Joe Zawinul

von 
Interview
zuerst erschienen im Oktober 2002 in Alert Nr. 8, S. 88-96

Über Joe Zawinul ist kürzlich ein sehr interessantes und äußerst empfehlenswertes Buch im Residenz-Verlag erschienen. Es heißt „Ein Leben aus Jazz“, ist in Interview-Form verfasst und hält, was der Titel verspricht. Joe Zawinul war fast ein Jahrzehnt Klavierspieler bei Julian „Cannonball“ Adderley, bevor er als Keyboarder in Miles Davis‘ Band Ende der sechziger Jahre maßgeblich dessen sogenannte „elektrische Phase“ prägte - wichtige Stücke auf Davis‘ revolutionären Werken „Bitches Brew“ und „In A Silent Way“ waren von Zawinul komponiert worden.

Dass der gebürtige Österreicher aus dem Wienerwald sehr schnell in New York Fuß fasste, als er 1959 in die USA ausgewandert war, lag nicht zuletzt an Zawinuls unerschütterlichen Selbstbewusstsein, seinem Respekt vor der Kunst und dem Lebenswandel der schwarzen Jazzmusiker und natürlich an seinem einzigartigen Klavierspiel. Gemeinsam mit dem Saxophonisten Wayne Shorter gründete Zawinul Anfang der siebziger Jahre die weltweit erfolgreiche Band Weather Report und widmet sich heute, als 70jähriger, erfolgreich seinem Solo-Projekt unter eigenen Namen.

Zawinuls neuestes Album „Faces & Places“ ist ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie es klingen kann, wenn es einem Musiker gelingt, seine eigene, ebenso ruhmreiche wie belastende Vergangenheit hinter sich zu lassen und zu neuen Ausdrucksformen zu finden. Ohne den Druck von Erwartungshaltungen, nur sich selbst verpflichtet, sind auf Zawinuls Solowerk 13 von worldmusikalischen Einflüssen durchdrungene Jazz-Tracks versammelt. Komponiert worden sind die Stücke von Zawinul zu einem Großteil auf Reisen, im Hotelzimmer; das Stück „Rooftops Of Vienna“ etwa wurde in der Suite des Hilton-Hotels von Wien geschrieben - direkt neben dem Hotel, in welchem Zawinul vor über 30 Jahren „In A Silent Way“ geschrieben hatte.

Zum Interview trafen Max Dax und Joe Zawinul gleich zwei Mal im August aufeinander. Im schönen Schlosshotel Lerbach im Bergischen Land bei Köln und eine Woche später in einem italienischen Restaurant, als Zawinul ein Wochenende in Berlin verbringt. Fotografiert hat Bernd Bodtländer im ausgedehnten Park und auf der Terasse des feudalen Schlosshotels Lerbach.

Mr. Zawinul, was sind die Werte, die der Jazz vertritt?

Was meinst Du mit Werten?

Warum war der Jazz mal spannend und faszinierend, und ist es heute nicht mehr? Liegt das an einem Lebensgefühl, an Werten, die einmal wichtig waren - und es heute offenbar nicht mehr sind?

Das kommt nur vom Leben. So wie Musik überhaupt nur vom Leben kommt. Wenn man einen Mensch einen Musiker nennt, dann ist er ein Mensch, der möglicherweise seine Instrumente ziemlich drauf hat, der Musik, die ihm vorgelegt wird, lesen und interpretieren kann, und der auch improvisieren kann. Das, kann man sagen, das ist ein Musiker. Aber da ist noch etwas anderes, etwas Größeres, und das kommt vom Gefühl, von jedem Tag, den man erlebt im Leben. Jeder Tag prägt den Menschen, formt den Charakter. Irgendwann dann sagt man: Ich kann mein Instrument spielen - jetzt will ich Musik lernen. Wenn man das auch alles kann, dann schiebt man das auf die Seite und stellt fest: Man ist ein Mensch. Man hat sozusagen die Sprache gelernt, wie man als Mensch auch die Sprache von den Eltern gelernt hat, in der man dann seine Gedanken und Gefühle ausdrücken kann.

Ich habe kürzlich eine Aufzeichnung von „Ralph Gleason’s Jazz Casual“-TV-Show mit dem „Cannonball“ Adderley Quintet aus dem Jahr 1961 gesehen, die gibt’s gerade überall billig zu kaufen. Das Video zeigt: Jazz war ja auch eine gelebte Kultur - und bleibt abstrakt, wenn man heute nur die Platten hört. Die Musiker, Sie inklusive, strahlen auf dem Konzertmitschnitt eine totale Ruhe und Coolness aus, als ob die ganze Band beim Spielen tanzen würde - aber ohne sich zu bewegen…

Das ist eine wirklich gute Observation. Da war viel Tanz in der Musik, aber aus der Hüfte geschossen. Das ist im übrigen die einzige Weise, wie man spielen kann. Man kann nicht irgendwelche Bewegungen machen, die überflüssig sind. Viele Stücke waren sehr schnell. Und schnell kann man nur sein, wenn man ruhig ist. Deshalb sage ich ja auch immer: Jazz ist eigentlich unlernbar. Wenn man nicht die innere Ruhe kriegt, dann ist Jazz sehr schwierig zu erlernen. Die Schultern entspannt, und die Musik kommt aus den Fingern, als ob das Hirn in den Fingern sitzen würde.

Und diese fast blind funktionierende Zusammenarbeit als Sideman in Julian „Cannonball“ Adderleys Band hatte dann Mitte der Sechziger ein Ende. Woran stellt man eigentlich fest, dass es nicht mehr passt?

Am Anfang, in den ersten Jahren, und das hat ganz schön lange gedauert, da habe ich noch keinen eigenen Stil gehabt. Meinen eigenen Stil habe ich um 1965, 1966 bekommen. Erst dann, also erst nach Jahren in Amerika. Vorher und die ganze Zeit über habe ich immer noch Bebop gespielt, wenn auch gut. Und mir vorgenommen, wann immer ich etwas spiele, immer wenn ich drauf und dran war, eine Phrase zu spielen, die ich schon einmal gespielt hatte…

[90] …sie anders zu spielen?

Nein, nicht sie bloß anders zu spielen. Radikaler: etwas anderes zu spielen. Aber in dem Moment, wie ich gemerkt hatte, dass sich da so etwas wie ein eigener Stil entwickelte, wurde es mit einem Mal schwierig mit Adderleys Band. Ich habe in der Folge zunächst viel mehr eigene Stücke geschrieben, in denen ich meinen Stil auch einbringen konnte. Aber das war bereits der Anfang vom Ende. Ich habe immer mehr gespürt, dass ich an meine Grenzen gestoßen war. Und das erste Mal, dass ich mich wirklich habe einbringen können - das war mit meiner eigenen Band, dem Weather Report.

Wie haben Sie „Cannonball“ Adderley nach so vielen Jahren gemeinsamer Arbeit Abschied gesagt?

Da waren wir in Minneapolis auf einer Party in dem Haus eines sehr berühmten American-Football-Spielers, da haben wir gegessen und getrunken. Das war schwierig, dem „Cannonball“ das zu sagen, nach neuneinhalb Jahren, denn wir haben ja die ganzen Jahre hindurch miteinander gespielt, sind immer zusammen gereist, sogar im selben Auto. Er war ja auch mein Trauzeuge. Wir waren echte Freunde bis zu seinem Tode 1975, er hat meiner Familie Geschenke zu Weihnachten gebracht. Als ich ihm das mit meinem Abschied gesagt hatte, da hat er geweint.

Dieser große Mann - er war ja auch physisch ein sehr großer Mann…

Er hat ja nicht geheult. Ihm sind ein paar Tränen gekommen. Aber er sagte: I wish you all the best! Der hat sich nicht leid getan, er war auch ein bisschen gekränkt, aber mehr als das war er glücklich, dass ich durch seine Schule gegangen bin und erst durch ihn schließlich in der Lage gewesen war, eigene Wege zu gehen. Als er erfuhr, dass ich meine Band mit Wayne Shorter gründen würde, da hat er sofort gewusst, dass das eine Band sein würde, mit der man rechnen müsste. Er hat mir gratuliert zu dem Entschluss. Und dann haben wir zusammen getrunken, und zum Schluss hat er mich umarmt. Und dann haben wir ja noch eineinhalb, zwei Monate zusammengespielt in der Band, bevor es vorbei war.

Sie haben gerade erwähnt, dass Sie auf der Party eines sehr berühmten Football-Spielers eingeladen waren. Das ist bemerkenswert, weil dieser unschuldige Satz unmissverständlich in Erinnerung ruft, wie sehr sich seitdem die Zeiten geändert haben. Die Vorstellung, heute würde ein berühmter Athlet eine Party geben - da würden keine Jazzmusiker eingeladen werden…

Das war so, dass die ganz berühmten Athleten, alle!, totale Jazzfans waren. Die Boxweltmeister, die Großen des Baseball wie Willy Mays, die großen Leichtathleten… Ich habe den Jesse Owens sehr gut gekannt, der hier in Berlin 1936 vier Weltrekorde aufgestellt hatte… Leni Riefenstahl hat das ja gut in Szene gesetzt… Der hat später eine Radioshow gehabt und meine Musik im Radio gespielt. Später Muhammad Ali, das waren alles Leute, die haben Jazzmusik geliebt. Wenn eine großartige Band in deren Stadt gespielt hat, dann waren immer auch die Athleten da. Rock’n’Roll hörte keiner von denen. Wir aber hatten immer eine schwarze Audience. Das hat sich mit dem Weather Report noch verstärkt, da hatten wir mit einem Mal auch die ganzen Schwarzen aus den Colleges im Publikum. Der Miles war sogar ein wenig eifersüchtig auf uns, denn mehr als alles andere wollte Miles die totale Anerkennung des schwarzen Publikums - und nicht nur die Anerkennung der schwarzen Elite.

Aber über mangelnde Anerkennung konnte sich Miles Davis doch nun wirklich nicht beklagen.

Miles war immer ein Superstar. Aber oft war es bei ihm so, dass nur Weiße das Geld gehabt hatten, um ihn zu sehen. Während etwa das Publikum von Adderleys Band fast nur aus Schwarzen bestand.

Mit dem Tod von Miles Davis hat auch der Jazz im Allgemeinen viel von seiner Bedeutung verloren. Durch den Tod von Miles und den Tod von anderen.

Da haben Sie Recht. Da ist nichts mehr weitergegangen. Die Talente, die möglicherweise dagewesen wären, wurden von den Plattenfirmen mit Geld zugefüllt und gezwungen Bebop zu spielen. Viele Musiker, nicht nur die Jungen, sind auf diese Weise zurück- und nicht vorangegangen, weil sie auf die Plattenfirmen gehört haben. Die Musik ist so blass geworden. Denn Musik ist nichts anderes als Atmosphäre. Und wenn die Atmosphäre fehlt - dann ist das auch der Grund, warum die heutige Jazzmusik so flach ist. Das ist nicht, weil die nicht spielen können…

Die heutigen Jazzmusiker spielen die Tonleitern rauf und runter, dass einem schwindelig wird, wie die Weltmeister…

Genau so! Die spielen besser als alle anderen jemals zuvor. Aber ihre Musik hat keine Atmosphäre. Das wird sich aber wieder ändern. Das kann ja nicht sein, dass der Jazz auf ewig so bedeutungslos bleiben wird, wie er zur Zeit ist. Denn immerhin reden wir über die größte Kunstform des vergangenen Jahrhunderts: Die Musik der großen Meister, angefangen bei Louis Armstrong, Jimmy Lunceford, Duke Ellington, Charlie Parker, Dizzy Gillespie, Billie Holiday, Dinah Washington - diese Leute haben die größte Kunstform des 20. Jahrhunderts geschaffen.

Aus bloßer Willenskraft?

Aus Willenskraft, aus Erfahrung, vor allem aber aus dem Leben. Denn da war ja eine Szene, in der sie gespielt haben. Ben Webster! Ich habe das große Glück gehabt, mit vielen von den wirklich großen Menschen zu spielen. Die einen Charakter gehabt haben. Ende der fünfziger Jahre haben in New York in jedem Club ja nur Weltklasse-Leute gespielt. Duke Ellington, Thelonius Monk, Miles, John Coltrane - Meister!

War das das Paradies für Sie?

Das Paradies! Ich war ja ein junger Musiker, nicht so jung an Jahren, aber jung an Erfahrung. Ich habe die Luft da geatmet, und ich bin jeden Abend, jede Nacht, rausgegangen und habe gelernt, aufgespeichert. Das Leben habe ich gelernt, das so wichtig ist, um als Musiker zu seinem Ausdruck zu finden. Dieses Jazzleben. Da fand eine Revolution statt in diesen Menschen. Und da gab es einen Unterschied zwischen den Schwarzen und den Weißen. Und ich habe mir das angehört, [93] wie die Schwarzen gespielt haben. Die Schwarzen waren sehr kritisch mit den Weißen. Und irgendwie hat man den Unterschied gehört.

Sie haben ja auch wiederholt gesagt, dass es Ihnen wichtig war so zu leben wie die Schwarzen.

Für mich ist das so: Wenn du Skifahren lernen willst, wirklich Skifahren - dann gehst du nach Österreich, nach Kitzbühl oder nach St. Anton, denn da sind die besten. Die guten jungen amerikanischen Skifahrer, wenn die was werden wollen, dann sagen die: Wir wollen werden wie die österreichischen Skifahrer. Und was sehr wichtig war: Ich habe nie versucht, mich vorzudrängeln. Aber ich habe mich gleich verstanden mit diesen Leuten. Und obwohl ich von Anfang an genauso weiß wie alle anderen Weißen gewesen bin, wurde ich in ihren Kreis aufgenommen. Möglicherweise lag das auch an meiner Wiener Herkunft, dass ich ein bisserl anders gespielt hab‘. Weil ich ja auch beim Sprechen einen anderen Rhythmus habe.

Hat vielleicht eine Rolle gespielt, dass Sie den Musikern mit mehr Respekt begegnet sind als andere?

Respekt. Es hat sich so ergeben, dass ich als weißer Musiker den größten Respekt vor den schwarzen Musikern hatte. In Wien schon, in dieser Zeit 1953, 1954, waren wir rassistisch. Meine Musikerfreunde und ich sagten, als wir das erste Mal Dizzy Gillespie gehört haben, Charlie Parker: This is it! Wir waren Rassisten, wir haben nur schwarze Musik gehört. Und dann kam ich nach Amerika und habe gleich mit Dinah Washington gespielt, zwei Jahre lang. Ich habe die schwarzen Bands dirigiert. Ich habe das schwarze Leben mitgekriegt. Was heute als schwarzes Leben von den Medien präsentiert wird, das ist ja nur ein Klischee. Man sieht fast nie im Fernsehen schwarze Lehrerfamilien oder Doktorfamilien oder große Chirurgen. Im Fernsehen werden die Schwarzen in der Regel so gezeigt, dass man den Eindruck bekommt, das wäre alles die totale Straße, immer nur Verbrechen. Aber so ist es eben nicht. Die arbeiten genauso wie wir in Wien, in Köln oder anderswo. Das ist auch das Leben, das man ja hier sehr wenig kennt von den Schwarzen, verstehst‘? Auch meine Freundinnen waren ja fast alle Schwarze. Wir haben ja auch fast nur in schwarzen Clubs gespielt, das war ja noch die Zeit der Segregation. Ich habe das miterlebt, wie die schwarzen Mitglieder der Band nicht im Hotel übernachten durften. Also habe ich auch nicht im Hotel übernachtet. So war es.

Da musste man mit Würde durch?

Ich wollte erfahren, wie es ist für einen einzelnen Schwarzen in einer weißen Gesellschaft. Ich war der einzige Weiße in einem schwarzen Ensemble. Ich bin ein Lerner. Meine Eltern haben mir mit auf den Weg gegeben: Lerne jeden Tag a bisserl.

Es bedeutet, dass man das Leben als Herausforderung begreift.

So ist es. Das Leben schenkt dir nur das Leben.

Das ist ja auch eine schöne Weisheit. Ist die von Ihnen, oder haben Sie das gerade zitiert?

Ich glaub‘ schon. Das ist gerade gekommen. Lassen Sie uns darauf anstoßen. Das Leben selbst ist schon so ein Geschenk, dass man im Grunde genommen sein Leben lang damit beschäftigt sein sollte, dieses Geschenk zurückzuzahlen. Und wie zahlt man am besten zurück? Mit Musik, mit Talent, mit dem, was du am besten kannst. Das ist in diesem Sinne auch nix besonderes, weil: Das macht man halt so. So ist das.

Ja, und dann gelang Ihnen dieser geniale Wurf mit Miles Davis‘ „In A Silent Way“ - haben Sie da auch etwas zurückgegeben?

Das hatte mit dem Miles nix zu tun. Ich hab‘ das geschrieben zwei Jahre, bevor wir das aufgenommen haben, in Wien. Im AEZ-Hotel, gleich neben dem Hilton. Wir waren an dem Tag aus Amerika eingetroffen. Die Kinder waren bei den Eltern in Wien, wo wir einen wunderschönen Nachmittag gehabt hatten. Das war vielleicht eine Woche vor Weihnachten. Meine Frau war so erschöpft von der ganzen Strapaze der Reise, die hat sich schon ins Bett gelegt und so ruhig geschlafen wie ein Baby. Und ich habe am Fenster gesessen und über mein Leben nachgedacht und gesehen, wie es angefangen hat zu schneien. Und aus dem Hotelfenster konnte ich das Haus sehen, in dem meine Eltern wohnten, als sie geheiratet haben, in dem ich gezeugt wurde. What a ridiculous coincidence. Ich habe mich immer als sehr glücklichen Menschen empfunden. Aber das war vielleicht einer der glücklichsten Momente in meinem Leben. Da war der große Zirkel vollendet. Ich bin ja ausgezogen von Zuhause, bin emigriert nach Amerika und dort fast zehn Jahre geblieben. Und ich schaue raus aus dem Hotelfenster, über den Stadtpark in Wien und denke mir, wie schön das ist, dass die ganze Familie zusammen war. Einen Tee habe ich gehabt, und ein paar Blätter und einen Stift. „In A Silent Way“ habe ich dann sehr geschwind geschrieben.

Und wie kam es dazu, dass „In A Silent Way“ dann von Miles Davis aufgenommen wurde?

Ich bin dann nach New York zurückgekommen und bin am nächsten Tag zu Miles rübergegangen. Ich habe auf der 104. Straße gewohnt, und er auf der 77. Schöner Spaziergang. Und ich bin zu Miles gegangen, hab‘ ihm a bisserl a Wein gebracht und aus Wien ein paar Essereien. Der Miles hat ja ein ganz modernes Haus gehabt, mit drei Stockwerken. Miles war reich. Und im ersten Stock hat er so eine Ecke gehabt, wo er seine Platten stehen hatte und seine Preise, seine Awards. Und er hatte auch ein eingebautes Pianino. Miles hatte sehr moderne Möbel und eine sehr moderne Innenarchitektur. Und er bat mich, für ihn etwas auf dem Piano zu spielen. Und da habe ich „In A Silent Way“ für ihn gespielt, ich sagte zu ihm: This is a little piece that I wrote in Wien. Und ich spiele so, und Miles war verschwunden, er hatte sich hinter diesem in die Innenarchitektur eingelassenen Klavier versteckt, ich konnte ihn nicht sehen und wusste nicht, dass er direkt hinter dem Klavier saß. Und dann steht er auf und sagt: I must record this! This is really a very beautiful song! Und dann habe ich ihm das versprochen. Eine Woche später fange ich mit dem „Cannonball“ Quintet zu proben an, und während des Soundchecks spiele ich das Stück wieder. Und Julians Bruder, der Nat Adderley, der sagt: „In A Silent Way“… - das ist beautiful! [95] Wir müssen das aufnehmen. Und ich musste Nat sagen: I can’t do that! Ich habe es schon dem Miles versprochen.

Und das hat er einfach so hingenommen?

Nein, wir hatten eine irrsinnige Diskussion, in der er mir vorwarf, dass so etwas nicht okay wäre. Wir wären seit zehn Jahren in einer gemeinsamen Band, er wäre wie ein Bruder für mich dagewesen, und der „Cannonball“ war auch dabei, der hat mich auch versucht zu überreden. Scheiß‘ auf den Miles, wir machen das mit unserer Band. Und ich sagte: nein. Denn mein Wort, das ist alles, was ich habe. Ich hab‘ sonst nix. Aber Ehre habe ich genug. Also habe ich das Stück dann mit Miles aufgenommen.

Und Sie haben dann, oder besser gesagt: Miles Davis hat dann mit genau diesem Stück die letzte große Revolution im Jazz losgetreten. Man muss es ja so sehen: „In A Silent Way“ gilt als Miles Davis‘ großes Verdienst, obwohl Sie das Stück komponiert hatten.

Miles hat keine Note davon geschrieben. Es ist noch nicht einmal gemeinsam entstanden. Das ist meine Komposition, und er wird auch nirgendwo als Komponist erwähnt. Nur das andere Stück…

… „It’s About That Time“

Genau, das andere Stück. Das hat er geschrieben. Nur die Basslinie und die Drei-Noten-Melodie A-As-As-F-F-F habe ich geschrieben, und dass ich da nicht als Co-Komponist genannt wurde, da hat er mir a bisserl‘ was weggenommen mit.

Wenn Sie heute zurückblicken und feststellen, dass Miles Davis vielleicht der größte Jazzmusiker, der größte Visionär, der größte Erneuerer der Musik war - woran denken Sie dann, wenn Sie sich erinnern, dass Sie sein erstes Angebot abgelehnt hatten seinerzeit, weil Sie noch nicht so weit waren?

Naa! Ich habe nicht gesagt, dass ich noch nicht so weit wäre. Ich habe gesagt: It is not the time. Das ist ein Unterschied. Falsche Zeiten sind immer schlecht.

Wie spüren Sie, ob etwas falsche Zeit ist? Hat das etwas mit dem Timing eines guten Musikers zu tun?

Ich habe da keine vorprogrammierte Idee. Man hat Verpflichtungen, man muss seine Rechnungen bezahlen, seine Familie ernähren…, solche Dinge haben etwas damit zu tun, ob etwas zur richtigen Zeit oder zur falschen Zeit passiert. Und damals war eben nicht die richtige Zeit, erst später.

Ich habe Miles Davis leider nie live gesehen, obwohl ich ein, zwei seiner letzten Konzerte durchaus hätte sehen können, wenn mir damals, zur richtigen Zeit sozusagen, bereits bewusst gewesen wäre, wer dieser Mensch war.

Es wäre spannend gewesen, weil er spannend gewesen ist. Alles, was er auf der Bühne gemacht hat - er war einfach eine Persönlichkeit. Was für eine Aura! Und diese Ruhe! Miles hat minutenlang auf der Bühne stehen können und hat nichts getan. Er war wie eine aufgespannte Steinschleuder. Der hat fünf Minuten bewegungslos auf der Bühne stehen können, wie eine Statue, die lebt.

Sie meinen, der hat sich aufgeladen?

Aufgeladen mit Musik. Und gewartet auf den genauen Moment. Pam! Jetzt muss es sein. Und dabei total relaxed. Ganz ruhig. He was the hippest! Hip heißt: ein relaxter Typ; ein moderner, relaxter Typ. Ich habe mit ihm das letzte Konzert in Paris gespielt, vor 8.000 Zuschauern, zwei Monate, bevor er starb. Da war er wirklich schon krank, da hat er sich schon fast nicht mehr bewegen können. Da hat es eine Rampe gehabt, die haben sie für ihn gebaut, da ist er immer drauf rumgegangen. Er hat einen elektrischen Anschluss gehabt auf seiner Trompete, einen kabellosen Anschluss, so dass er sich frei bewegen konnte. Das Beispiel ist schön, weil es beweist, wie stark Musik wirklich ist. Ich habe ihn hinter der Bühne gesehen und mir gedacht: Hoffentlich packt der das, ich meine physisch. Denn er war ja so dünn! Er musste auf die Bühne heraufgeführt werden, das hat das Publikum nicht gesehen. Wie er aber auf der Bühne stand, da ist ein Stern aufgegangen. Da war er wie ein junger Mensch und hat gespielt wie ein Gott. Das tut mir leid für alle Leute, die da waren, als er noch gelebt hat, und ihn nicht gesehen haben. Ich habe ihn getroffen, da war er 31 Jahre alt, und wie er gestorben ist, da war er 65. Wir waren richtige Freunde.

Wie wichtig war es Ihnen eigentlich, mit den Musikern, denen Sie begegneten, und vor denen Sie großen Respekt hatten, befreundet zu sein?

Was sind Freunde? Das findet man doch immer erst hinterher heraus. Aber der Wayne Shorter, das war für mich so etwas wie ein Zwillingsbruder. Wir haben 16 Jahre lang zusammengearbeitet, und wir haben uns nie gestritten - auch nicht über Musik. Dabei muss ich sagen: Geredet haben wir fast nie über Musik, wenn wir nicht gerade gearbeitet haben. Auch mit Miles nicht.

Wenn man ein Ziel hat vor Augen, dann ist man imstande, unglaubliche Kräfte freizusetzen. Woher wussten Sie, was Sie tun wollten, oder gar mussten?

Ich weiß nicht, ob ich tun musste, was ich tat. Ich war einfach stur wie ein Baum. Im Amerikanischen gibt es diesen schönen Begriff der „stubbornness“. Ich hatte immer einen eigenen Willen.

Waren Ihre Eltern zum Schluss stolz auf Sie, dass Sie ausgewandert sind nach Amerika und dort Karriere gemacht haben?

Meine Eltern waren immer stolz auf mich gewesen. Aber ich war ein sehr schwieriger junger Mensch, und es waren schwierige Zeiten, und ich bin nicht immer meinen Eltern gefolgt, sondern immer meinem Willen. Wissen Sie, immer wenn man sich fragt, ob man etwas tun soll oder nicht: Die Antwort lautet immer „Nein“.

Weil der Zweifel bereits gesät ist?

Weil der Zweifel bereits da ist. Wenn du dich fragst: Soll ich über diese Brücke gehen oder lieber doch nicht? Dann gehe nicht. Diesen Willen, diesen Standpunkt, diese Sturheit, die brauchst du, um durch’s Leben zu gehen. 1943 habe ich nie gewusst, ob ich noch einen Tag länger überlebe. Wien wurde im Krieg bombardiert. Da kamen die Amerikaner am Tage und die Briten in der Nacht. Die haben oft Phosphorbomben geschmissen, die sich durch alles durchge-[96]brannt haben. In der Nacht sind wir nicht immer in den Keller gegangen, wenn die Sirenen heulten. Meistens sind wir gegangen, aber nicht immer. Ich habe mir damals gedacht: Das kann jetzt nicht das Ende vom Leben sein. Und wenn ich das überlebe, dann muss ich meinen Weg gehen. Die Seele geht weiter, die diktiert mir meinen Weg.

Das haben Sie gedacht, in diesen Bombennächten?

Ja. Ich ging auch in die Kirche, ich bin aufgewachsen katholisch, und da wurde auch die Kirche angegriffen, 1945, als bereits die Tiefflieger kamen. Ich habe mir damals, als Junge gedacht: Was ist das bloß für ein Leben? Was erlebe ich da alles? 1934 gab es eine Revolution in Wien, dann haben die Sozialdemokraten gegen die Nazis gekämpft, dann habe ich die Nazi-Herrschaft erlebt. Das war irgendwie interessant, wie das angefangen hat… Da gab es endlich was zu fressen. Und dann hat der Krieg angefangen… Und 1943, Pfingsten war’s, wie die ersten Angriffe angefangen haben - bis zum Ende des Krieges. Das war eine lausige Zeit. Nichts mehr zu essen, nur jeden dritten Tag einen viertel Liter Magermilch…

So etwas habe ich ja nie erlebt.

Und das ist so, das soll auch so sein. Es hat so sein sollen. Es hat meine Wahrnehmung revolutioniert. Ich kann mich daran erinnern, als wenn es heut‘ wäre. Im Keller. Der Geruch vom Moder. Dunkel, kalt. Gleich nebenan waren die Kuhställe von den Nachbarn. Und ich sitze da und denke daran, dass unsere ganze Familie total gerecht war, hart gearbeitet hat, und dann sowas. Ich habe mich gefragt in diesen Bombennächten: Gibt es Gott? Das gibt keine Gerechtigkeit, dachte ich mir. Die ganze Welt hat gegen uns gekämpft. Erst als der Krieg vorüber war, habe ich erfahren, dass es die KZs gegeben hat. Diese Gedanken machte ich mir, bevor ich gewusst hatte, was sich hier eigentlich abgespielt hatte. In Wien habe ich in der Folge jahrelang den Leuten nicht über den Weg getraut, weil ich dachte, dass die Leute etwas mit den Verbrechen zu tun gehabt haben könnten.

Was haben Sie Ihren Freunden in Amerika, Duke Ellington, Wayne Shorter und den anderen, eigentlich erzählt, wenn die Sie gefragt haben über die Kriegszeit, die Nazis und Wien?

Wir haben oft darüber geredet. Wir haben stundenlang darüber gesprochen. Nach den Konzerten, wenn wir spät nachts fertiggespielt hatten, dann haben wir meist noch geredet, getrunken und geredet. Ich hatte ja auch viele Fragen an die anderen. Wir haben ja auch viel über Amerika geredet, die Segregation und solche Dinge.

Sind Sie dann in Bars gegangen und haben sich eine Flasche Wein bestellt?

Wein?! Wir haben keinen Wein getrunken. Wir waren Heavy Drinkers. Bier und heavy, Schnaps. Das war ein Teil dieses Lebens, das es heute so in dieser Form nicht mehr gibt, und weswegen sich auch die Musik so verändert hat. Wir haben da so oft gesessen und uns Geschichten erzählt. Du bist nach einem Konzert immer ganz oben gewesen. Du kannst dich dann nicht einfach nach Hause begeben und dann einschlafen. Du brauchst drei, vier Stunden, um davon runterzukommen. Egal, ob in New York oder anderswo.

Ein Bild des Friedens. Musiker, die gerade etwas zusammen erschaffen haben, gönnen sich ein paar Heavy Drinks in einer Nachtbar…

Wir haben ja auch vor dem Konzert schon… Speziell, wenn wir mit dem Weather Report auf Reise waren… Wir sind immer zusammen gewesen, schon zum Soundcheck haben wir a bisserl getrunken, wir waren ja eine Trinkerband.

Das ist ja sehr sympathisch.

Aber wir haben uns nicht angesoffen! Denn wir wussten, dass die Leute viel Geld ausgegeben haben, um eine Weltklasseband zu erleben. Und wir hatten ja meistens einen engen Terminplan, den wir professionell einhalten mussten.

Von Europa nach New York, um die Welt und schließlich nach Malibu führte Ihre Reise.

Da ist der Pazifische Ozean. Malibu ist ein sehr rauher Ort. Wir haben Klapperschlangen da, Raubkatzen. Es ist ein schöner Ort.

Ich dachte immer, als Österreicher liebt man die Berge…

Das Wasser ist wundervoll. 180° Rundumblick auf den Ozean. Das ist phantastisch. Diese Weite, dass der Ozean am Horizont bruchlos in den Himmel übergeht, das ist inspirierend. Das ist sehr urig dort. Bergig, wild. Wir haben das gewählt, weil wir dort sehr glücklich waren. Wir waren zuerst in Pasadena und sind dann nach Malibu gegangen. Da gab es ein großes Feuer, das hat uns alles genommen. Meine Frau und ich, wir haben es dann noch einmal in New York versucht, wo ich ja angefangen habe, und wo ich meine Frau kennengelernt habe und haben dort auch eine klasse Zeit verbracht. Aber in Malibu, das ist so schön, wenn man da aufwacht und mit dem Kaffee und der Zeitung auf die Terrasse geht und auf das Meer schaut… Die Delphine und die Seelöwen… Von meinem Bett aus sehe ich das Meer. Das ist ein schönes Leben. Los Angeles als Stadt gefällt mir dagegen nicht. Ich bin auch fast nie in Los Angeles, nur in Santa Monica. Da kann man auch sehr gut essen, da hat’s super Restaurants! Das ist nur sieben Meilen von Malibu entfernt. In Santa Monica gehen wir immer in ein deutsches Restaurant, das heißt „Black Forest“, das ist sehr gut, da gibt’s die besten Rindsrouladen und die besten Weißwürste.

Als Belohnung nach einem Arbeitstag?

Ich arbeite ja heute noch 16, 17 Stunden am Tag. Komponieren, Mischen, ich bin den ganzen Tag am arbeiten, auch draußen, auf dem Grundstück. Ich schlafe sechs Stunden und stehe jeden Morgen um sieben auf. Und abends, ab elf Uhr telefoniere ich dann mit meiner Managerin in Wien. Wir haben ja neun Stunden Zeitunterschied.

Ist das nicht manchmal ein Problem?

Im Gegenteil! Meine Mutter hat das einmal gesagt: Weißt‘ Pepe, das ist nämlich mein Rufname in der Familie, weißt‘ Pepe, warum wir so einen Erfolg haben? Weil bei uns immer jemand wach ist und wir nie zur selben Zeit schlafen.