Idomeni

von 
Reportage
zuerst erschienen am 22. Mai 2016 in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung Nr. 20, S. 46

Der Wunsch, die Bilder der Geschichte nicht nur zu betrachten, sondern zu bewohnen, ist groß. Schon auf der Fahrt nach Idomeni war das klar. Neben mir auf dem Beifahrersitz saß eine junge Amerikanerin, die in Oxford Journalismus studiert, und mir aufgeregt von diesem Ort erzählte, den sie aus dem Fernsehen kannte. Idomeni.

Die Fahrt von Thessaloniki in das griechische Dorf an der mazedonischen Grenze dauert eine knappe Stunde. Wir waren praktisch die Einzigen, die auf der Autobahn Richtung Norden fuhren, auch in den wenigen Dörfern, an denen wir vorbeirauschten, ließ sich kaum jemand blicken. Die Landschaft lag so gleichgültig vor den noch schneebedeckten Gebirgsketten, wie Landschaften das eben tun. Das einzige Leben, das sich zwischen Thessaloniki und dem Idomeni regte, waren aufgeregte Vögel über grünen Wiesen. Eigentlich war alles ganz schön. Nur meine Beifahrerin konnte ihren Mund nicht halten. Sie hatte sich auf diese Reise vorbereitet und erklärte mir ausführlich, wonach sie in Idomeni Ausschau halten werde. Toiletten, wusste sie, waren immer das Problem an diesen Orten, vor allem für Frauen; die meisten Vergewaltigungen würden passieren, weil sie ungeschützt ihre Hose im Wald herunterlassen oder den Rock auf dem Acker hochziehen müssten. Sie blätterte hektisch in ihrem Notizblock und nannte Leute, mit denen sie sich vor Ort treffen werde. Interviews führen, natürlich. „Ich war noch nie in einem Flüchtlingslager“, gestand sie. „Aber die NGO-Leute kennen sich aus mit den Flüchtlingsproblemen.“

Wir passierten eine Tankstelle, die letzte vor der mazedonischen Grenze, wie das Schild auch auf Deutsch ankündigte. Auf dem Seitenstreifen standen die erste Zelte, an den Zapfsäulen die ersten Flüchtlingskinder, unter den Schirmen an den Holztischen saßen Frauen und Männer. Es waren Hunderte. Meine Begleitung wurde sehr nervös. „Für mich ist Idomeni das Sinnbild der Flüchtlingskrise“, versicherte sie mir, als wir das Ortsschild erreichten.

Im März 2016 publizierte das Time-Magazine Schwarz-weiß-Fotografien von James Nachtwey. Der berühmte Kriegsfotograf war nach Idomeni gereist und hatte seine Kamera auf das Elend gerichtet, das sich Anfang März unter strömenden Regen und in der Kälte nach der Schließung der Balkanroute rund um die Bahngleise ausbreitete: Männer und Kinder in Zelten auf Bahngleisen im Schlamm vor Feuern, Kleidung an Wäscheleinen, die vergeblich über Pfützen zu trocknen versucht, Grenzzäune, Polizeikräfte, Fluchtversuche. Die Bildunterschriften datieren die Szenen zwischen dem 12. und 18. März, trotzdem wirken die Schwarz-Weiß-Abzüge schon zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung am 24. März wie historische Aufnahmen. Gleichzeitig war auch der chinesische Künstler Ai Weiwei angereist, um die mediale Aufmerksamkeit auf die Lage vor Ort zu richten. Die Szenen verschärften den Stellenwert Idomenis als Sinnbild der Flüchtlingskrise. „Diese Bilder müssen weg“, forderte der luxemburgische Außenminister Jean Asselborn am 19. März im Deutschlandfunk und unterstellte den dramatischen Aufnahmen einen Wirkungsgehalt, den sie in Europa nicht mehr entfalten sollten. Politische Folgen jedenfalls haben sie bis heute keine. Die Grenzen sind geschlossen. In Idomeni warten immer noch über 10.000 Menschen auf die Weiterreise.

Ich parkte das Auto am Rande einer asphaltierten Straße, die durch das Dorf Idomeni über die Bahngleise ins Nirgendwo des Ackerlandes führt. Zu ihren Seiten erstreckt sich das Lager, das von Hilfsorganisationen in drei Zonen aufgeteilt wurde. A, B und C. Sobald man querfeldein ein paar Schritte über den Acker gelaufen ist, wird man von einem Gestank eingehüllt, der das Lager vom Rest der Umgebung trennt, als passiere man eine unsichtbare Mauer. Er entsteht vor allem durch das Feuer, das vor jedem der unzähligen Zelte brennt und die Luft so verpestet, dass sich die Atemwege verengen und in der zunehmenden Hitze eine Platzangst aufkommt, die es unter freiem Himmel, auf freiem Feld, vor dieser Naturkulisse eigentlich nicht geben kann.

Die erste Person, mit der ich vor einem großen Zelt spreche, auf dem „Cultural Center“ steht, ist Pia. Sie ist umringt von mindestens fünfzig Kindern, die schreiend aus einer Reihe springen, in der sie stehen sollen, um an Sprach- und Matheunterricht teilzunehmen. Ein Drittel der in Idomeni aufgehaltenen Flüchtlinge sind Kinder. Pia tätschelt ihnen über die Köpfe und sagt: „Es ist echt nett hier, wie auf einem Festival, auf dem nur niemand sein will.“

Etwas entfernt sitzt eine junge Amerikanerin traurig auf einem Stein. Ihr Gesicht ist ebenso wie das von Pia von der Sonne verbrannt. „Are you okay?“ frage ich. „No, I’m not okay“, antwortet sie, „I wanted to teach Yoga classes to the kids but they won’t let me.“

Am Vorabend ein Freund beim Abendessen in Thessaloniki von Idomeni als touristischem Reiseziel gesprochen. „It’s the first touristic site in Europae“, hatte er gesagt und dabei so gelacht, dass mir furchtbar kalt wurde. Zynismus ist ja ein wenig wie eine Krankheit, und das Gegenteil von Fieber. Er legt sich über das Herz und lässt jede Gefühlsregung wie ein dummes, naives Kind dastehen. Gerechtfertigt wird die Diskreditierung von Gefühlen meist mit der Erfahrung, über die der Zyniker verfügt und die dem Kind fehle. Gabriel bezeichnete Idomeni also als touristisches Reiseziel. Und junge Frauen wie Pia und die Amerikanerin mit dem Yoga-Vorhaben heißen Voluntourists, eine Kombination aus Volunteer, dem freiwilligen Helfer, und einem Touristen. Ich weiß nicht, wer sich solche Wörter ausdenkt. Ein Zyniker kann es nicht gewesen sein.

Schon Ai Weiweis Auftreten in Idomeni hatte weltweit für Empörung gesorgt. Dem chinesischen Künstler wurde nachgesagt, er bereichere sich am Elend der Flüchtlinge und stelle nicht sie, sondern sich selbst in den Mittelpunkt.

Auf den Feldern rechts und links von der asphaltierten Straße gibt es verschiedene Zeltsorten, kleine und große und mittelgroße in bunten Farben, außerdem große weiße Zelthallen, auf denen die Namen der großen Hilfsorganisationen stehen: in blauen Buchstaben UNHCR – das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen; eingerahmt in ein rot-weißes Strichmännchen-Logo – Ärzte ohne Grenzen; und ein paar Container, Toiletten, Waschräume. Zur Essensausgabe der griechischen NGO Praksis, die sich im Zentrum des Lagers befindet, führt ein vergitterten Gang, der aussieht wie eine Gefängnisschleuse. In der Nähe treffe ich auf Ivan aus Irland. Seine Kleidung, beiges T-Shirt, Jeans, ist ungewaschen, sein Haar hängt ihm zerzaust um einen langen Bart. Er sitzt beiläufig auf den Bahngleisen, er grüßt den einen und plaudert mit dem anderen. Er ist einer von vielen Einzelgängern, die seit Monaten zu den Hotspots der Flüchtlingskrise reisen und ihre Zeit an Stränden und in der Nähe von Auffanglagern verbringen. Es sind Gerüchte, in Idomeni kursieren vor allem Gerüchte. Informationen gibt es keine. Ich höre von einer Frau aus Großbritannien, die in kurzem Rock und tiefem Ausschnitt auf der Suche nach Sex sein soll und seit Wochen im Camp herumhängt. Eine Reihe von Deutschen sollen Präservative ausgeteilt haben, auch vor Pädophilen wird gewarnt.

Ivan hatte sein Studium abgeschlossen und wusste nicht, was er im Anschluss machen sollte. Arbeit gebe es keine in Irland, deshalb sei er losgefahren, um zu helfen, vor gut einem Jahr.

„Wie sieht denn diese Hilfe aus?“

„Ich verbringe einfach Zeit mit denen.“ In der vergangenen Nacht schlief er im Zelt einer syrischen Familie. Manchmal, wenn es spät wird, komme er nicht mehr zurück ins Park Hotel, dann lasse er sich zum Abendessen einladen. „Von dieser Gastfreundschaft können wir etwas lernen“, erklärt Ivan, sichtlich bewegt.

Das Park Hotel liegt an der Ausfahrtsstraße zum Dorf Polykastro, knapp fünfzig Kilometer nördlich von Thessaloniki und nur wenige Kilometer entfernt von Idomeni. In der Empfangshalle hängen knapp hundert junge müde Leute aus Italien, Deutschland, USA, Spanien, Australien, Neuseeland herum. Die Halle ähnelt einem Auffanglager für Rucksackreisende: Flatterhosen, zerschnittenen T-Shirts, Rastalocken, Flip Flops. Die meisten von ihnen zelten für wenige Euro im Garten und benutzen die Toiletten als Waschraum. Einige schlafen nebenan hinter zersprungenen Glasfenstern in einem leerstehenden Gebäude. Davor steht eine Tankstelle, die nicht mehr in Betrieb ist. Gegenüber liegt ein Restaurant, ein Puff und eine kleine Lagerhalle. „Playboy“ lautet der Schriftzug, der diese Häuserzeile ziert. Ansonsten ist es sehr still. Auch der ein oder andere Syrer sitzt auf den Plastikstühlen und wartet neben einer Steckdose auf einen vollen Handyakku. Vorausschauend wurde eine Tafel im Eingang des Park Hotels aufgestellt. Sie informiert über unzählige Aktionen, die bereits in Idomeni laufen: „Intervolve“, „Northern Lights“, „Save the Children“, „Chai Team“ lauten einige davon. Außerdem findet einmal in der Woche eine Einführung statt, die den neu Eingetroffenen Orientierung geben soll. Insgesamt halten sich in Idomeni nach Einschätzung von Patrick aus Australien, einem der wenigen ausgebildeten Sozialpädagogen vor Ort, über 400 freiwillige Helfer und Touristen auf.

„Did you go in today?“ ist die Frage, die ich hier auf der Terrasse im Park Hotel am häufigsten höre. Die Formulierung verrät, dass sich Idomeni im Laufe der Zeit in eine Zwischenwelt verwandelt hat, in die jeder hinein- aber niemand herauskommt. Idomeni ist damit nicht nur das Sinnbild der Flüchtlingskrise, Idomeni ist die gebannte Gefahr, in die sich jeder begeben kann, ohne verletzt zu werden. Im Gegensatz zu anderen Krisengebieten liegt das Dorf im antiken Herzen der westlichen Welt. Sie ist vertraut. Und erreichbar. Es lauern keine Gefahren. Es gibt eine Infrastruktur aus Flughäfen, Autobahnen, Fernverkehr und Unterkünften. „In die Türkei“, erzählt mir ein junger Mann aus Hamburg im Garten des Park Hotels, „wäre ich nicht gefahren, ich weiß nicht, was mich dort erwartet.“

„Erfahrungsarmut: das muss man nicht so verstehen, als ob die Menschen sich nach neuer Erfahrung sehnten“, schreibt Walter Benjamin 1933 in einem kleinen Text mit der Überschrift „Erfahrung und Armut“. „Nein, sie sehnen sich von Erfahrungen freizukommen, sie sehnen sich nach einer Umwelt, in der sie ihre Armut, die äußere und schließlich auch die innere, so rein und deutlich zur Geltung bringen können, dass etwas Anständiges dabei herauskommt“. Dass der Anstand unanständig werden kann, auch das sieht man in Idomeni.

An Matthias’ Bein hängt ein Kind. Der junge Mann aus Hamburg, Pickel im Gesicht, ein paar Schweißperlen zwischen Oberlippe und Nase, versucht es abzuschütteln. Aber das Kind lässt sich nicht abschütteln. Es hat sich festgeklammert, der kleine Hintern hängt auf dem Sand, die Arme umschlingen hartnäckig das behaarte Schienbein. Matthias beugt sich hinunter und zerrt an den dünnen Ärmchen. „Es ist ja eigentlich ganz nett hier“, sagt auch er zu mir und lacht verlegen über das kleine Geschöpf zu seinen Füßen. „Auch diese Tränengas-Sache war völlig harmlos. Also wenn Sie das mit den Polizeieinsätzen gegen die Antifa vergleichen, die ich so erlebt habe….“

Matthias wurde vor einem Lastwagen abgestellt und soll Wache halten. Aufpassen, dass die Flüchtlinge nicht von allen Seiten antraben, sondern in der Reihe stehen bleiben. So viel hat er schon gelernt. Frauen auf die eine, Männer auf die andere Seite, Ordnung muss sein. So steht es auch auf dem Faltblatt, das an Freiwillige wie ihn ausgeteilt wird, eine Art Knigge für Helfer, die keinen blassen Schimmer haben, was sie hier eigentlich tun, die halt helfen wollen, irgendwie. Kaum jemand spricht Arabisch, aber mit Händen und Füßen weist man sein Gegenüber in die Warteschlangen. Ich laufe ein Stück weiter und treffe auf Frauen mittleren Alters aus den Niederlanden. Sie sitzen im Sand auf dem Boden und halten verdreckte Kinder im Arm. Es war ein langer Tag, die Temperaturen liegen am späten Nachmittag immer noch bei fast 30 Grad. Das Zelt, aus dem heraus sie Kleidung verteilen und Spielsachen, ist nicht mehr geöffnet. Ich setzte mich dazu. Ramona, die Leiterin der Initiative „Live for Lives“, zeigt mir Fotos auf ihrem Mobiltelefon: Neben ihr stehen Kinder, die in die Kamera strahlen und den Daumen nach oben halten. Mit großem Stolz aber erfüllt sie ein Doppelporträt, das sie gemeinsam mit einem „großen Star“ zeigt. „Johnny de Mol, er ist gleich da vorne“, sagt Ramona und zeigt auf ein großes Zelt. Johnny de Mol ist Schauspieler, TV-Moderator und Promi. Seine Eltern besitzen eine der größten TV- und Internetproduktionsfirmen, Endemol, die Formate wie „Traumhochzeit“, „Big Brother“ und „Wer wird Millionär“ konzipierte. Ich frage Ramona, was sie veranlasst habe, die Hilfsorganisation zu gründen und ihre Zeit hier an diesem Ort zu verbringen. Sie zeigt mir ein weiteres Foto. Ein Mädchen treibt tot auf einer Wasseroberfläche. „Alle haben gesagt, das sei eine Fälschung, aber wir wussten gleich, dass es echt ist und wir jetzt helfen müssen.“

Das Foto des toten Mädchens war im April 2015 für die Niederlande ein ähnlicher Weckruf wie das Foto von Ayla Kurdi für andere europäische Staaten, das Bild des toten dreijährigen Jungen, das die Fotografin Nilüfer Demir am Strand in der Nähe der Stadt Bodrum machte. „Nach Monaten voller Bilder aus Reportagen über den anhaltenden Flüchtlingsstrom über das Mittelmeer, von sinkenden Booten, ertrunkenen Menschen…, sah ich plötzlich dieses Bild von einem kleinen Jungen, der bäuchlings auf einem Strand lag, das Gesicht im Sand“, schreibt der Schriftsteller Karl Ove Knausgård im November 2015. „Er war tot, und ich begriff auf einmal, was der Tod bedeutete. Plötzlich wurde mir bewusst, dass die Menschen, die übers Meer kamen, nicht Menschen in Mehrzahl, sondern in Einzahl waren. Ich verstand es, weil ich selbst Kinder habe. In seinem Tod sah ich ihren Tod.“ Es ist das Geständnis eines Vaters, das fast so etwas wie die christliche Tradition des Mitleids neu formulierte: Erst die Identifikation mit dem Schicksal eines unschuldigen Kindes hebt die Distanz zu den Menschen auf und erinnert an die Schuld, die sein Tod dem Abendland auferlegt. Und so machte sich Johnny de Mol mit einem Lastwagen auf und eröffnete in Idomeni eine Säuglingsstation. „Ich möchte“, sagt er mir kurz vor seiner Weiterreise nach Athen, „schwangeren Frauen eine geschützte Atmosphäre bieten, damit sie in Ruhe ihre Kinder zur Welt bringen können.“ Außerdem habe er „Entertainment for the kids“ mitgebracht, Trampolins, die auf dem Acker stehen, so, als handele es sich um ein Ferienlager. „Gibt es denn viele schwangere Frauen hier?“, frage ich. Er erinnert sich an etwa drei Geburten.

Johnny erfüllt alle Kriterien eines coolen Typen. Er trägt eine Kappe und Ketten und ein breites Grinsen, er ist braungebrannt. Sobald Syrer vor ihm stehen, gibt er bereitwillig Antwort auf die immer gleiche Frage: Wann werden die Grenzen geöffnet?

„Sie werden nicht geöffnet.“

Auch ich habe im Laufe der Zeit, die ich in Idomeni verbracht habe, irgendwann angefangen, diese Tatsache auszusprechen. Hier leben heißt: warten. Nur niemand weiß worauf. Das einzige Wort, das wie ein Echo wiederholt wird, ist Merkel. Merkel. Merkel. Merkel. Merkel. Sie ist das Versprechen, an dem sich viele hier festzuhalten versuchen. „Es gibt sogar ein Kinderlied“, erzählt mir ein junger Mann aus der Schweiz, der in einer der Küchen aushilft. „Deutschland ist das Paradies, singen sie, ist das zu fassen?“ Ein kleines Mädchen aus Syrien zeigt auf ihr T-Shirt, auf dem der Eiffelturm abgedruckt ist. „Paris“, sagt sie. „Paris is beautiful.“ Ansonsten hat sich eine Resignation ausgebreitet, die auch die tägliche Lebensmittelverteilung, die Suppen, die Tees, die Bananen, die Brote, die Reisschalen, nicht vertreiben können. Unterhaltungsprogramme für hunderte von Kindern, wie sie das „Cultural Center“ anbietet und Johnny de Mol mit seinen Trampolins - auch eine improvisierte Leinwand, eine Art Freiluftkino steht hier auf dem Acker - sind die einzige Abwechslung. Sie erfüllen ihren wohltätigen Zweck.

Auf dem Feld in Idomeni werde ich deshalb von einem jungen Mann aus Dresden ermahnt, ich solle mich nicht für die Arbeit von freiwilligen Helfern wie ihm interessieren. Gemeinsam mit zwei Freunden steht er im Schatten eines Lastwagens und kämpft gegen die Erschöpfung. Die griechischen Behörden haben angefangen, sie zu schikanieren. Sie sind seit vielen Wochen hier und schenken Chai Tea aus, bis das Gerücht in Umlauf kam, radikale Linke würden Flugblätter an die Flüchtlinge aushändigen und sie zu gewaltsamen Protesten anstacheln. Seitdem werden sie auf dem Weg zwischen Polykastro in Idomeni kontrolliert.

2003 schrieb Susan Sontag, der Schrecken habe sich aus Europa zurückgezogen – „zumindest so weit, dass der Eindruck entsteht, der gegenwärtige friedliche Zustand sei selbstverständlich“. Heute lässt sich das nicht mehr schreiben. Tag für Tag werden Bilder aus Idomeni gesendet und gedruckt, keines zeichnet auf, was einem hier tatsächlich begegnet.

Nach den Bildern, die, wie Karl Ove Knausgård es beschreibt, aus der Masse das schützenswerte Individuum, das unschuldige Kind heraustreten ließen, auf dem Boden liegend, leblos, als verletzbares Einzelwesen, hat sich die Berichterstattung über die Flüchtlingskrise verändert. Das Kind war der erste Flüchtling, der unter seinem Namen bekannt wurde: Aylan Kurdi. Erst im Moment seines Todes, nachträglich, erhielt es einen Lebenslauf, Personenstatus. Viele wurden sein lebloses Abbild nicht wieder los, auch die eigene Schuld daran, mit der Politik des Westens die Katastrophe, die zu Vertreibung und Flucht führt, überhaupt erst mit ausgelöst zu haben. Während der rechte Flügel Europas das Opfer in einen Täter verwandelt, wird diese Schuld an Orten wie Idomeni aber auch entsorgt. Idomeni als psychologische Müllhalde des Abendlandes - zu diesem Schluss kommt man spätestens in einer großen Lagerhalle, die wenige hundert Meter entfernt vom Park Hotel in Polycastro steht. Dort stapeln sich Tonnen von Klamotten und Spielsachen und aussortiertem Kram, Abfall, wenn man so will, verpackt in Umzugskartons, die niemand braucht.

„I don’t want toys“, sagte eine junge Syrerin zu mir, „I just want to pass.“