Irrenhaus Österreich

von 
Feuilleton
zuerst erschienen am 6. Oktober 1904 in Die Fackel, Nr. 166

Durch die zerbrochenen Fenstergitter hallt der Jammer der Offiziellen: drin beklagen Dummheit und Niedertracht die Rettung einer Menschenseele, weinen all die tieftrauernd Zurückgebliebenen, die mit Polizeiparagraphen, Hofdekreten und psychiatrischen Nichtswürdigkeiten Louisens von Coburg Erdenwallen zwischen Agram und Döbling, Purkersdorf und Coswig begleitet haben. Noch klingt ihr Weheruf, — schon übertönt von dem gellenden Pfui und Hohngelächter aus jenen zivilisierten Staaten Europas, wo Justizmorde nur in den dringendsten Fällen und nie in privatem Auftrag begangen werden. Und dieses Blatt, in dem zuerst dem Schwachsinn der um Louise bemühten Psychiater das Wort geredet ward, sei hundertfacher Resonanz geweiht des Aufschreis, den das durch sechs Jahre von einem mesquinen Advokaten beschummelte Rechtsgefühl getan hat. Wir, denen die Regierenden es täglich schwerer machen, nicht zu Haß und Verachtung gegen sie aufzureizen, wir, die diesem schönen Lande bald nur noch ein Patriotismus der Landschaft verbinden wird, wir Verlornen, für den Franz Josefs-Orden nicht Gebornen, wollen uns der klaren Erkenntnis freuen: Österreich, dessen Staatsgewalt so oft im Männerkampf unterlag, hat sich ein für allemal beschieden, der Schauplatz von Hetzjagden auf Frauen zu sein.

Zivile und Militärbehörden, Gendarmerie und Polizei, wir sehen sie aufgeboten, die Richtung sexueller Triebe in legitime Bahnen zu lenken. Seit dem Tag, da eine bürgerliche Kreatur, deren sittliche Werte sich bloß in Expensen berechnen lassen, vor das Bett einer schlafenden Prinzessin drang, wissen wir, daß es in Österreich eine staatliche Exekutive der Eifersucht gibt. Aber sie erwürgt nicht, vergiftet und erdolcht nicht. Sie untersucht den Geisteszustand. Und gilt es in einem Land, wo der Mensch beim Baron anfängt, an sich für irrsinnig, einen Prinzen mit einem Grafen zu betrügen, warum sollte diese Diagnose in einem Land, wo der Mensch beim Psychiater aufhört, nicht den Freiheitsraub rechtfertigen? Daß bei uns, im Reich des Trinkgelds und der Gnade, irgend etwas unmöglich sei, hat auch, bevor ein Ministerpräsident den Preßkongreß knieend empfing und ehe der antisemitische Bürgermeister Herrn Singer seinen Bruder nannte, niemand mehr geglaubt. Töricht wär’s nur, einen Ausnahmsfall zu beklagen, wo ein System tadellos funktioniert hat.

Denn siehe, die österreichische Bevölkerung wird seit langem nur mehr nach zwei Gesichtspunkten eingeteilt: in Vollsinnige und Irre oder in Unschuldige und Verbrecher. Vollsinnige und Verbrecher werden in den für sie bestimmten Irrenhäusern untergebracht, der Aufnahme von Irren und Unschuldigen dienen die Strafanstalten. Für die gewissenhafte Unterscheidung und Regelung dieser oft schwierigen Verhältnisse sorgen die Gerichtspsychiater. Ihrer Routine stellt sich manch ein Erkenntnisproblem in den Weg, — das schwerste: ob es nicht gottgefälliger ist, zehn bürgerliche Irre ins Kriminal als einen adeligen Sünder ins Irrenhaus zu bringen. Die Psychiater teilt man — von etlichen nie recht ernstgenommenen Wissenschaftlern abgesehen — in Spitzbuben und Schwachköpfe. Sollte ich Beispiele für beide Kategorien anführen, so könnte ich höchstens sagen, daß ich Herrn Regierungsrat Hinterstoißer, Louisens ersten Begutachter, für einen ehrsamen und ihren Verwahrer Pierson für einen klugen Arzt halte. Es gibt Psychiater, die einfach aus Passion dasselbe tun, wozu andere nur für hohen Schandlohn zu haben sind. Man würde gewiß fehlgehen, wenn man glaubte, daß alle Greuel dieser Welt durch Korruption bedingt werden und daß bei Einwurf der Münze die Niedertracht automatisch funktioniert. Der Nervenpathologe Benedikt, den niemand mißbrauchen möchte, mag ja recht haben, wenn er im Fall Coburg von einer „tendenziösen Irrenerklärung“ spricht und im gelesensten Tagesblatt die Meinung vertritt, daß es Ärzte gebe, die „den Mißbrauch ihres Wissens und Könnens den Interessen der herrschenden Klassen zur Verfügung stellen“, und daß das Motiv der Erwartung von „Stellen, Titeln, Orden und Reichtümern“ bei den ärztlichen Experten in gewissen Fällen „bestimmt nachweisbar“ sei. Wozu denn aber in die Ferne eines Korruptionsbeweises schweifen, wenn die gute Borniertheit so nahe liegt? Die Fachverlorenheit, die auch in der Seelenforschung nicht auf das Leben, sondern nur auf die Schablone dressiert ist? Die deshalb, weil „was Brot in einer Sprache, Gift heißt in der andern Zunge“, den Hungrigen für einen Mörder hält! Seit dem Tage, da ich in dem gerichtsärztlichen Gutachten über einen Verbrecher das „Symptom“ verzeichnet fand: „Er hatte keinen Geschmack mehr an feineren Darbietungen des Burgtheaters und der Oper, und ethisch immer tiefer sinkend, trieb er sich mit weiblichen Bekannten im Tingeltangel herum“, seit damals glaube ich, daß nicht alle Menschen schlecht sind. Ja, auch die Dummheit hat ihren redlichen Anteil an unserm Staatsjammer. Ich weiß jetzt, daß die „Herabsetzung der intellektuellen und ethischen Funktionen“ einer Prinzessin öfter infolge der Herabsetzung der intellektuellen als der ethischen Funktionen ihrer Ärzte zustandekommt. Leider. Neben dem Bilde der immer respektvollen, immer ahnungslosen Stupidität, die sich, weil’s der Weltgeist will, gebrauchen läßt, wäre der Anblick einer zielbewußten Käuflichkeit verlockend. Gegen Dummheit haben Götter vergebens, gegen Korruption Schriftsteller mit Erfolg gekämpft. Sie mag sich immerhin als Gegengift gegen jene bewähren: ein höheres Angebot paralysiert einen hohen Einfluß, verhilft manchmal auch einer gerechten Sache zum Sieg. Aber die Dummheit hat ihre Gesinnung, und nicht um alles Gut der Welt läßt sie sich sie abkaufen. An der Gemeingefährlichkeit der unbestechlichen Psychiater habe ich keinen Augenblick gezweifelt, und die Fälle Girardis und Louisens dürften sie notorisch gemacht haben. Herr Professor Wagner von Jauregg hat von den Rothschild und Coburg, hat für die Bereitwilligkeit, dort in der Eifersucht, hier in der Untreue ein Irrsinnssymptom zu erkennen, sicherlich keinen baren Gulden bekommen. Die Befleckung, die seinem gelehrten Namen geschah, als er sich für die Internierung des von ihm nie untersuchten, bloß durch einen bedenklichen Theaterarzt geschilderten Girardi aussprach, als die Gefahr, daß der geliebteste und gesündeste Geist des Wiener Kunstlebens sicherer Zerstörung überliefert werde, nur durch Zufall und Gnade abgewendet ward, — ein gewissenhafterer Kollege hätte sie sich mit einer Million vergüten lassen. Aber diese selbstlose Übernahme aller Ehrenfolgen einer psychiatrischen Untat gibt viel deutlicher das Bild pathologischer Geistesschwäche als das Zertrennen von Kleidern, mit dem die arme Gefangene von Coswig sich ihre Zeit vertrieben und ihren Schmerz gestillt hat. Wenn nur die hundertzwanzig Stiefel, die unsere Gerichtspsychiater in einem Jahre zustande bringen, auch so unschädlicher Passion ihre Entstehung dankten, wie die vielberufene Garderobe einer luxusgewohnten Prinzessin! Wenn solche Stiefel nicht jeder für sich bestimmt wären, ein Schicksal zu zertreten! …

Ich hasse das Handwerk, weil es auf brüchigem Wissensgrund den Machtwahn des Individuums nährt und gleich dem Journalismus seinen Mißbrauch in sich trägt. Ich sehe in den Psychiatern, denen ich zumeist die Fähigkeit bewußten Handelns, somit auch das Talent zur Bestechlichkeit abspreche, Geistesgestörte, deren Verhältnis zu den passiven Irren ich als den Unterschied zwischen konvexer und konkaver Narrheit bezeichnen möchte. Genialem Irrsinn (Meynert) steht in der überwiegenden Zahl der Fälle Schwachsinn gegenüber, der mit fixen Ideen und Lebensschablonen arbeitet, oft in Bosheit und maniakalische Verfolgungssucht übergeht, hier dem Staatsanwalt frohndet, dort nach Psychosen jagt. Man lese das Referat des im weitesten Seelenreiche beschränktesten Forschers, des Hofrats von Krafft-Ebing, der seinen Weltruf dem stofflichen Interesse dankt, das überhitzte Romanleser seiner Lehre von den sexuellen Perversitäten abgewannen, man lese das sogenannte „Fakultätsgutachten“, das die Wiener medizinischen Kapazitäten Seiner Hoheit so willig und so adrett geliefert haben wie die Schneider von Paris Ihrer Hoheit die Toiletten, und das sicherlich ebenso unbezahlt blieb wie diese. Es ist von den Vollzugsorganen Coburg’schen Geizes wiederholt erklärt worden, daß den Versicherungen von Laien, die die schwachsinnige Prinzessin normal fanden, um so geringerer Glaube beizumessen sei, als sich das Leiden der hohen Frau nur dem Kennerblick und nur in beständigem Verkehr langsam offenbare. Was aber die Kenner, die ihre Zeit nicht mit der Erwartung eines pathologischen Symptoms der Prinzessin vertrödeln konnten und einen erlauchten Besteller dennoch befriedigen wollten, zuwege gebracht haben, das wird noch in späten Tagen als die Autodiagnose chronischer Lebensfremdheit der Fachgelehrten und akuter Sinnesverwirrung vom hohen Auftrag geblendeter Hofräte vorbildlich sein.

Die sittliche Minderwertigkeit der Prinzessin wird symbolisch von einem Bergsturz in der Jugend, der vor ihrem Fall kam, hergeleitet, ihr Hang zur Verschwendung in eine klare Beziehung zu dem Tod des Kronprinzen Rudolf gebracht, der ihr Nervensystem dermaßen erschüttert habe, daß sie sich „dem ihr früher fremden Pferdesport in einer für gesunde Sinne unverständlichen Weise“ ergab. Nun, hier sind wenigstens sichtbare Zusammenhänge. Als eines der auffallendsten Symptome aber müssen verheiratete Psychiater die „zunehmende, durch nichts motivierte Abneigung gegen den Prinz-Gemahl“ bezeichnen. Und daß der Prinzessin „ein Oberleutnant Mattassich“ besser gefällt als ein Herzog von Sachsen-Coburg-Gotha, ist in den Augen der Wiener medizinischen Fakultät vollends eine Anomalie, die die Entmündigung und Internierung der Kranken notwendig macht. „Anamnese und Befund“ ist jenes Moraltraktätchen betitelt, in dem als das bedenklichste Symptom geistiger Entartung die Beharrlichkeit bezeichnet wird, mit der die Prinzessin an ihre geistige Gesundheit und an die Unschuld ihres Geliebten glaubt. „Sie hält sich“, wiederholt dann das eigentliche Gutachten, „für makellos, geistig vollkommen normal, ihre Internierung für ein kolossales Unrecht“. Ist das nicht närrisch? Und wäre die Prinzessin nicht viel vernünftiger, wenn sie sich für geistesgestört hielte? „Ihre Stimmung ist häufig eine gereizte“, sie „erliegt gelegentlichen zornigen Aufwallungen“; ihre Festhaltung in einer geschlossenen Anstalt „empfindet sie als ein schweres Unrecht“; Mattassichs Verurteilung wähnt sie „durch Lug und Trug herbeigeführt und träumt davon, als Mann verkleidet, ihn aus seinem Kerker zu befreien“. Das ist bedenklich. Aber anderseits erträgt sie den Aufenthalt in der Irrenanstalt mit „Gleichmut“ und es „stellte sich nicht einmal eine tiefere und nachhaltigere Reaktion ein, als sie die Verurteilung des Mattassich erfuhr“. Auch das ist bedenklich. Erregung ist ein krankhaftes Symptom, Ruhe ist auch ein krankhaftes Symptom; „wie gut muß erst sein“, meint der jüdische Anekdotenerzähler, Erregung mit Ruhe? Das allerkrankhafteste Symptom ist aber, daß sich die Prinzessin „ihrer Reaktionsschwäche einigermaßen bewußt wird“. Sie äußerte — man höre und staune — am 6. April: „Ich bin viel zu nachgiebig und anständig, dulde lieber schweigend, als daß ich Skandal mache“. Ja, so wird sie — dachte Herr von Krafft-Ebing — ihr Lebtag aus dem Irrenhaus nicht herauskommen! Der Laie nennt’s kluge Selbstbeherrschung, der Kenner Bewußtsein der Reaktionsschwäche. Und er sagt: „Beraubt man einen Geistes gesunden seiner Freiheit, so sind heftige Reaktionen im Sinne von Aufbietungen aller Rechtsmittel, Fluchtversuchen, stürmischen Affekten bis zu schließlichen Selbstmordversuchen zu gewärtigen“. Sieht man heute, da die Prinzessin von ihrer „Reaktionsschwäche“ eben geheilt ist, wie recht der Hofrat Krafft-Ebing hatte? Eine untrügliche Irrenprobe: Bleibt der Patient in der Anstalt, so gehört er hinein; reißt er aus, so ist er gesund. Bleibt der Patient am Leben, so ist er wahnsinnig; bringt er sich um, so wird der Sektionsbefund ergeben, daß er bei Verstand war. Louise von Coburg macht dem Beobachter ausnahmsweise schon vor Flucht oder Selbstmord die Diagnose leicht: sie „liegt viel zu Bett, vertändelt ihre Zeit mit Toilette, schnipfelt an Kleidern und Spitzen herum, liest flüchtig Zeitung, interessiert sich für Nichtigkeiten, ohne ernstlich an Vergangenheit und Zukunft zu denken oder gar Schritte zur Verbesserung ihrer Situation zu unternehmen“. Sie „äußert Sehnsucht, einmal eine Opernredoute zu besuchen, die Volkssängergesellschaft ›Schrammeln‹ zu hören“. Sie zeigt „Mangel an Logik und Schwäche der Argumentation“. Alles in allem: welch ein Zerrbild des Frauengeistes! Nichts erinnert mehr an das Geschlecht, dem die Kenner seit jeher ein stärkeres Bedürfnis nach Logik und Argumentation als nach Opernredouten und Spitzentoiletten zuerkannt haben …..

Man traut seinen Augen nicht und sieht noch einmal nach, ob wirklich der Freiherr von Krafft-Ebing und der Dekan Vogl ihre Namen unter dies Gutachten gesetzt haben, in dem von „Mangel an Logik und Schwäche der Argumentation“ wohl nur der geringste Teil auf ein Frauengehirn entfällt und dessen wissenschaftlicher Ernst, aus Klatsch und sittlicher Entrüstung destilliert, in der Enthüllung des Schrammeln- Planes und in dem Vorwurf gipfelt, daß „geschwächtes sittliches Empfinden die Ehe als eine Last und selbst Fessel erscheinen ließ, welche zu Zerstreuungen außer dem Hause, Reisen, Sport u.s.w. führten“. Der damals wehrlose Mattassich wird von diesen Kavalieren der Wissenschaft „ein unwürdiger Mensch“ genannt, den die hohe Frau „verabscheuen“ sollte, und auch die Behauptung, die Prinzessin suche „ingeradezu schwachsinniger Weise ihre Handlungen zu beschönigen“ klingt mehr ehrenbeleidigend als psychiatrisch. Daß der Satz von ihrer Unverbesserlichkeit „in der fast einjährigen Zeit der gefolgten Internierung“ mehr böhmisch als deutsch klingt, kommt am allerwenigsten in Betracht gegenüber dem viel ärgeren Hohn auf Schamgefühl, Vernunft und Grammatik, den das spätere Gutachten unseres Wagner von Jauregg und der drei anderen „überprüfenden“ Kapazitäten aus Berlin, Brüssel und Dresden bietet.

Die durch nichts motivierte eheliche Abneigung kehrt wieder und wächst sich in der Beobachtung der erstaunten Herren zu dem „alten Haß gegen den Gemahl“ heraus, der „unverändert fortbesteht und uns gegenüber mit denselben nichtigen Argumenten begründet wurde wie früher“. Vor der ersten Untersuchungskommission hatte nämlich die Prinzessin angegeben, daß ihr Eheherr „geizig, feig und wenig reinlichkeitsliebend“ sei. Daß namentlich die letzte der drei Beschwerden in den Augen deutscher Professoren noch keinen Grund zu einer Abneigung bildet, wird man allmählich einsehen müssen. Dagegen wird es immer als unnatürlich auffallen, daß eine Prinzessin sich besser über Toilettefragen als über die „Lage ihrer Geschäfte und die eingegangenen Verbindlichkeiten“ orientiert zeigt. Schon der erste Referent, der mit ihr sprach, hatte diesen Defekt wahrgenommen, aber da die Prinzessin ihn während der Unterredung ansah, wahrheitsgetreu nach Wien berichtet, „daß der Blick der verschleierten Augen regelmäßig in das Leere gerichtet ist“. Lebhaft beklagt wird die „krankhafte Willensschwäche, welche die Patientin auch in Coswig verhindert hat, eine Änderung ihrer Lage anzustreben und auf die von Seiten des Mattassich an sie herangetretenen Befreiungsversuche einzugehen“. Weil der Satz so schön ist, machte die Prinzessin auch seine Wahrheit zuschanden, und selbst Herr Wagner von Jauregg, der gleich seinem Vorgänger Krafft-Ebing einzig aus der Tatsache, daß einer im Irrenhaus bleibt, auf dessen Irrsinn zu schließen imstande ist, müßte heute zugeben, daß sich die Willensschwäche seiner Patientin erheblich gebessert hat. Herr Pierson freilich gibt dies auch heute nicht zu, und es ist wohl die burleskeste Blamage, die man der Psychiatromanie wünschen konnte, daß der geprellte Wächter vom Lindenhof dasselbe „Symptom“ in der Flucht erblickt, das der Gutachter im Ausharren gefunden hat: krankhafte Willensschwäche sei es, die die hohe Frau den Befreiungsversuchen eines Mattassich habe erliegen lassen … Lustige Kapazitäten! Aber es kommt noch lustiger: Die Prinzessin — wer weiß das heute nicht? — kratzt sich am Kopfe. Auf Reisen, vor Fremden, im Restaurant, im Hotelvestibül. Ich muß dies Kennzeichen der Gemeingefährlichkeit nicht erst prüfen. Lacht doch Europa seit Wochen über die gewissenhaften Seelenforscher, die die Menschheit von der Gefahr einer sich kratzenden Prinzessin befreien und ihr da für einen schießenden Grafen auf den Hals schicken Haltet ein, der Witz ist allzu schmerzhaft, sein Salz brennt auf offenen Wunden!

Glaubt ihr nicht, daß das Zusammentreffen der Fälle der Prinzessin Coburg und des Grafen Csaky bewirken müßte, daß die fühlenden Zeitgenossen dieses Ragout von Bosheit, Rückständigkeit, Dünkel und Kriecherei, das sich Gerichtspsychiatrie nennt, endlich satt bekommen? Glaubt ihr nicht, daß man die Autoritäten einsperren müßte, die „den dauernden Aufenthalt der Frau in einer geschlossenen Anstalt für unbedingt notwendig“ erachten, weil alle Symptome dafür sprechen, daß der Mann keine Schneiderrechnungen zahlen will? Die unter Sachverständigeneid den kecken Ulk wagen, Kopfkratzen als psychisches Verfallszeichen zu verwerten und ein paar Zeilen tiefer als die natürliche Folge eines Hautleidens zu erklären? Die sich augenzwinkernd auf den Bericht des Irrenwucherers vom Lindenhof berufen: „Auch haben die Erfahrungen dieser Reise gezeigt, daß die Frau Prinzessin nicht mehr imstande ist, sich durch längere Zeit in der Außenwelt so zu benehmen, daß unliebsames Aufsehen vermieden wird; sie mußte wiederholt daran erinnert werden, daß sie nicht in einem öffentlichen Restaurant oder Hotelvestibül sich am Kopfe kratzen darf“; und die gleich darauf ihrem dummen Flunkern mit medizinischer Gründlichkeit das Geständnis entschlüpfen lassen: „Der seit langer Zeit bestehende Hautausschlag (Psoriasis) war bei unserer Untersuchung nur in geringer Intensität und Umfang vorhanden“. Ach, wenn nichts weiter als die Demütigung, die sich eine Königstochter von diesem Herrn Pierson auf Reisen gefallen lassen mußte, an der Psychiaterei zu rächen wäre! Nichts weiter an österreichischer Behördenwillkür zu rächen wäre als die Schmach von Agram, die Mattassich in seinen Memoiren beschreibt: „Als ich vom Hotel eskortiert wurde, wartete schon im Korridor unter Anführung des Dr. Bachrach der Wiener Gerichtspsychiater, Regierungsrat Dr. Hinterstoißer, und der damalige Polizeichef. Als ich das Hotel verlassen hatte, drangen diese Herren in das Zimmer der Frau Prinzessin, welche im Bette lag. Trotz Zureden der Hofdame, Gräfin Marie Fugger, waren sie nicht zu bewegen, das Zimmer zu verlassen, während sich die Frau Prinzessin ankleidete; sie mußte das in ihrer Gegenwart tun. Der Wortführer war natürlich Dr. Bachrach, und er verkündete der Frau Prinzessin, sie müsse entweder in das Palais Coburg zu ihrem Gatten zurückkehren oder ihre Einwilligung geben, in eine Heilanstalt gebracht zu werden. Die Frau Prinzessin entschloß sich für das Sanatorium in Döbling, da sie unter gar keiner Bedingung zu ihrem Gatten zurückkehren wollte. Dr. Bachrach begann das Zimmer zu durchschnüffeln, unterließ es nicht, das Bett der Frau Prinzessin in Augenschein zu nehmen; er suchte Beweise des Ehebruchs. Das war wohl der gemeinste Akt, der geschehen ist … Daß die Frau Prinzessin damals, bei diesem schamlosen Überfall, nicht wahnsinnig wurde, sondern wie Augenzeugin Gräfin Marie Fugger erzählt, zwar zu Tode erschrak, doch sofort ihre Fassung und bewunderungswürdige Ruhe gewann, ist vielleicht ein Anhaltspunkt für ihre geistige Normalität“.

Ich glaube jedem Wort, das Herr Mattassich über Agram, jedem Wort, das Louise von Coburg über Coswig sagt. Ich halte diese Frau, deren gerechte Sache mir auch die Sympathie von Sensationsreportern nicht verekeln kann, nicht nur für vollsinnig, sondern nach den Interviews, die sie den Korrespondenten in die Feder diktiert hat und deren Pointierung ich einem Frischauer gewiß nicht zutraue, für einen Geist von seltener Frische und Festigkeit. Diese Mimikerin eines sechsjährigen Schwachsinns, die heute jedem Argument ihrer schändlichen Peiniger gewachsen ist, würde dank einer in Leiden erworbenen Routine ein viel glaubhafteres Gutachten über den Geisteszustand der Herren Wagner, Jolly, Mellis und Weber liefern, als es umgekehrt der Fall war. Eine Wissenschaft, deren Praktiker auf Grund der „Simulationstheorie“ mit Verrückten die Zuchthäuser und auf Grund der Adelstheorie mit Verbrechern die Heilanstalten und den Ringstraßenkorso bevölkern, hat aufgehört, uns Laien zu imponieren. Aber wir lachen ihr ins Gesicht, wenn sie an der befreiten Prinzessin gar die neueste Entdeckung demonstrieren will, daß Wahnwitz Vernunft simulieren könne. So wär’s denn ein schwaches Gehirn, das hier Proben starker Leistungsfähigkeit gibt. So täuschte ein armer Narr die Welt mit kluger List über seinen Blödsinn. Psychiatern ist solches noch nicht gelungen … Aber verzichten wir getrost auf die Beweise, mit denen Louise von Coburg tagtäglich jetzt ihre fünf Sinne verteidigt. Ihre Ankläger sprechen sie frei. Um an ihrer Verstandeshelle nicht mehr zu zweifeln, um ihre Mündigsprechung ohne den neuerlichen Unfug einer psychiatrischen Kommission begründet zu finden, braucht man bloß jenen Hauptabschnitt des Gutachtens nachzulesen, der „Ergebnis der persönlichen Beobachtung durch die Unterzeichneten“ überschrieben ist. Hier ist Wahrheit. Ein Laie, der die Prinzessin sieht, kann sich keine Vorstellung von ihrem wirklichen Zustande machen? Möglich. Sicher aber ein Laie, der die Prinzessin nicht sieht. Der bloß das Votum vernimmt, das vier Kenner, die sie sahen, abgegeben haben. Wertlos, soweit es sich auf die früheren Ungutachten und auf die Berichte des bezahlten Wächterpaares Pierson und Gebauer stützt, verrät es in dem „Ergebnis der persönlichen Beobachtung“ hinter verlegenem Stammeln ein niederschmetterndes Bekenntnis: beim besten Willen des Prinzen von Coburg war es unmöglich, an der Prinzessin irgend etwas zu „beobachten“. „Ihre ganze Haltung bei unseren Besuchen war die der vornehmen Dame, die gewohnt ist, Konversation zu machen und sich über mancherlei Themata leicht und gewandt, wenn auch ohne tieferes Eingehen, auszusprechen.“ Natürlich täuscht dergleichen den Kenner nicht: „Sie hatte sich ersichtlich auf diese Explorationen vorbereitet und war bestrebt, einen möglichst guten Eindruck zu machen.“ Bekanntlich hat sie sich — nach der Versicherung des heute bis zur Tobsucht gereizten Herrn Pierson — auch auf die Interviews, deren schlagfertige Wendungen den Kenner nicht verblüffen, „Jahre hindurch gewissermaßen präpariert“, in all der Zeit nicht so sehr an ihre Freiheit, wie an den kommenden Besuch des Herrn Frischauer gedacht. Auf den ersten Blick wären auch die vier Kapazitäten getäuscht worden. Aber dann! „Bei näherem Eingehen auf die früheren Ereignisse sowie auf die jetzt bei der Frau Prinzessin vorhandenen Anschauungen über Gegenwart und Zukunft entrollte sich uns das Bild eines defekten Geisteszustandes in voller Deutlichkeit.“ Wie denn? Beginnt sie, wenn man über die ersten konventionellen Redewendungen hinaus ist, wieder „Hautkrusten zu verzehren, Kleider zu zerfetzen und Erdäpfel nach den Besuchern zu werfen“? Viel trostloser! Sie erklärt, daß sie ihren Mann noch immer nicht liebe und „bezeichnet ihre Beziehungen zu Mattassich als etwas durchaus Zulässiges“. Sie sagt, daß sie von Wechselangelegenheiten nichts verstehe und „auch jetzt nicht glaube, daß Fälschungen vorgekommen seien“. Noch toller: sie „protestiert dagegen, daß man sie für schwachsinnig erklärt habe, und gibt der Hoffnung Ausdruck, daß wir durch unsere Beobachtungen zu der Überzeugung kommen werden, die Entmündigung müsse aufgehoben werden“. In dieser „persönlichen Beobachtung“ also, die mit einer Polemik gegen den Schriftsatz der Prinzessin über schlechte Behandlung und mit dem neuerlichen Hinweis auf die Erfahrungen der venezianischen Reise schwindelhaft verwoben ist, haben die Herren Wagner, Jolly, Mellis und Weber ermittelt, daß die Prinzessin erstens: ihren Gemahl haßt, zweitens: den Oberleutnant Mattassich liebt und drittens: sich für vollsinnnig hält. Sonst nichts? Liegt keine einzige medizinische Wahrnehmung vor? Doch, eine: daß der Hautausschlag (Psoriasis) im Schwinden begriffen ist. Folgt: Der „zur Zeit der Entmündigung konstatierte Zustand von krankhafter Geistesschwäche besteht unverändert fort“, und „der dauernde Aufenthalt der Frau Prinzessin in der geschlossenen Anstalt ist in Rücksicht auf diesen Krankheitszustand und im Interesse der hohen Patientin unbedingt notwendig“ … Ich behaupte, daß noch nie ein frecherer Versuch, die Öffentlichkeit dumm zu machen, unternommen worden ist und daß dies internationale Gutachten, wenn ihm nicht bald die amtliche Desavouierung folgt, den Zweck erreichen könnte, den es im höfischen Auftrag erreichen soll: eine Schwachsinnserklärung der europäischen Öffentlichkeit.

Bevor sie sie anerkennt, wird sie mit dem Haufen von Schranzen und Schergen fertig werden, die von der Unzurechnungsfähigkeit einer Prinzessin noch ein paar Jährchen zu leben gedachten. Nicht ob den erlauchten Gemahl schäbiges Geldinteresse trieb — die Erwartung der belgischen Millionenerbschaft, die einer Geisteskranken nicht zufallen kann —, hat uns zu kümmern, nur die krankhafte Willensschwäche der Behörden, die das Zauberwort „Von oben“ bannt und denen ein hoher Wunsch Gesetz ist. Was wiegt — selbst dem Dreyfusgläubigen — das von einem Weltlamento beweinte Unrecht der „Affäre“ neben dem Fall Mattassich? Das Opfer des Staatsinteresses neben dem Staatsmartyrium privater Rache! Die scheinheilige Niedertracht, die aus jeder „Maßnahme“ gegen das unbequeme Liebespaar in die Nasen anständiger Menschen drang, hat dem Begriff „Funktionär“ für alle Zeiten eine penetrante Bedeutung verschafft, die unabänderlicher ist als das Gutachten einer psychiatrischen Kommission und als das Urteil eines Militärgerichts. Und die Reinkultur der Lumperei, die ein Zusammenwirken advokatorischen und ärztlichen Eifers züchtete, wird nicht mehr übertroffen werden. Steht denn anderswo der Tücke eines Mächtigen ein Bachrach zur Verfügung — der Regierungsrat wurde, weil er Regierenden den Rat erteilte, wie man alimentensüchtige Geliebte los wird, und der statt der Kinder gleich die Mütter abtreibt? Und gibt es in einem Weltwinkel eine Advokatenkammer, die so zu kuschen verstände wie die unsere? Die in stiller Standeswürde erstrahlte, dieweil man ihren Feistmantel des Verrats am Kuratorenamt, ihren Neuda der Briefunterschlagung, ihren Bachrach gemeinster Brutalität gegen eine Frau beschuldigt? Gibt es irgendwo noch einen Staatsanwalt Kleeborn, dem die vorgesetzte Justizbehörde, wie ich aus dem Munde klassischer Zeugen weiß, nie mehr mit einem Tadelswörtchen an den Leib kann, „weil er sich durch seine Verdienste in der Affäre Coburg bei Hof beliebt gemacht hat“? Viele sind ihrer, die gewußt haben, was sie tun. Nur den Psychiatern — so wollen wir beten — vergib, o Herr!

… Das Schicksal der endlich vom Sanatorium Geheilten, an das so viele Fragen öffentlich-rechtlicher Natur sich knüpften, ist auch zum Prüfstein journalistischer Moral geworden. Es versteht sich von selbst, daß man nirgends gezaudert hat, die Personenaffäre über die Sache zu stellen, der Pikanterie die Perspektive zu opfern. Aber der Weg zur Erkenntnis und publizistischen Pflichterfüllung ward zweifach verfehlt: von der den seichtesten Instinkten dienstbaren Neuigkeitspresse, die den Hofklatsch wichtiger als das Irrenrecht, die Fluchttoilette einer Prinzessin interessanter als die Flucht findet, und von einer revuebeherrschenden Meinungspresse, die den großen Gegenstand über störenden Begleiterscheinungen vergißt und den Klatsch pathetisch transponiert, die aus einem falschen literarischen Adelsbewußtsein es verschmäht, für eine Wahrheit im Troß zu siegen, und es vorzieht, einsam für eine Lüge zu sterben. Von den täglichen Dienern der Sensation also und von Herrn Maximilian Harden, dem Herausgeber einer Wochenschrift.

Zu einer Zeit, da die psychiatrische Abfertigung, die man drängenden Gläubigern zuteil werden ließ, da die Promptheit einer höfischen Familienjustiz schon manche Gemüter erregte, hat die Wiener Schandpresse die internierte Prinzessin noch von Modeberichterstattern beobachten lassen und unentwegt für die Reform der Militärjudikatur in Frankreich gekämpft. Wenn sie heute ihren Bachrach verleugnet und scheinbar einer guten Sache dient, die ihre Feigheit einst selbst mit bezahlten Verlegerannoncen nicht zu fördern wagte, so liegt ihr viel weniger das öffentliche Interesse an der Beseitigung schmachvoller Zustände am Herzen als die Hoffnung, der Konkurrenz ein paar Pariser Neuigkeiten abzufangen. Und welch ein Spielraum bleibt noch immer für die Gesinnungsschäbigkeit! Der sozialdemokratische Abgeordnete Südekum — so las man eines Tages —, dessen Haus die Flüchtende aufnahm, sagte in einem Parteiblatt, daß Mattassich ihm gegenüber „erklärt habe, es komme ihm nicht darauf an, die Prinzessin zu befreien, sondern sich ihrer Zeugenaussage für eine Wiederaufnahme seines Strafprozesses zu versichern“. Herr Südekum wollte also — man hatte den Eindruck — die Heldenpose des Befreiers, der in einer schwachen Stunde sich selbst allzumenschlicher Gesinnung zieh, vor aller Welt enthüllen. Unbegreiflich genug, da sie doch eben erst einträchtig gehandelt hatten und dem Fluchthelfer Louisens die Absicht, des Prinzen von Coburg Laune zu heben, nicht zuzutrauen war. Begreiflich genug für den, der Technik und Handgriffe unserer Druckschwärzer der Wahrheit kennt. Ein Blick in deutsche Blätter, die die Erklärung des Sozialdemokraten im Wortlaut brachten, ergab, daß er zugunsten der Vielgeschmähten gesprochen und daß die Bande durch die perfide Unterschlagung des Wörtchens „nur“ in dem Satze: „es komme ihm nicht nur darauf an, die Prinzessin zu befreien …“ den Sinn der Worte Südekums und den Sinn der Tat Mattassichs ins Gegenteil umgefälscht hatte. Ein paar Tage später nannte Österreichs Ministerpräsident die Presse den „Hauptarm des Stromes, durch welchen die Wahrheit in den Geist der Völker fließt“. „Nur die Gewohnheit“, rief er, lasse uns „den Aufwand an Mühe und an Kunstübersehen, den jedes Zeitungsblatt an jedem Tage bestreitet“. Und er machte Bismarcks Meinung, daß „durch die Presse verdorben werde, was das Schwert uns Deutschen gewonnen hat“, frohen Mutes durch das Diktum zuschanden: „Der größte Welteroberer und der mächtigste Weltbeherrscher ist die Presse“. Ja, Österreich wenigstens hat sie erobert und ihren Koerber beherrscht sie. Was hierzulande eine Würde trägt, legte sie ab, um sich den Notizenschreibern nackt zu ergeben. Da wurden denn Feste gefeiert, beim Rathausbüfett steckte ein Welteroberer einen ganzen Hummer in die Tasche, und es wurden mehr Zigarren erbeutet, als das Kriegsrecht erlaubt. Dieses aber nannte man „Preßkongreß“ …

In solcher Gesellschaft zu dinieren, mag bloß unappetitlich sein; mit ihr für eine gute Sache zu kämpfen, ist heroisch. Der Herausgeber der Berliner ›Zukunft‹ fühlt sich so schwerer Entschließung nicht gewachsen. Wiewohl er von der Presse eine viel höhere Meinung hat als die ich vertrete — er möchte dem Raubtier die Zähne nicht ausbrechen, sondern plombieren —: nie würde er fremden Federn die seine paaren, nie einem gerechten Standpunkt beipflichten, auf dem vor ihm schon andere gestanden sind. Da er aber in einer Angelegenheit, in der das Urteil eines Publizisten seines Ranges besondere Resonanz finden könnte, den Standpunkt der Ungerechtigkeit bezogen hat, so muß selbst mit einem Nachdruck, der frühere Freundschaft schmerzt, ausgesprochen werden, „was ist“. Herr Maximilian Harden hat schon durch den Angriff auf die tote Jenny Groß es manchem Anhänger ermöglicht, die Grenzen seiner Persönlichkeit zu erkennen. Nicht bloß eines Geschmacks, der die Enthüllung, daß eine Frau ihren eigenen Leib verkauft hat, an ihrem Begräbnistage vornimmt und für ein Verlegergeschäft den fremden Leichnam prostituiert. Schlimmer: die Grenzen eines Horizonts, der für die Erkenntnis keinen Platz hat, daß die ästhetische Hebung der Frau der Kultur stets größeren Nutzen gebracht hat als ihre ethische „Erniedrigung“ Schaden. Der Artikel, der nicht bloß die selbst gegenüber einer Toten erlaubte Ansicht vertrat, daß sie als Schauspielerin nichts gekonnt und als Kapitalistin begabtere Kolleginnen verdrängt habe, sondern auch unerlaubter Weise die Entstehung ihres Reichtums erörterte, machte den Eindruck einer pathetisch geadelten Betrachtung des ›Neuen Wiener Journals‹. Vollends bei der gleichzeitigen Entrüstung darüber, daß eine lebendige Schauspielerin einen Fabrikantensohn ruiniert hat und daß die „Knopfarbeiter und die Industrieherren in der Kronenstraße sich plagen müssen, damit Fräulein Rita Leon das Leben genießen kann“, hatte man das peinliche Gefühl, daß Johannes unter die Kulissenplauderer gegangen war … Auf sozialkritischem Gebiet, wo Herr Harden nicht aus dem Erlebnis „Bismarck“ schaffen kann, ist er nie besonders glücklich gewesen. Die Physiognomie, die er hier zeigt, ist die des deutschen Familiendemokraten, dem die Ehre alter Kaufhäuser über alles geht und der sich über die Schande käuflicher Mädchen hochmoralisch entrüstet. Und nun wahrt er gar die Hausehre Coburgs. Das ist originell, aber nicht erfreulich. Besonders nicht, wenn man bedenkt, daß der unabhängige Publizist, um die Originalität zu retten, Autoritätsglauben posieren und sich ernsthaft auf die Gutachten der Hinterstoißer, Krafft-Ebing, Wagner von Jauregg (die er hoffentlich nie gelesen hat), auf die Meinung der „Männer von höchster Reputation“ berufen muß. „Ein Hofrat und fünf Ärzte haben eidlich begutachtet …“, den Ton des lieblichen Inserates von der „Männerschwäche“, das durch Jahre in der ›Zukunft‹ prangte, glaubt man jetzt im redaktionellen Teil zu hören. Und unter den Autoritäten, die die Prinzessin „für der Anstaltspflege bedürftig“ erklärt haben, wird auch Herr Pierson aufgezählt. Herr Pierson, der bis heute die Meldung unberichtigt ließ, daß er von dem Kapital, das der Schwachsinn einer hohen Patientin repräsentiert, das ganze, den Lindenhof umgebende Terrain angekauft und sein Etablissement vergrößert und verschönert habe. Der war der Anstaltspflege der Prinzessin gewiß bedürftig. Wie fatal, daß er seine Gefangenen fast so schlecht zu hüten versteht, wie das ärztliche Berufsgeheimnis! Der gute „Papcsi“, der heute in den Zeitungen das Körpergewicht seiner früheren Patientin verrät und den „intimen Verkehr des Mattassich mit Frau Stöger“ enthüllt! Welch eine wissenschaftliche Autorität! … Bringt der verärgerte, saftlose und sichtlich aus dem Trieb, anders zu sagen, entstandene Artikel des Herrn Harden nicht doch eine Behauptung, die auch andere schon ausgesprochen haben? Man liest da, daß es bei dem Freiheitsrummel sich ausschließlich „um die Jagd nach den Millionen handelt, auf die Louise, wenn sie für psychisch gesund erklärt wird, durch Erbrecht gesetzlichen Anspruch hat“. Ja, wem handelt sich’s denn um so profane Zwecke? Doch wohl dem Prinzen, der verhindern will, daß Louise für gesund erklärt wird? Nein, Herr Harden meint: der Prinzessin. Aber selbst damit könnte er Recht haben. Nur wird freilich niemand die Enttäuschung fühlen, die die Entdeckung bringen soll, daß eine Frau mit ihrer Freiheit auch das Recht auf jenes Millionenvermögen zurückgewinnen will, auf das der Gatte so heftig spekuliert. Eine Erbschleicherin ihres eigenen Erbes! Die Logik, die hier lieber das Streben nach Mündigkeit dolos findet als die Entmündigung, könnte einen Psychiater zur Besinnung bringen.

Und einen Zeremonienmeister die Weltanschauung entzücken, die sich in der zarten Bemerkung ausprägt, Louise habe in der Anstalt alles, nur „keine Männchen“ zur Verfügung gehabt, und in dem Hohnwort, die andere Louise habe „mit einem Dutzend Männchen aller Schichten die Ehe gebrochen und seidennoch eine Heroin geblieben“. Möge „Deutschlands erster Publizist“ nie sich ein geringeres Ziel setzen als die Sorge um das Dekorum höfischen Lebenswandels! Wir, die Etikette nicht von Ethik ableiten, werden ihn daran nicht hindern. Nur möge er das Problem der Prinzessinnentugend so vorsichtig von den allgemeinen Fragen der Geschlechtsfreiheit sondern, daß man ihn nicht für einen Moralsieder hält. Ich weiß mir ein moderneres Amt, als allwöchentlich monarchische Fassaden reinzufegen. Tat‘ ich’s, so würde ich wenigstens streng zwischen den „Pflichten einer Prinzessin“ und den Rechten des Geschlechts unterscheiden und mir nie die Frage entschlüpfen lassen: „Warum soll die Frau, die im Berliner Westen der Ehemann neulich im Arm eines Advokaten fand, bespien und den beiden Louisen ein Altärchen errichtet werden?“ Ich würde nicht darauf bestehen, daß auch die beiden Louisen bespien, sondern eher wünschen, daß auch der Berliner Dame ein Altärchen errichtet werde. Denn erstens kann nach dem Wort eines Dramatikers der Betrug einer Frau „abscheulich oder heroisch oder indifferent“ sein, also manchmal auch heroisch; und zweitens sollen freie Geister alles wünschen, was der moralischen Bande, die heute wieder die Menschheit strangulieren und in das monogame Gestüt zwängen möchte, ein Greuel ist. Nie würde ich Louise von Coburg vorwerfen, daß ihr „der Leutnant Mattassich im Prater durch Schenkelkraft und stramme Männlichkeit aufgefallen“ ist. Zunächst weil ich diesen Eingriff in die privateste Sphäre nicht geschmackvoll finde, ferner weil ich die Verdammung solcher Ästhetik deutschen Pastoren und Züricher Frauenvereinen überlasse, und schließlich weil ich von der Überzeugung durchdrungen bin, daß die Sinnesart, die von der Schenkelkraft eines Leutnants stärker angezogen wird als von der Verstandeskraft eines Kant, eine in allen Frauen, die Frauen sind, latente und in allen Frauen, die nicht bloß Präparate männlicher Eifersucht sein wollen, wirkende ist. Der moderne Publizist muß sich vor der Gefahr, in der Antwort auf die wichtigsten Lebensfragen mißverstanden zu werden, ängstlich hüten. Nichts wäre bedenklicher als das Spülwasser abgestandener Gedanken auf die Mühlen der Reaktion zu treiben, sich zum Exponenten einer Weltanschauung zu machen, die das Selbstbestimmungsrecht weiblicher Sinne aufgehoben, die Anmut der Menschheit verkrüppelt und durch die allem Schöpferwillen hohnsprechende Verbindung der Sexualität mit der Ethik so viel Schmerz in die Welt gebracht hat …

Solche und hundert andere Gedanken könnte die große Irrenhauskomödie von Agram bis Elster in einem Gehirn auslösen, das sich die Kraft zutraut, durch die Darstellung, und nicht die Schwäche, bloß durch eine Veränderung des Standpunkts zu wirken. Was kümmert’s mich, daß derselbe Freiheitsrausch, den ich mir antrinke, auch die schlechte Presse ein wenig benebelt hat? Ich habe noch Besinnung genug, auch ihr ein kräftig Pereat zuzurufen. Wer die Affäre Coburg vom Standpunkt des gekränkten Ehemanns auffaßt, vergeht sich schwer gegen ein öffentliches Interesse, das vielleicht noch nie die Lösung bedeutsamer Fragen so nah gerückt fand. Auch wer einer aus der Irrenhaft befreiten Prinzessin kein „Altärchen“ errichten will, muß es der Gelegenheit errichten, die ein Stück zeitgeschichtlichen Jammers zur Diskussion gestellt hat: die Unsicherheit des Anspruchs, für vollsinnig gehalten zu werden. Und selbst wenn Louise von Coburg diesen mit Recht verwirkt hätte, sollte der freie Publizist die Resonanz, die ihr Fall weckte, nicht tadeln, sondern preisen, müßte er auch am falschen Beispiel die allgemeine Schmach entwickeln. Nie dürfte er, der allein zu kämpfen gewohnt ist, in den Reihen jener sich finden lassen, auf deren gemütloses Schergenamt ein Goethescher Freiheitsheld mit dem Rufe weist: Und diese treibt ein hohles Wort des Herrschers …