Halt dich an deinen Lieben fest

von 
Essay
zuerst erschienen im August 2013 in Die Welt
Glück kommt von Lücke: Nie war es so schwer, sich von jemandem zu trennen, wie im digitalen Leben. Jedem, der Schluss macht, zeigt Facebook sein wahres Gesicht

Eine Dame, die ich kenne, verliebte sich Anfang der 60er-Jahre in einer mittelgroßen westdeutschen Stadt in einen dort stationierten G.I. Die beiden erlebten eine stürmische Liebesgeschichte. Kurz bevor er zurück in die USA musste, beichtete er ihr, dass er verheiratet sei und ein Kind habe. Die andere Frau sei damals ungewollt von ihm schwanger geworden, er liebe sie nicht, aber in den 60ern musste man eben heiraten. Die Dame war erschüttert.

Heute hätte sie wahrscheinlich nicht nur zu einem sehr frühen Zeitpunkt von den relevanten Eckdaten im Leben dieses Mannes erfahren. Sie hätte auch nach seiner Abreise nicht aufgehört zu wissen, was bei ihm vor sich geht.

Die Autorin Maureen O’Connor beschrieb kürzlich im „New York Magazine“, warum die Angehörigen der Generation Social Media niemals richtig Schluss machen. Früher, so O’Connor konnte man jeden weiteren Kontakt zu Ex-Lieben vermeiden, indem man umzog. Heute bleiben vergangene Beziehungen weiter Teil unseres Lebens. „Ein Dutzend Seifenopern, die alle zur selben Zeit auf einem Dutzend Bildschirmen laufen.“ Begegnungen, Trennungen, Hochzeiten, Kinder. Im Textnachrichten-Speicher des Handys, in Twitter-Feets, in Status-Updates und auf Instagram-Fotos.

Unter allen Social-Media-Plattformen besitzt Facebook den Status der Visitenkarte, mit den Extra-Funktionen Nachrichtenkanal, Mailprogramm und visuelles Tagebuch. Als allgemeines Kommunikationsmittel anerkannt, benutzen es weltweit derzeit etwa 955 Millionen Menschen.

Trennungen waren noch nie spaßig. Aber wenn man annimmt, dass aus den Augen gleichbedeutend mit aus dem Sinn ist, dann war es noch nie so schwer, jemanden wieder zu vergessen. Ein papiernes Fotoalbum kann man vor sich selbst verstecken, notfalls im Müll. Zum Anrufen braucht man einen guten Grund. Eine Party kann man verlassen, eine Straßenseite wechseln, Hauseingänge sind gute Verstecke. Aber wenn unser Leben die Summe unserer Beziehungen und Erinnerungen ist, dann ist Facebook das Haus, in dem ein großer Teil dieses Lebens stattfindet. Der Mensch, über den du hinwegkommen sollst, lebt in der Wohnung gegenüber, und im schlimmsten Fall feiert er dort mehrmals die Woche eine ausschweifende Party. Und du selbst liegst nebenan und kannst vor lauter Lärm und Wut und Trauer nicht schlafen. Du hörst die Gespräche mit, das Lachen, die Musik. Ausziehen? Schwierig, wenn fast alle der 300, 500, 700 Menschen, die du kennst, dort zu Hause sind.

Und neben den Ex-Lieben sind das aktuelle Lieben, beste Freunde, weniger enge Freunde, Affären, Knutschbekanntschaften, Fuck-Buddys, Verehrer, Flirts, One-Night-Stands und love interests.

Tobias, 35 Jahre alt, 361 Facebookfreunde. Mit einer von ihnen lebt er seit Jahren in einer Beziehung, mit 15 anderen hat er geschlafen, mit noch ein paar anderen hätte er zu irgendeinem Zeitpunkt gern geschlafen. „Und dann sind da noch die, die gern mit mir geschlafen hätten, mit denen ich das aber nicht wollte.“

Louise, 29, 387 Facebookfreunde. Darunter ist ihre große Liebe, mit zwei anderen lebte sie längeren festen Beziehungen. In wiederum zwei andere war sie lange unerwidert verliebt. Geschlafen hat sie mit fünf weiteren. „Dann gab es da noch fünf, die ich irgendwann mal geküsst habe, drei davon zählen zu meinen engsten Freunden.“

Christian, 31, 727 Facebookfreunde. Zählen will er nicht, aber er schätzt die Anzahl derer, mit denen ihn sexuelle und/oder romantische Beziehungen verbinden, auf 15 bis 20.  Mit ehemaligen One-Night-Stands ist er „nett befreundet“ und freut sich zu sehen, was in deren Leben vorgeht.

„Halt dich an deiner Liebe fest“. In einer Zeit, in der Beziehungen potentiell offener, vielfältiger und über Kontinente hinweg möglich sind, muss diese Empfehlung der Band „Ton Steine Scherben“ vielleicht abgewandelt werden in: Halt dich an deinen Lieben fest.

Louise findet den Gedanken tröstlich, all diese Menschen, die ihr zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihres Lebens unterschiedlich wichtig waren, virtuell und damit gedanklich in ihrer Nähe zu wissen. „Und es kann helfen zu sehen, warum man mit manchen auch nicht mehr zusammen sein wollte.“ „Aber“, sagt Christian, „nach einer Trennung zeigt Facebook sein hässliches Gesicht.“

Das Drama, das nach Trennungen auf Facebook üblicherweise aufgeführt wird, kennt die Stationen Blocken, Entfreunden, Neubefreunden, die Chronik des anderen lesen, die Profile derjenigen anschauen, den die Ex-Liebe offenbar neu kennengelernt hat, eifersüchtig sein, strategische Statusmeldungen platzieren („Wunderbarer Tag. Nie glücklicher gewesen“), die Statusmeldungen des anderen als strategisch platziert lesen. Das ist im besten Fall albern, nimmt aber schnell wahnhafte Züge an. Fast jeder kennt Geschichten von Leuten, die monatelang mehrmals täglich ins Internet schauen, um herauszufinden, was der andere gerade tut. Meistens sind diese Geschichten unsere eigenen. Tobias: „Jeder, bei dem die Trennung nicht in absoluter Harmonie verläuft und der trotzdem auf Facebook befreundet bleibt, ist nichts als ein Masochist.“

In Michel Gondrys Kinofilm „Eternal Sunshine of the Spotless Mind“ sucht der liebeskranke Joel in eine Arztpraxis auf, um sich sämtliche Erinnerungen an seine Ex Clementine aus dem Kopf radieren zu lassen. Zur Behandlung gehört auch, dass er alles, was ihn an sie erinnert, vernichten lässt. Jeden dummen Schnipsel. Der Film kam im Facebook-Gründungsjahr 2004 in die Kinos. Es wäre interessant zu sehen, wie er heute aussähe.

In einer unter 460 jungen Erwachsenen durchgeführten Studie hat die britische Sozialwissenschaftlerin Tara C. Marshall herausgefunden, dass sich der emotionale Heilungsprozess bei den Menschen verzögert, die nach einer Trennung weiter miteinander auf Facebook befreundet sind. Aber die Forscherin gibt zu bedenken, dass zwischen beidem kein kausaler Zusammenhang bestehen muss. Nicht erforscht wurde, wie eng die Beziehung zweier Menschen war, die nach der Trennung die digitale Freundschaft für beendet erklären. Und ob die anderen, die Weiter-Befreundeten, nicht auch außerhalb von Facebook den Kontakt zueinander suchen und so verhindern, dass die Wunden heilen.

Durch Facebook ist es denkbar einfach, das Leben des anderen zu beobachten. Und die meisten, die unter Liebeskummer leiden, machen davon Gebrauch. Christian: „Am besten wäre es wohl, wenn man irgendwie schafft, nicht hinzuschauen.“

Ava, 30, 0 Facebookfreunde: „Ich bin so froh, dass ich dieses Problem nicht habe.“ Sie mag sich nicht in die süße Abhängigkeit von Mark Zuckerberg begeben haben. Aber auch sie hat sich in den Jahren vor Einführung des Smartphones dringend eine Handy-Funktion gewünscht, die verhindert, dass man nach 2 Uhr nachts (also wenn man mit ziemlicher Sicherheit entweder vor Schlafentzug delirierend oder unzurechnungsfähig betrunken ist) Ex-Lieben anruft oder mit sentimentalen SMS bedenkt. In der Fernseh-Serie „Girls“ wird jemand sehr reich, als er nach einer schmerzhaften Trennung eine App erfindet, die genau diese Art von Anruf unter Geldstrafe stellt. Mittlerweile gibt es „Ex Lover Blocker“, die Anwendung stellt  Liebeskummergepeinigte auf der eigenen Facebookseite bloß, wenn sie trotz Selbstverbots die eine, die verbotene Nummer gewählt haben. „MuteTweet“, mit dem man den Twitter-Feed des anderen verstummen lassen kann. „Social Fixer“ löscht auf der eigenen Facebook-Chronik alle Fotos, Videos und Wallposts, die mit dem Namen der Ex-Liebe markiert sind.

Aber selbst wenn man die Willensstärke aufbringen sollte, die Lebenszeichen des anderen zu blockieren oder gleich den ganzen vermaledeiten Account zu löschen – Facebook ist nur Kanal von vielen. Es gibt ja immer noch Hunderte gesammelten Kommunikationsschnipsel auf Skype, Google Chat oder Facetime. Und die automatische Ausfüllhilfe des Mailprogramms, dessen besserwisserische Adresszeile sich beim Eintippen des einen Anfangsbuchstabens an den ganzen Namen erinnert.  Christian: „Und selbst wenn du das alles im Griff hast, schaust du eben jeden Morgen um dieselbe Uhrzeit aus dem Fenster, weil du weißt, dass dein Ex-Boyfriend auf dem Weg zur Arbeit vorbeiläuft“.

Die Dame, die ich kenne, ist heute 77. Sie hat nie geheiratet und auch keine Kinder. Sie sagt, ihr Leben ist wunderbar, so wie es ist. Aber der Mann, der Mann… Der ließ sich nach seiner Rückkehr nach Hause von der ungeliebten Frau scheiden, aber davon wusste die Dame nichts. Als sie zwei Jahre später halb wegen eines Jobs, halb in der Hoffnung auf ein Wiedersehen in die USA zog, hörte sie wenige Tage vor ihrer Abreise, dass er erneut geheiratet hatte.

Kim, 21, 450 Facebook-Freunde, liebt Cyber-Stalking. Sie verbringt Stunden damit, im Netz nach möglichst vielen Informationen über bestimmte Leute zu suchen. „Das kann jemand sein, an denen ich interessiert bin, aber auch jemand, mit den ich mal was hatte.“ Sie und ihre Freunde liefern sich manchmal Wettbewerbe darin, wer mehr über eine Person herausfindet. Dank fotografierender und postender Freunde funktioniert das sogar, wenn der andere selbst gar nicht besonders aktiv ist. „Wenn man jemanden sehen will, aber nicht kann, gibt es nie genug Fotos.“

Was sagt die Philosophie dazu? In seinem Buch „Transparenzgesellschaft“ beschreibt Byung-Chul Han die Gegenwart als eine der Hyperkommunikation, in der das Sein der Subjekte von ihrem Ausstellungswert bestimmt wird, die geglätteten Bilder der unmittelbaren Erregung und Befriedigung dienen und die keine negativen Gefühle zulässt. Die Ausstellungsplattform Facebook, auf der zwar Hochzeiten, Babygeburten, super Urlaube und andere Lebenserfolge, selten aber Krankheiten und Tode vorkommen, kennt nur den „Like“-Button. Es gibt keine Möglichkeit, zu sagen: „Gefällt mir nicht.“

Laut Han leben wir heute in einem Gefängnis, dessen Besonderheit darin besteht, „dass seine Bewohner selbst am Bau und an seiner Unterhaltung aktiv mitarbeiten, indem sie sich selbst zur Schau stellen und sich entblößen.“ Er plädiert für das Aushalten der Leere, für die Negativität des Auslassen und des Vergessens, die, so sagt er, oft produktiv wirken kann. Er wirft einem Blick ins Wörterbuch des Mittelhochdeutschen und stellt fest „Das Wort Glück rührt im Übrigen von der Lücke her“.

Der Name der Firma, die in „Eternal Sunshine of a Spotless Mind“ die Gehirnlöschprogramme fährt, heißt „Lacuna“, vom lateinischen Wort für: Lücke. Als Joel merkt, dass ihm die Erinnerungen an seine Liebe wichtiger sind als ein makelloser Geist, versucht er mit aller Kraft, die Prozedur zu stoppen.

Die Dame beschloss irgendwann, so zu tun, als sei der G.I. gestorben. Als ich sie neulich fragte, wann ihr Kummer über die unerfüllte Liebe aufgehört hatte, antwortete sie: „Das hat er nie.“ Sie überlegte eine Weile und sagte dann: „Du kennst dich doch aus mit diesem Facebook“, und als ich nickte: „Ich wüsste gern, ob der G.I. noch lebt.“