingeschmolzen und zur 25 Tonnen schweren Skulptur DJED gegossen werden, die als Teil der Ausstellung, mit der Barney seine Filmoper begleitet, derzeit im Münchner Haus der Kunst zu sehen ist.

Was die Kohärenz von Barneys Collage betrifft, die ihre Fliehkräfte nie ganz unter Kontrolle hat, darf man nicht zu genau hinsehen. Mailer wird wiedergeboren, gut – aber warum dreimal an einem Abend? Warum bleibt er immer nur eine Viertelstunde, um dann wieder in die Kloake zu plumpsen? Was tut der kurz eingeblendete Teenager zur Sache, der masturbiert, während er mit dem Mund Beatbox-Geräusche produziert? Die Frau, die im Stehen auf den Esstisch uriniert – ist das Feminismus? Um nochmal zum Einstieg zurückzukehren: Mailer gibt seine schöpferischen Säfte an Barney weiter, indem er ihn anal penetriert – aber soll Barney in dieser Szene laut Programmheft nicht Mailers Ka, also dessen Lebensgeist symbolisieren?

Pulsierende Ani, in denen gurgelnde Kot-Trichter stecken; mit Sperma benetzte Salatköpfe, in die beherzt hineingebissen wird; fettleibige Hemingway-Doppelgänger in Safari-Anzügen; zwei Automechaniker, die sich brutal prügeln, wobei einer dem anderen den Hodensack abreißt, der mit lautem Klatschen auf dem Steinboden landet – Barney gelingen unentwegt seltsame und originelle Bilder, die aber nie so zwingend sind, dass man sich nicht fragen würde: Warum? Warum zum Beispiel wird der Schwangeren jetzt das Glasauge in den After eingeführt?

Mit River of Fundament hat Matthew Barney eine opulente Sequenz aus Symbolen und Mythen gedreht, aus Fetischen und Talismanen, aus auf sich selbst reduzierten Riten, mit denen er gekonnt eine sakral-archaische Stimmung erzeugt, gerade im Zusammenspiel mit der ominösen Geisterbahnmusik des Komponisten Jonathan Bepler. Auf seiner langen Reise über den Fluss der Fäkalien mochte man ihm am letzten Sonntag in München indes nur mit zunehmendem Widerwillen folgen – was allerdings auch damit zusammenhing, dass einem ab der fünften Stunde in der Staatsoper allmählich der Hintern schmerzte.