Haben Sie mal Feuer?

von 
Essay
zuerst erschienen Februar 1995 in Tempo, S. 44-47
Vor ungefähr drei Monaten rauchte Tempo-Redakteur Marc Fischer, 24, seine erste Zigarette. Seitdem pafft er mehr oder weniger regelmäßig. Warum hast du bloß angefangen zu rauchen? Fragten wir ihn. Er schrieb diese Geschichte

Als ich noch sehr klein war, faßte ich einige Vorsätze für mein weiteres Leben, moralische Vorsätze, die ich niemals brechen wollte und die mir in Zeiten der Bedrängnis und Unsicherheit als geheiligte Eckpfeiler meiner Existenz unverrückbar zur Seite stehen sollten. Drei Versprechen gab ich mir: Nie in meinem Leben würde ich eine Frau schlagen, nie so tief sinken, stehlen zu müssen, und niemals, so schwor ich, würde ich anfangen zu rauchen. Zwei dieser Versprechen brach in noch im Kindergarten: Warum mußte sie mich auch von der Schaukel schubsen, dieses kleine blonde Ding mit der dicken Zahnspange? Und was konnte ich dafür, daß ich zwei Monate hätte sparen müssen, um mir ein einziges „Mickey Maus“-Heft kaufen zu können, und damit sieben der acht nötigen Bastelreihenteile des Cindarellla-Schlosses verpaßt hätte?

Um so fester hielt ich all die Jahre an dem letzen Versprechen fest, und es fiel mir nicht besonders schwer: Wer rauchte, blieb in der Schule sitzen, litt schon mit fünfzehn an Durchblutungsstörungen, würde später an Lungenkrebs sterben, und hatte nie genug Geld für Eis, Kino oder die richtigen Schallplatten. Klar, einige Mädchen standen auf Röchelhusten mit Auswurf und blasse Gesichtshaut, aber denen sah man früh an, daß sie bald dick und mit zwanzig schwanger sein würden. Und wer mit sechzehn nicht anfinge zu rauchen, so die Mär, der sei bereits gerettet und dürfte sich, sofern er nicht an Tuberkulose oder Alzheimer erkranke, auf ein langes, gesundes Leben freuen.

Ich habe bis zu meinem vierundzwanzigsten Lebensjahr an keiner Zigarette gezogen. Vor drei Monaten fing ich an damit: Benson & Hedges, vier Uhr morgens in „Heinz Karmers Tanzcafé“, einer kleinen Hamburger Kneipe. Die Freundin eines Freundes brachte mir gleich alles bei, was ein Raucher wissen muß: die korrekte Handhaltung, den tiefen Lungenzug, richtiges Ausblasen, Selberdrehen, die beste Mundwinkel-Position. Meine in so kurzer Zeit erlangte Professionalität erstaunte alle Bekannten. Ich habe eine gute Auffassungsgabe und lerne schnell.

Doch ich rauche nicht, weil ich mich damit cooler fühle. So etwas funktioniert nie. Zu oft schon habe ich miterleben müssen, wie Leute versucht haben, ihren Hängebauch, mangelnde Körpergröße, den falschen Haarschnitt oder dumpfe Wortkargheit durch betont lässiges Anzünden auszugleichen. Keiner nahm diese Typen ernst, Nichtraucher und Profi-Raucher lachten über sie. Fortan standen sie allein in den Gängen herum, traurig und mitleidserregend vor sich hin paffend. Erst Jahre später hörte man wieder von ihnen, weil sie minderjährige Mädchen vergewaltigt oder ihre Abteilungsleiter mit Stichmessern massakriert hatten. Zu dieser Sorte Raucher gehöre ich nicht. Ich bin cool genug, höre die richtige Musik, habe die besten Freunde der Welt und einen Job, der mich bis zwölf Uhr schlafen läßt. Mein Leben ist in Ordnung.

Ich rauche auch nicht, weil ich plötzlich entdeckt habe, daß die beste Typen in den besten Filmen immer eine brennende Zigarette im Mund haben. Je mehr in einem Film geraucht wird, desto besser ist er. Das ist keine These, sondern die Wahrheit, zu überprüfen in „Pulp Fiction“, „Goodfellas“, „Für eine Handvoll Dollar“, „Down by Law“, „Frühstück bei Tiffany“, „Extrablatt“, „Einer flog über das Kuckucksnest“, „Apocalypse Now“ und „Casablanca“. Und Jean-Paul Belmondo mit seiner eingedrückten Nase sah in „Außer Atem“ nur gut aus, weil er ständig eine Zigarette in der Hand hielt, wenn er irgendwo an die Wand gelehnt herumstand. Auch im Leben sind Männer nur mit Zigarette cool, wenn sie irgendwo angelehnt herumstehen, weil es dann so aussieht, als hätten sie alle Zeit der Welt und könnten Mädchen und Polizisten warten lassen, bis sie die glühende Asche endlich mit der Fußspitze austreten. Haben sie keine Zigarette in der Hand und stehen so in der Gegend rum, sehen sie immer aus wie Trottel, die gerade versetzt wurden. Das ist der Unterschied. Frauen wissen, wovon ich rede.

Ich rauche nicht ständig, es hängt ab von der Situation. Denn ich weiß, daß es im Leben Momente gibt, in denen Dinge sinnvoll sind, die zu anderen Zeiten sinnlos erscheinen. Manche Situationen muß man steuern und beeinflussen. Und das geht gut mit so einer Zigarette, weil sie einem hilft, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren und alles auszublenden, was einen stören oder ablenken könnte. Man zündet sie an, die Zigarette, ein kurzes grelles Leuchten blitzt auf vor den Augen, und die lauten Menschen, häßlichen Bilder und der fiese Acid-Jazz verschwinden dahin, wo sie hingehören – in den Hintergrund, in die Nebensächlichkeit, in den Trockeneisnebel, ins Off. All diese Dinge scheinen verschwommen und meilenweit entfernt zu sein, nur ich selbst, mein Gegenüber und das Gespräch, das wir gerade führen, ist scharf fokussiert, wenn der weiße Tubus der Zigarette eigenartig auf mich zeigt. Das ist kanalisiertes Erleben.

So wie neulich, als ich mit meinem Freund Christian in einer Bar saß und wir innerhalb von drei Stunden jeder zwanzig Zigaretten verdrückten, weil wir über die wichtigen Dinge des Lebens redeten – über Liebe, Tod, Freundschaft und Arschlöcher. Frauen, die aussahen wir Daryl Hannah, sprachen uns an, und als wir um sechs Uhr morgens die Bar verließen, segnete uns eine alte, schwarze Magierin mit einem Kuß auf die Stirn. Keine andere Droge hätte dieses Effekt auf uns gehabt – nach Ecstasy hätten wir nicht mehr stillsitzen können, und LSD hätte uns nur vom Thema abgebracht. Die Zigaretten aber brachten die nötige Ruhe und reduzierten unser Bild auf die Konturen wie ein Pop-Gemälde von Lichtenstein.

Rauchen ist wie eine kleine Pause von all der Scheiße um einen herum, ein stiller Moment inmitten des Chaos, der kleine Frieden im großen Krieg. Wer raucht, erlebt einen Moment der Seligkeit. Die weisen Indianer wußten das genauso wie die thailändischen Tabakpflanzer. Mit Geschmack hat das nichts zu tun. Natürlich schmeckt es nicht wie Vanillemilch, wenn man trockenen, in den Augen beißenden Teerrauch in die Lungen einsaugt, um ihn gleich darauf wieder auszupusten.

Das allein ist ein Akt der Sinnlosigkeit und Idiotie. Leute, die an so etwas Geschmack finden, würden es auch genießen, die Stoffe aus dem Auspuffrohr eines Diesels zu inhalieren. Mir aber ist vollkommen egal, was ich da rauche, solange das Packungsdesign in Ordnung ist. Lucky Strike, Benson & Hedges, Marlboro, Camel, Gauloises, oder selbst gedreht – wenn es nicht HB, Prince Denmark oder L&M ist, nehme ich alles, was ich kriegen kann.

Allein auf den richtigen Moment kommt es an. So rauche ich nie vor acht Uhr abends, weil das barbarisch ist und nichts als verschwendete Lebensenergie, als würde man tagsüber und bei der Arbeit plötzlich klassischen Ausdruckstanz aufführen oder becherweise Osborne-Brandy in sich hineinschütten. Oft rauche ich tagelang nicht und muß fast brechen, wenn ich nur daran denke. Manche Leute müssen gleich nach dem Aufstehen eine Zigarette haben, wenn Zunge und Rachen noch vom Vorabend mit Nikotinschleim belegt sind. Das ist ekelig. Es ist auch ekelig, wenn der abgestandene Rauch nicht mehr aus den schönen Pullovern oder der Cordjacke herausgeht. Nichts ist schlimmer als der Geruch von kaltem Rauchen in den Kleidern. Heißer Rauch hingegen ist pure Sinnlichkeit. Man muß das mal gemacht haben, jemanden zu küssen, der gerade inhaliert hat und noch guten, heißen Rauch im Mund hat. Das fühlt sich an, als küsse man den Ausgang eines Gewehrlaufs, aus dem gerade gefeuert wurde – wie kalter Stahl, in dem warmes Blut pulsiert. Wenn kurz danach der Rauch aus den Nasenlöchern wieder austritt wie heißer Wasserdampf aus einem Teekessel, weiß man, daß es einer dieser besonderen Momente im Leben war. Ein Lächeln noch, und dann ist nichts als Stille.