„I will survive!“ – Der Tod als ultimativer Endgegner

von 
Essay
zuerst erschienen Februar 2013 in I Love You Magazine Nr. 9
Fassung der Autorin
„I will survive!“ kann als inoffizieller Schlachtruf der Pop-Moderne bezeichnet werden. Denn die Vielzahl der Handlungsmöglichkeiten und potentiellen Lebenskonzepte haben das Dasein nicht nur verkompliziert, sondern einen Wettlauf gegen die Zeit kreiert. Dabei dienen technische, medizinische und kulturelle Fortschritte dazu, den Tod hinauszuzögern. Warum alle lebensverlängernden Maßnahmen letztlich verkürzend wirken, soll dieses Essay klären.

„Bis zu meinem 30. Lebensjahr bin ich Vegetarierin“, hatte ich zu jeder Gelegenheit verkündet. Nur einen Tag nach meinem 29. Geburtstag begann ich meinen stufenweisen Ausstieg. Zuerst verzichtete ich auf Wurst. Ich ignorierte Serrano-Schinken und italienische Mortadella, verschloss meine Augen sobald ich Chorizo sichtete und konzentrierte mich auf das Entdecken neuer Käsesorten. Alles lief prima. Wenige Monate später musste rotes Fleisch dran glauben. Es wurde gegen Fisch und Tofuburger ausgetauscht. Der Weg zum Vegetarier schien ein Kinderspiel zu sein. Selbst das Ende aus der Fleischspirale ereignete sich völlig natürlich. Vier Monate vor Fristablauf starrte ich während meiner Mittagspause auf ein frisch gebratenes Stück Hühnchen. Ein unangenehmer Würgereiz überkam mich und die Mahlzeit landete im Restaurantabfall. Es war vollbracht!

Schnell wurde ich von Mitstreitern über meine Rolle im Ernährungsdschungel aufgeklärt und zu der Gruppe der Pescetarier verwiesen. Ich war also nur ein halber Gutmensch. Nämlich einer, der immer noch Fische aß. Diese offensichtliche Klassifizierung erwiderte ich mit dem Versprechen, zeitnah auch auf Meereslebewesen zu verzichten. Wann? „Bald, ganz bald“, versicherte ich.

Obwohl ich Fleisch immer gerne gegessen hatte, lebte es sich ohne viel besser. Ich genoss Restaurantbesuche und die ständigen Äußerungen zu meinem Essverhalten. Auf Fragen, die sich um den Grund meiner Entscheidung drehten, antwortete ich: Gesundheit. Schließlich führe Fleischverzehr zu Krebs. Erwiesener Maßen und so weiter. Insbesondere aber fand ich mich einfach außergewöhnlich konsequent. Ich hatte mich unter Kontrolle und schaute auf die Fleischesser arrogant herunter. Vegane Bekannte schenkten mir Kochbücher, die sich um das Zubereiten von Gemüsesorten drehten, kommentierten meine Entscheidung mit einem Zusammengehörigkeit ausdrückenden Nicken oder machten mir Komplimente zu meinem Äußeren. Ja, auch das hatte sich natürlich verändert. Strahlender, leuchtender, ja geradezu ätherischer, schien mein Körper durchs Leben zu schweben. Frei vom blutdurchtränkten Ballast kreischender Ferkel.

Zwei Jahre hielt ich tapfer durch bis ich im Juli 2012 bei einem Barbecue meinen Freunden dabei zuschauen musste, wie sie fettige Rippchen verspeisten. Meine Hände umklammerten zittrig den gesalzenen Maiskolben während ich neidisch auf ihre malenden Kiefer schaute. Ein Schock. Schließlich war ich von meiner erfolgreichen Abstinenz überzeugt gewesen. Ich dachte, ich wäre besser und stärker als die anderen – aber vor allem glaubte ich, dem Tod so was von entkommen zu sein. Die Tage nach dem großen Grillen waren eine geistige Zerreißprobe. Ich träumte von Fleisch, wachte morgens mit einem imaginären Chicken Wing im Mund auf und besuchte den Supermarkt erst nachdem die Rollenläden der Fleischtheke heruntergelassen waren. Zehn Tage dauerte der Kampf um Stolz, Ansehen und Erhabenheit: Dann scheiterte ich kläglich, kaufte mir ein Stück Lamm-Filet und aß dazu Rosmarin-Kartoffeln.

Es kann nur einen geben

Wer will schon sterben? Keiner. Also befeuern wir den Sensenmann mit schicken Einweggläsern, in denen frisch gepresster Ingwer-Apfel-Saft schwimmt, begießen ihn mit Sojamilch und schütten selbstgemachten Rohkostsalat über seinen Kopf. Den Sensenmann interessiert dieser verzweifelte Versuch, die eigenen Highlander-Ambitionen auszuleben herzlich wenig. Schließlich kommt er am Ende immer zum Zug.

Seit der Zeit der Aufklärung ist die Selbstverwirklichung zur Grundlage unserer modernen Lebensweise geworden. Denn mit dem Tod Gottes und dem Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit (Kant 1784, 481-494) liegt das Schicksal in unseren Händen. Teil dieses Prinzips ist die Kontrolle über das eigene Leben, über das eigene Glück und über den eigenen Erfolg zu erlangen. Wieso also sollte der Tod beim Kampf um die Herrschaft über sich selbst eine Ausnahme bilden? Der Selbstverwirklichungszwang der Gegenwart sprengt die Ketten des Unveränderbaren. Damit glaubt er nicht nur das Leben kalkulierbar machen zu können, sondern auch Einfluss auf den Tod zu haben. Dabei dienen der Großteil der medizinischen Entwicklungen und technischen Fortschritte der Erfüllung des Traums vom ewigen Leben. Ein Beispiel dafür ist der im September 2012 verliehene Nobelpreis für Medizin an J. Gurdon und S. Yamanaka. Die beiden Wissenschaftler entdeckten, dass sich die Lebensuhr jeder Körperzelle auf Anfang zurückstellen lässt. Wie? Indem sie induzierte pluripotente Stammzellen aus ausgereiften Körperzellen mithilfe biochemischer Prozesse gewannen. Diese Stammzellen befinden sich in einem frühreifen, quasi embryonalen Zustand und können dadurch zu jeder beliebigen Zelle werden (Stockrahm 2012).

Aber nicht nur die Biochemie oder Medizin setzt sich intensiv mit dem Sterben des Menschen auseinander. Der Glaube daran, durch eine spezielle Ernährung den Alterungsprozess aufzuhalten und letztlich den eigenen Tod hinauszuzögern, gehört zu einem festen Bestandteil unserer modernen Kultur. Seit Jahren steht unsere Gesundheit im Zentrum der medialen Aufmerksamkeit. Wir huldigen ihr in Form von Ratgebern, die Ernährungs-Tipps erläutern, Diäten beschreiben oder nahrungsspezifische No-Gos erörtern. Alles im Namen eines langen und gesunden Lebens.

Die in der Philosophie als Positivgesellschaft verschriene Gegenwart, in der unter anderem das immanente Kreisen um die eigene Gesundheit, die Hölle des Gleichen und die Verneinung negativer Gefühle wie Schmerz oder Leid zusammentreffen, beschrieb Nietzsche 1886 in seinem Text über den letzten Menschen auf eindrückliche Weise:

„Seht! Ich zeige euch den letzten Menschen. ‚Was ist Liebe? Was ist Schöpfung? Was ist Sehnsucht? Was ist Stern?’ – so fragt der letzte Mensch und blinzelt. Die Erde ist dann klein geworden, und auf ihr hüpft der letzte Mensch, der Alles klein macht. Sein Geschlecht ist unaustilgbar, wie der Erdfloh; der letzte Mensch lebt am längsten.

‚Wir haben das Glück erfunden’ – sagen die letzten Menschen und blinzeln. Sie haben die Gegenden verlassen, wo es hart war zu leben: denn man braucht Wärme. Man liebt noch den Nachbarn und reibt sich an ihm: denn man braucht Wärme.

Krankwerden und Misstrauen-haben [sic!] gilt ihnen sündhaft: man geht achtsam einher. Ein Thor, der noch über Steine oder Menschen stolpert!

Ein wenig Gift ab und zu: das macht angenehme Träume. Und viel Gift zuletzt, zu einem angenehmen Sterben.

Man arbeitet noch, denn Arbeit ist eine Unterhaltung. Aber man sorgt, dass die Unterhaltung nicht angreife.

Man wird nicht mehr arm und reich: Beides ist zu beschwerlich. Wer will noch regieren? Wer noch gehorchen? Beides ist zu beschwerlich.

Kein Hirt und keine Heerde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig in´s Irrenhaus. […]

Man ist klug und weiss [sic!] Alles, was geschehen ist: so hat man kein Ende zu spotten. Man zankt sich noch, aber man versöhnt sich bald – sonst verdirbt es den Magen.

Man hat sein Lüstchen für den Tag und sein Lüstchen für die Nacht: aber man ehrt die Gesundheit. […]“ (Nietzsche 1999, 20ff.).

Aus Angst vor dem Tod sind wir einer obsessiven Selbstkontrolle und einem egomanen Aktivismus verfallen. Im Glauben daran etwas an der Tatsache, dass wir sterben müssen, ändern zu können. Dabei löschen wir alle Negativität aus, betäuben den ursprünglichen Schmerz des Daseins und versuchen den Tod zu zähmen. Dass dieser aber nicht zähmbar ist, ja, das eigentlich Unzähmbare darstellt, wollen wir nicht begreifen und verlieren dabei einen großen Teil unseres Lebens an den Kampf gegen das Sterben.

Tod ist ein Anderer

Die angesprochene Kritik am Kontrollzwang und Sicherheitsdenken darf dabei nicht missverstanden werden. Denn die Reaktion auf den Todesschmerz kann sowohl asketisch als auch hedonistisch ausfallen. Beide Prinzipien aber verneinen das Drama des menschlichen Daseins und führen zu einer Verkürzung der eigentlichen Lebenszeit. Warum? Weil ein großer Teil der persönlichen Kraft, Energie und Zeit in die Abwehr investiert wird. Dabei wird die geistige und emotionale Entwicklung blockiert. Die Zeit, die ich mit dem Lesen von Ratgebern verbringe und in das Herstellen meiner Gemüse-Smoothies stecke, ist Lebenszeit, die sich um den Tod kreist. In Baudrillards Worten klingt das so: „Der zwanghafte Sicherheitstrieb kann als eine gigantische kollektive Askese und als eine Vorwegnahme des Todes im Leben selber interpretiert werden […]“ (Baudrillard 1991, 283). Dabei ähnelt jener asketische Sicherheitstrieb dem als Hedonismus getarnten Todestrieb. Wer also glaubt beim tagelangen Exzess oder bei eskapistischen Zerstreuungsgelagen seinem Dasein zu frönen, irrt gewaltig. Während der lebensbejahende Controlfreak als vermeintlicher Antagonist des Todes agiert und alle seine Handlungen darauf ausgerichtet hat, sein eigenes Ableben zu verhindern, implodiert der zerstreute Hedonist am Überschuss und vegetiert regressiv dahin. Niemand ist dem Tod dabei existentiell so nah wie diese beiden Prototypen der Todesabwehr.

Aber die Mannigfaltigkeit und Auswahl an asketischen und hedonistischen Gelegenheiten in unserer Gegenwart spiegeln nicht nur die fehlende Auseinandersetzung mit den negativen Aspekten des Lebens wider, sondern insbesondere eine gesteigerte Angst. Schließlich ist der Wunsch nicht sterben zu wollen, keine Erfindung der Moderne. Dabei scheint es aber, als habe er in den letzten 50 Jahren einen exponentiellen Anstieg erfahren. Mit der Errungenschaft der freien Wahl entwickelte sich neben dem Glauben an ein souveränes Individuum, das sein Schicksal selbst in der Hand hat, zeitgleich auch eine Fülle an möglichen Leben, die von jenem Individuum gelebt werden können.

No, we can´t

Die Biografie des post-modernen Bürgers legt Zeugnis über diesen Tatbestand ab: Zweitstudium, Auslandsaufenthalt, Sabbat-Jahr, Festanstellung, Freiberuflichkeit, Ehe, Patchwork-Familie, Auswandern, Einwandern, nach Oben kommen, Oben ablehnen – und so weiter und so fort. Das Leben hat eine ungeahnte Erweiterung erfahren. Und diese Erweiterung wird nicht nur durch den „freien Willen“ konkret erlebbar, sondern führt durch die mediale Präsenz und Zurschaustellung verschiedener Lebenskonzepte – dazu gehören die Urlaubsbilder meiner Facebookfreunde genauso wie die Twitterfotos von Mariah Carey und Jay-Z – zu einem Wettlauf gegen die Zeit.

In der Ecke meines Wohnzimmers steht eine Gitarre. Diese Gitarre erinnert mich daran, dass ich in einem anderen Leben eine weiße Lauryn Hill hätte werden wollen. Alles, was mir zu diesem Leben fehlt, sind fünf Jahre intensiver Unterricht. Ich habe keine Ahnung, wann ich diese fünf Jahre eingeschoben bekomme, um ein Leben als verwirrte Singer/Songwriterin zu führen. Denn neben diesem Leben wünsche ich mir gleichermaßen die Chance auf eine Existenz als professionelle Tänzerin, Philosophieprofessorin und Biobauernhofbesitzerin. Dass keines dieser Leben jemals von mir vollständig gelebt werden kann, macht traurig. Diese Erkenntnis macht aber eben auch ungeduldig und ängstlich, denn diese unzähligen Möglichkeiten, das persönliche Dasein zu gestalten, werden niemals und zu keinem Zeitpunkt in 80 Lebensjahre passen. Weder mit der täglichen Dosis Spiruli noch ohne. Als Steve Jobs, der ein großer Verfechter von Spezialdiäten und alternativen Heilungsmethoden war, im Oktober 2011 an seiner Krebserkrankung starb, wurde eines besonders deutlich, nämlich, dass es keine Heilung gibt: keinen Saft, keine richtige Art der Lebensführung, keine sauteure, extrem geheime Therapie, keine Antwort auf die Frage, wie wir am besten leben sollten. Wer, wenn nicht er hätte sich vom Tod freikaufen können?

Den Tod nicht zu bekämpfen, zu kontrollieren und zu penetrieren, ist die große Aufgabe, der wir uns stellen müssen. Denn er ist nicht unser Gegner. Er macht das Leben zum Leben so wie der hegelsche Knecht den Herrn zum Herrn macht. „Der Tod ist kein bloßer Schlusspunkt, sondern ein Nullpunkt des Lebens, wo dies anfängt“ (Han 1998, 7).