Jenny Holzer

von 
Interview
zuerst erschienen im Juli 2002 in Alert Nr. 7, S. 24-35

[25] Die Arbeiten der US-Künstlerin Jenny Holzer (52) basieren stets auf verdichteten literarischen Text-Miniaturen. Typisch für Holzer ist, diese zumeist knappen Sätze, sogenannte „Truisms“, deren wohl bekanntester „PROTECT ME FROM WHAT I WANT“ lautet, als bewegte Leuchtschriften auf elektronischen Texttafeln zu präsentieren. Anfang der Achtziger Jahre wagte sie den Schritt heraus aus dem Galerienkontext und hinein in den öffentlichen Raum; ihren künstlerischen Durchbruch schaffte Jenny Holzer 1990 mit ihrer Teilnahme an der XLIV. Biennale di Venezia, als sie ihre Texte nicht nur im amerikanischen Pavillon zeigte, sondern die gesamte Stadt als Ausstellungsfläche vereinnahmte. Werkschauen in den renommiertesten Museen der Welt, aber auch Textinstallationen am Times Square in New York, dem Piccadilly Circus in London oder Projektionen auf das Völkerschlachtdenkmal in Leipzig, ließen Jenny Holzers Botschaften in immer wieder neuen Kontexten auftauchen.

Ich treffe Jenny Holzer zwei Tage vor ihrer Ausstellungseröffnung in der Galerie Philomene Magers in München. Im Schauraum arbeiten Mitarbeiter von Jenny Holzer am Aufbau der Exponate, die, teuer versichert, wenige Stunden zuvor per Luftfracht in meterlangen Holzkisten aus Amerika eingetroffen waren. Das Interview fand in der kleinen Küche der Galerie statt. Bernd Bodtländer fotografierte Jenny Holzer im Anschluss an das Gespräch und außerdem den Aufbau der Ausstellung.

1990 drehte Dennis Hopper mit „Catchfire“ einen Film, in dem eine Künstlerin, mit der ganz offensichtlich Sie gemeint waren, Zeugin eines Mordes wird und daraufhin von der Mafia gejagt wird. Wie empfanden Sie es, sich selbst auf der Leinwand zu sehen, plötzlich ein Teil von Hollywood geworden zu sein?

Ich fand es toll, dass ich von Jodie Foster gespielt wurde. Und natürlich fand ich es toll, dass Dennis Hopper den Film gedreht hatte. Seit „Easy Rider“ mag ich ihn. Das war gut. Ich habe Hopper auch persönlich getroffen und fand, dass er ein ziemlich wilder Mann war.

[27] Interessant ist, dass Hopper Ihre Arbeiten, indem er sie unvermittelt in seinem Film auftauchen ließ, sozusagen in einen öffentlichen Kontext gestellt hat.

Er hatte meinen Ansatz auf alle Fälle völlig begriffen. Genau so wie auch ich es getan hätte, hat er wie ein Agent Provocateur meine Botschaft „Protect Me From What I Want“ unter das Volk gebracht. Über den für ihn normalen Weg der Film-Distribution. Für meine Arbeiten aber war es genau das Richtige. Vielleicht sollte ich aber gerechterweise hinzufügen, dass Jodie Fosters Rolle nicht nur auf meiner Biographie, sondern auch auf der von Cindy Sherman basierte.

Kurze Zeit nach dem Kinostart von „Catchfire“ ging die irische Rockband U2, zu diesem Zeitpunkt waren sie längst Megastars, auf Welttournee. Für die Ausstattung ihrer „Achtung Baby-Bühnenshow bediente sich die Band ganz offensichtlich bei Ihnen. Einerseits bedeutete dies, dass Hunderttausende Konzertgänger vielleicht zum ersten Mal mit Arbeiten konfrontiert wurden, die von Ihnen hätten stammen können. Andererseits verzichtete die Band darauf, auf die Quelle ihrer Idee, also Sie, zu verweisen.

U2 haben tatsächlich nicht meine Arbeiten, also etwa meine „Truisms“ verwendet. Was sie getan haben ist, dass sie ähnliche Texte in ähnlicher Weise, nämlich über elektronische Anzeigetafeln und Laufbänder präsentierten.

Aber U2 haben bei Ihnen doch ganz eindeutig Ideenklau betrieben. Haben Sie U2 verklagt? Immerhin haben die eine Menge Geld mit der Tournee verdient – und Sie nicht.

Ich habe sie nicht verklagt. Ich bin zu klein, um gegen U2 in einem Rechtsstreit bestehen zu können. (lach, lach).

Meinen Sie damit, dass Sie keine Zeit und nicht die Nerven gehabt hätten, sich durch 200seitige Gegendarstellungen zu quälen?

Ehrlich gesagt: Ich wollte nicht umgebracht werden. (lach, lach!). Ich wollte nicht als Putzfrau enden.

Aber wäre es nicht ein netter Zug von denen gewesen, Ihre Arbeiten zu verwenden und Sie mitverdienen zu lassen?

Klar wäre das fair gewesen. Es hätte mir auch geschmeichelt. Ich bin tatsächlich auch noch auf ein Konzert von denen gegangen, um mir das einmal in Wirklichkeit anzuschauen. Aber es war deren Show und nicht meine. Und vielleicht sollten wir dieses Thema damit jetzt auch dabei belassen.

Anders gefragt: Spätestens als Ihre Arbeiten in anderen Kontexten auftauchten, also im Hollywood-Kino oder als Bühnenshow einer berühmten Rockband, war klar, dass Jenny Holzer die Künstlerin ist, die ebenso poetische wie verstörende Sätze über elektronische Anzeigetafeln jagt. Können Sie sich daran erinnern, als Ihnen bewusst wurde, dass Sie mit einem Mal, wie andere große Künstler auch, Ihren unverwechselbaren Stil gefunden hatten?

Mir wurde das bewusst, als meine Tochter noch ziemlich jung war und jedesmal, wenn im Fernsehen, in den Nachrichten oder in der Werbung Spruchbänder mit Informationen liefen, dachte, ich würde zu ihr reden.

Haben Sie Ihrer Tochter zum Lesenlernen Märchen auf Spruchbänder programmiert?

Nein, nein. Aber sie hatte schon mitbekommen, dass eine Zeit lang viele meiner Arbeiten von ihr handelten oder von ihr inspiriert waren. Und natürlich bekam sie mit, wie ich diese Texte in genau die Tafeln einprogrammierte, die man auch im Fernsehen oder an öffentlichen Plätzen in den USA sehen kann.

Bevor Sie elektronische Tafeln als Medium für Ihre Texte benutzen sollten, beklebten Sie Manhattans Häuserwände mit fotokopierten Zetteln. Das hatte ja fast etwas Anarchistisches.

Zuallererst war ich eine schlechte abstrakte Malerin, das sollte ich vielleicht vorausschicken. Das war ich, als ich noch Kunst studierte. Dann ging ich nach New York, begann zu schreiben und hörte ganz mit dem Malen auf. Als ich meine ersten Texte beisammen hatte, machte ich mir darüber Gedanken, wie ich sie zur Schau stellen könnte. Ich stand vor der Entscheidung, ob ich mir einen Verlag suchen sollte, der meine Texte abdruckte, oder aber den Weg über die Kunst einschlage. Ich entschied mich für die Kunst, und das waren in diesem Falle zunächst einmal die Street Posters, fuhr nach Lower Manhattan und beklebte die Häuserwände.

Das war Anfang der Achtziger Jahre. Wären Sie 15 Jahre später auf die Idee gekommen, wären Sie für diese Aktion vielleicht im Knast gelandet, Sie hätten Probleme mit Bürgermeister Giuliani bekommen…

(lach, lach). Ich hätte mit dem gottseidank EHEMALIGEN Bürgermeister Probleme bekommen, wenn er mich erwischt hätte. Deswegen bin ich ja auch immer nur spät nachts losgezogen, um meine Poster zu kleben. Nur für den Fall…

Die klassische Guerilla-Taktik also.

Ganz genau.

Es sollte nicht lange dauern, da klebten Sie nicht mehr illegal Plakate.

Ich befürchtete einfach, dass Plakate vielleicht auf die Dauer mit Untergrund-Kunst, mit Alternativ-Kunst assoziiert werden könnten. Das wollte ich aber nicht. Ich hatte erkannt, dass elektronische Anzeigetafeln in Amerika das gebräuchliche Medium waren, um Informationen an den Mann zu bringen. Ob es sich nun um Werbebotschaften handelte oder um öffentliche Bekanntmachungen. Elektronische Anzeigetafeln gehören zum alltäglichen Leben in den USA. Jeder nutzt sie, wenn er sich auf dem U-Bahnhof orientiert, und jeder schaut auf Leuchtreklamen, wenn sie nachts blinken. Vor allem aber verbreiten sie Textinformationen. Ganz abgesehen davon mag ich es, wenn es blinkt und farbig leuchtet. Kennen Sie den Vorspann zu Martin Scorseses „Casino“? Die Kamera fährt minutenlang an den Leuchtreklamen der Casinos vorbei. Ein absoluter Traum!

Sie übernahmen sogar die Lufthoheit auf dem Times Square. Ihre „Truisms“ wurden auf den elektronischen Anzeigetafeln von Baseballstadien ausgestrahlt oder am Gepäckband des McCarran International Airports in Los Angeles. Hatten Sie das Gefühl, Sie würden Schritt für Schritt den öffentlichen Raum Amerikas erobern?

Erst einmal: Niemand kann den Times Square erobern. Aber mir war es zumindest [29] vergönnt, die Routine für Momente aus den Angeln zu heben. Aber Sie haben Recht: Als mir klar wurde, dass ich mit meinem ständig wachsenden Fundus an Texten die Big-Brother-Medien infiltrieren konnte, war ich besessen davon, Massenmedien mit meinen Texten zu besetzen, als krasser Gegensatz zu den üblicherweise auf diesen Medien publizierten Botschaften. Mir wurde auch immer klarer, dass ich mit meinen Texten auf diese Weise enorm viele Menschen erreichen konnte. Wäre ich nicht von diesem Wunsch angetrieben gewesen, so viele Menschen wie möglich zu erreichen, wäre ich wahrscheinlich nie auf die Idee gekommen, es schließlich mit den riesigen Leuchtreklamen am Caesar’s Palace in Las Vegas aufzunehmen. Ich wollte die Menschen anonym und an Orten, wo sie es nicht vermuten, mit meinen Texten konfrontieren.

Dadurch, dass Sie anonym blieben, haben Ihre Arbeiten eine ganz besondere Wirkung bekommen… Sie haben die Menschen sozusagen überrumpelt.

Ich liebe es, die Menschen auf der Straße zu verwirren. Man geht auf dem Bürgersteig, bleibt an einer Ampel stehen, lässt seinen Blick schweifen, und plötzlich liest man auf einer Anzeigentafel, auf der normalerweise Werbung für Coca-Cola leuchtet, einen Satz wie: „STERILIZATION IS A WEAPON OF THE RULERS“, oder „THE IDEA OF REVOLUTION IS AN ADOLOSCENT FANTASY“… Ich finde es hochgradig faszinierend, wenn meine Texte unvermittelt auftauchen und mit den üblicherweise an diesen Orten vermittelten Werbebotschaften verwechselbar werden. Ich bin mir eigentlich ziemlich sicher, dass gerade der Umstand, dass nicht auf den ersten Blick ersichtlich ist, dass es sich um eine Kunstinstallation handelt, die Aussagen noch einmal gewichtiger macht. Sie stiften Verwirrung, und setzen auf eine assoziative Weise Gedanken in Gang, die man sich normalerweise nicht gemacht hätte. Ich mag so etwas.

Dieses Konzept haben Sie auf die Spitze getrieben, als Sie 1990 die USA auf der Biennale in Venedig repräsentierten. Sie haben damals in der gesamten Stadt Ihre Markierungen hinterlassen: Man konnte Ihre Sprüche auf T-Shirts gedruckt an Souvenierständen erstehen…

…und es gab meine Sprüche in verschiedene Sprachen übersetzt dort, wo sonst Werbung geschaltet wird: Auf dem Flughafen, am Hauptbahnhof, in den öffentlichen Motorbooten, es gab auch wieder die Street Poster, selbst im Nachtprogramm des italienischen Fernsehens liefen meine Texte. Die Souvenierstände aber waren der beste Vertriebsweg in Venedig. Sie sind einfach überall und immer umlagert.

Sie haben bereits im großen Maßstab gedacht, als Sie noch lange nicht so berühmt waren wie heute.

Ich habe mich einfach so verhalten wie jemand, der so viele Menschen wie möglich erreichen möchte. Ich hatte zuvor bereits mit einer Künstlergruppe in New York zusammengearbeitet, die sich „Collaborative Projects“ nannte. Viele von den Künstlern in dieser Gruppe haben damals nach Wegen gesucht, wie man Kunst außerhalb des Galeriekontextes präsentieren und vertreiben konnte. Hier haben wir die Methoden erarbeitet, wie man Kunst im öffentlichen Raum positionieren kann. Unter anderem haben wir da festgestellt, dass man, will man die Menschen auf der Straße erreichen, sie mit Dingen aus dem täglichen Leben erreicht, nicht aber mit abstrakten Problemstellungen der Kunst. Ohne diesen Hintergrund hätte ich mich in Venedig vielleicht nicht so weit aus dem amerikanischen Pavillon herausgewagt. Mir ging es vor allem darum, die Besucher und Bewohner von Venedig über verschiedene Medien immer und immer wieder mit ein- und denselben Messages zu berieseln. Die Idee war, dass diese Dauerkonfrontation die Menschen verstören würde.

Indem Sie Souvenierstände je nach Blickwinkel als Vertriebsweg oder Ausstellungsfläche für Ihre Kunst auswählten, haben Sie moderne Kunst an einen Ort gebracht, an dem man sie von allen Orten am wenigsten vermuten würde.

Wir wollten den Leuten zeitgenössische Kunst zu erschwinglichen Preisen bieten, an Orten, an denen sie sonst Aschenbecher vom Collosseum oder der Rialtobrücke kaufen. Viel wichtiger aber war für mich der Aspekt, dass ich über die Souvenierstände an allen zentralen Orten der Stadt präsent war.

Es heißt ja immer: Das Bild ist stärker als das Wort. Sie schreiben. Und wenn Sie fertiggeschrieben haben, werden die fertigen Spruchbänder, Projektionen, Souvenierstände, was auch immer, auf Fotos festgehalten, um die flüchtige Aktion zu dokumentieren. Wie wichtig sind die Bilder für Sie?

Zunächst einmal: Ich mag sie beide, die Worte und die Bilder von den Worten. Ich muss mich noch nicht einmal zwischen ihnen entscheiden, denn die Texte bedingen Bilder, die die Texte dokumentieren. Und schon seit meinen Anfängen habe ich immer versucht, meine Arbeiten mit Fotos oder mit Videos zu dokumentieren, weil meine Aktionen immer zeitlich begrenzt waren, insbesondere die „Public Pieces“, also der Times Square oder das Baseball-Stadion. Sie finden nur einmal in dieser Form statt und das auch nur für eine kurze Zeit.

Warum eigentlich immer nur für eine kurze Zeit? Bis auf die Strom- und die Wartungskosten spricht doch nichts gegen eine längere Installation einer Ihrer Arbeiten an einem öffentlichen Ort.

Normalerweise waren meine Arbeiten immer nur für relativ kurze Zeit im öffentlichen Raum, auf Public Signs zu sehen. Vielleicht am längsten wurden Texte von mir am Dupont Circle in Washington D.C. gezeigt. Mehrere Monate lang unterbrachen Texte von mir tagsüber die Werbung auf diesem riesigen Werbe-Billboard - nachts aber liefen meine Texte fast durchgängig als Endlosschleife, weil nachts niemand Werbezeiten kaufen wollte.

Sie waren sozusagen der Lückenfüller.

Ganz genau, aber einen schöneren und größeren Lückenfüller kann ich mir kaum vorstellen - noch dazu in Washington D.C., der Hauptstadt!

Interessanterweise verweilt man vor Ihren Arbeiten tendenziell länger als vor Bildern anderer Künstler. Die Buchstaben bewegen sich, und um den Zusammenhang zu erfassen, muss man die Texte aufmerksam lesen.

Das ist richtig. Und das gilt übrigens sowohl für meine Arbeiten im öffentlichen [32] Raum, wie auch dann, wenn Arbeiten im Rahmen einer Ausstellung laufen. Letztlich versuche ich immer, so viel Inhalt wie möglich zusammenzubekommen, um ihn denjenigen vorführen zu können, die sich mit meinen Texten auseinanderzusetzen bereit sind. Sie sollen sich nicht langweilen, also liefere ich ihnen im Zuge einer Arbeit immer neue Texte, Wort um Wort, Zeile um Zeile. Und Hand aufs Herz: Auch die Werbebranche weiß, warum sie elektronische Billboards einsetzt, um ihre Botschaften an den Mann zu bringen… Diese Tafeln ziehen in den Bann, die bewegten Buchstaben, das grelle, poppige Licht, die große Auswahl an Programmiereffekten, mit denen man die Schriftbänder variabel gestalten kann… Man kann Typografie auf diesen Billboards komponieren, Schrift komponieren, so wie andere Musik komponieren können.

In der Neuen Nationalgalerie Berlin gehören Sie zu den wenigen Künstlerinnen, die bisher das Privilleg hatten, die gleiche Ausstellung gleich zwei Mal zu präsentieren…

Ja, ich kann’s selbst kaum fassen.

Es ist beeindruckend, dass die Installation an der Decke der Nationalgalerie hängt. Man muss den Kopf in den Nacken legen, um Ihre Texte lesen zu können, die über einem vorbeiziehen.

Dieser Installation in der Neuen Nationalgalerie lag die Idee zugrunde, dass man als Betrachter wartet, um zu sehen, was als nächstes passiert. Ich habe die Installation in Englisch und in Deutsch angelegt, so dass man nach einer angemessenen Zeit die Texte eben in der jeweils anderen Sprache lesen kann. Ich mag nämlich Zugänglichkeit. In Zusammenhang mit der Architektur von Ludwig Mies van der Rohe war es mir darüberhinaus wichtig, den Raum in die Installation miteinzubeziehen. Je nachdem, wo man sich aufhält, sollte die Installation eine andere Wirkung auf einen ausüben. Von weitem, also wenn man mit dem Auto vorbeifährt, sieht man eine Skulptur aus bernsteinfarbenem Licht. Nahe dran, kann man sich auf den Boden legen und die Texte über sich vorüberziehen lassen, man kann auch von draußen reingucken. Die Glaswände der Neuen Nationalgalerie spiegeln die Schriftbänder ins Unendliche, in den Nachthimmel…

Ihre Textreihe „Lustmord“ beschreibt ein furchtbares Verbrechen, die systematische Vergewaltigung von Frauen im Balkankrieg - einem Krieg, der vor der Haustür der EG stattfand. Sie konfrontierten Ihr Berliner Publikum ohne Vorwarnung.

Ich versuchte, dieses Thema, also die Vergewaltigung, die Folter und die Ermordung von Frauen, von mindestens drei verschiedenen Perspektiven aus zu präsentieren. Aus der Perspektive des Opfers, der Frau, so, als ob sie nach ihrem Tod zu uns reden könnte. Aus der Perspektive des Täters, der uns das Verbrechen nachvollziehen lässt. Und dann gibt es da noch die eher neutrale Perspektive, das ist die Perspektive desjenigen, der das Verbrechen aufklärt, nachdem es längst geschehen ist. Ich hoffte, dass diese Entscheidung, also drei Perspektiven zu wählen, dazu führen würde, sowohl die Fakten zu liefern, also das Verbrechen zu beschreiben, als auch dadurch, dass der Betrachter in die Rolle des Zeugen oder sogar des Täters gedrängt wird, Emotionen zu provozieren. Im Zusammenhang mit diesem Verbrechen an Frauen Gefühle zu erzwingen, erschien mir als immens wichtig an der Arbeit, als wesentlicher Bestandteil.

Für diese Installation in der Neuen Nationalgalerie, also auch für „Lustmord“ ist Ihnen im Rahmen einer peinlichen Veranstaltung der sogenannte „BZ-Kulturpreis“ verliehen worden…

Ogottogott! Waren Sie etwa da?

Bevor Sie den Preis für Ihre Text-Installation entgegennehmen sollten, gab es eine Rock’n’Roll-Showeinlage mit Motorradfahrern und leichtbeschürzten Hoolahoop-Tänzerinnen. Es war grotesk.

Erinnern Sie sich, dass sich eine der Tänzerinnen artistisch aufgehängt hat? (kicher).

Ich fragte mich: Was denkt Jenny Holzer in diesem Augenblick? Sie haben das Spiel ja mitgespielt.

Ich dachte immer, dass ich in meinem Alter nicht mehr so leicht zu überraschen wäre, aber das hat mich wirklich sprachlos hinterlassen. Eine Arbeit wie „Lustmord“, aber eigentlich auch alle anderen Arbeiten, die ich in Deutschland realisiert habe, haben wenig mit Hoolahoop-Reifen oder leichter Unterhaltung zu tun. Vielleicht mit Hängen und Galgen, aber nicht mit Hoolahoop-Reifen. Ich war ziemlich geschockt von der Inszenierung und fühlte mich am falschen Ort.

Ist es Professionalität, zu lächeln, wenn man sich am falschen Ort befindet?

Ich war ja nun einmal da - und habe dann die Bühne genutzt, um denen zu danken, die mich bei meinem Berliner Projekt unterstützt hatten. Danach versuchte ich möglichst schnell von der Bühne zu kommen.

Sind Sie sich eigentlich Ihrer Macht bewusst? Sie besetzen öffentliche Orte mit Ihren Texten, Hunderttausende von Menschen, wenn nicht gar Millionen, haben sich wissentlich oder unwissentlich mit Ihren Texten auseinandergesetzt. Ich frage das, weil ich den Eindruck habe, dass Ihre Arbeiten über die Jahre hinweg immer politischer geworden sind, als ob Sie den zuvor eroberten öffentlichen Raum mehr und mehr für politische, gesellschaftskritische Aussagen nutzen wollten.

Es freut mich, dass Sie das so sehen. Ich bin ja auch der Meinung, dass meine Arbeiten politischer geworden sind. Gerade erst ist mir in New York von zwei unterschiedlichen Kritikern vorgeworfen worden, dass meine Arbeiten immer persönlicher und weniger politisch werden würden. Das fand ich ein bisschen komisch.

Aber steht diese Entwicklung nicht auch in Zusammenhang mit der immer größeren Reichweite, die Ihre Arbeiten bekommen haben?

Von Anfang an wollte ich meine Inhalte vor Leuten präsentieren. Es sollte mir ja auch immer mehr gelingen, was mir eine Freude ist. Denn einige der Themen, die ich habe, das sind Dinge, durch die wir sterben können. Es geht nicht, dass wir sie einfach hinnehmen.

[35] Der Satz aus „Lustmord“, der mich am meisten erschüttert hatte, war: „I KNOW WHO YOU ARE AND IT DOES ME NO GOOD AT ALL“. Es ist die Feststellung des Opfers, dass sie ihren Peiniger kennt, weil sie vielleicht in der gleichen Straße wie ihr Vergewaltiger gelebt hat, und dass der Krieg alle zivilisatorischen Regeln über den Haufen geworfen hat. Durch die letztlich unvermittelte, öffentliche Präsentation wird der Satz nochmals gewichtiger. Sie nutzen Ihren Zugang zum öffentlichen Raum ganz bewusst, um die Menschen mit harten Botschaften zu konfrontieren.

Ich war kürzlich zu einer Diskussionsrunde in New York eingeladen, an der auch die Ex-US-Außenministerin Madeleine Albright eingeladen war. Sie und andere Frauen, die auch für die Vereinten Nationen arbeiten, beschäftigen sich gerade mit der Thematik, die „Lustmord“ behandelt. Sie arbeiten gerade daran, dass Vergewaltigung und Demütigung von Frauen im Krieg offiziell als Kriegsverbrechen anerkannt werden. Was ich wichtig finde, ist, dass zur Zeit verschiedenste Frauen in verschiedensten gesellschaftlichen Stellungen an diesem Thema arbeiten. Es gibt mir die Hoffnung, dass sich etwas ändern könnte.

Wir können es ja alle noch nicht so recht abschätzen, aber möglicherweise befinden wir uns zur Zeit an der Schwelle zu einem noch viel größeren Krieg - verglichen mit dem Balkankrieg: Es ist der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus. Wie gehen Sie als Künstlerin damit um, dass sich seit dem 11. September das Weltgefüge empfindlich geändert hat?

Ich versuche mir darüber bewusst zu werden, was ich dazu sagen könnte.

Sie sagen also, Sie haben noch keine Worte dafür gefunden. Aber ist nicht gerade jetzt der richtige Zeitpunkt, um etwas zu sagen? Hier in Europa haben viele Menschen den Eindruck, dass die freie Meinung in Amerika einem martialischen Auftreten geopfert wird.

Ich bin leider unendlich langsam, wenn es um etwas so fürchterlich Großes geht wie den 11. September und seine Folgen. Aber: Es gibt Leute, die den Mund aufmachen. Ich war sehr glücklich darüber, dass Susan Sontag ihre Stimme zum Angriff auf New York erhoben hat. Ich fand es sehr ermutigend, dass sie nach Argumenten gesucht hat und dass sie sich mit ihrer Stimme gegen den neuen Nationalismus in Amerika gewandt hat.

Interessant, dass Sie sich selbst als langsam einschätzen, wo doch die Medien, die Sie benutzen, schnelle Medien sind.

Ich schreibe langsam. Ich brauche viel Zeit, um meine Inhalte zu formulieren. Sobald ich meine Texte zusammenhabe, weiß ich meistens ganz genau, wie ich sie umzusetzen habe. Das geht dann ganz schnell. Ich habe sozusagen die Methode, die ich beherrsche, aber ich tue mich enorm schwer, diese Methode mit Inhalt zu füttern. Denn wie Sie sagen: Ich erreiche viele Leute mit meiner Kunst. Ich muss aufpassen, dass ich nichts Dämliches oder Kitschiges niederschreibe. Ich habe diesbezüglich meine Unschuld verloren.

Tun Sie sich auch so schwer, wenn Sie etwa für den Modedesigner Helmut Lang Texte für dessen Werbekampagnen schreiben?

Er hat einen kleinen Ausschnitt aus meinem Text „Arno“, benannt nach dem Fluss, der durch Florenz fließt, benutzt, um seine Parfums auf seiner Internet-Site zu bewerben. Ich habe Helmut Lang vor ein paar Jahren in Florenz getroffen. Da habe ich diesen Text während einer Ausstellung benutzt.

Laufen Sie nicht Gefahr, Ihre Integrität zu verlieren, wenn Texte von Ihnen in der kommerziellen Werbung auftauchen?

Natürlich sind die Welt der Mode und die Kunstwelt zwei verschiedene Welten. Dass ich mit Helmut Lang zusammengearbeitet habe, liegt daran, dass wir eng befreundet sind. Ich kann mir nicht vorstellen, das für jemand anderen in der gleichen Weise zu tun. In dem Text-Schnipsel, den Helmut Lang benutzen durfte, rede ich von Geborgenheit und Liebe und Sex. Ich fand es passend im Zusammenhang mit Parfum. (lach, lach). Und um das abzuschließen: Helmut Lang ist ein sehr interessanter Mann und ein sehr guter Designer.

Sehen Sie sich eigentlich als Botschafterin Amerikas? „Andy Warhol’s Interview“ Magazine hatte Anfang der Neunziger Jahre einmal einen Artikel über Sie mit den Worten „Holzer has Words for America“ überschrieben.

Es ist nicht von der Hand zu weisen, dass ich maßgeblich von Amerika beeinflusst bin. Ich bin dort geboren worden, und ich bin dort aufgewachsen. Witzigerweise arbeite ich aber lieber in Europa. Das hat wohl etwas damit zu tun, dass man Denkmälern hier mehr Aufmerksamkeit widmet als in Amerika - und viele meiner Arbeiten stehen in Bezug zu Denkmälern. Darüberhinaus ist man in Europa weit offener für Kunst im öffentlichen Raum als in Amerika. In Europa schätzt man konzeptionelle und vor allem auch politische Kunst.

Wer viel reist, ist immer wieder mit Wartezeiten konfrontiert: Sie müssen auf einen Zug oder einen Flieger warten oder verbringen Zeit im Hotel. Kommen Sie beispielsweise auf Reisen auf Ihre Texte?

Reisen ist extrem wichtig gewesen für mich - denn meistens reise ich alleine und rede dann über mehrere Stunden mit niemandem. Ich finde es wichtig, sich mit den eigenen Augen zu überzeugen, was auf der Welt passiert, von daher habe ich Reisen nie als Last, sondern immer als Chance begriffen. Was ich sehe, erzähle ich anderen Menschen, die ich so treffe. Für mich ist Reisen fast so etwas wie eine Illusion, die ich mir nicht selbst kaputtmachen möchte. Ich gehe zum Beispiel auch nie ins Bett, ohne nicht vorher den Fernseher mit einem Nachrichtenkanal angemacht zu haben.

Und dann können Sie schlafen?

Ich bilde mir ein, dass ich unterbewusst mitbekommen könnte, was in der Welt passiert. Als ob der Fernsehsprecher mit mir kommunizieren würde. Diese Nachrichtensendungen werden zumeist als Schleife gesendet, das heißt, nach einer gewissen Zeit wiederholt sich die Sendung. Es sei denn, etwas Schlimmes passiert. Dann wird die Schleife unterbrochen, die Stimme des Moderators hat einen anderen Tonfall - und ich wache auf.