Knick oder Linie

Interview
unveröffentlicht
Barbara Eckle im Gespräch mit Regisseur Jan Schmidt-Garre über den senkrechten Augenblick, Ökotheater, aufgeladene Requisiten, widerspenstige Szenen, das Erzeugen der Musik aus der Aktion und das mysteriöse Erleben der Zweiten Realität

Was war für Sie der größte Unterschied, als Sie nach vielen Filmen zum ersten Mal eine Oper inszeniert haben?

Dass ich nicht das letzte Wort hatte. Ich weiß noch genau, wie merkwürdig ich mich am Tag nach der Generalprobe gefühlt habe. Es gibt ja in der Oper immer einen freien Tag zwischen Generalprobe und Premiere, damit die Sänger sich erholen können. Ich lief durch die Stadt und wusste, dass meine Arbeit abgeschlossen war, obwohl es noch gar keine Aufführung gegeben hatte. Sogar mein Vertrag war zu Ende: der läuft am Tag der Generalprobe aus. Ich war draußen und konnte jetzt nur noch hoffen, dass meine Sänger eine schöne Premiere spielen würden. Ich konnte noch in die Garderoben gehen, Küsschen geben und Toi toi toi wünschen, aber das war’s.

Beim Film geht Ihre Arbeit nach den Dreharbeiten erst richtig los?

Ja, der Schnitt ist das Entscheidende. Und da kann ich vieles kompensieren, was zunächst nicht so geglückt zu sein schien. Ich bestimme das Werk bis zur letzten Sekunde, bis zur Nullkopie, ja bis zu den Einstellungen im Premierenkino. In der Oper setze ich mich mit den anderen Zuschauern ins Parkett und lasse mich überraschen.

Viele Regisseure gehen ja nicht in ihre Premieren.

Das finde ich albern. Ich gehe gerne hin, auch wenn ich da unter extremer Anspannung stehe. Und kann sogar genießen, was ich sehe. Plötzlich kommt von einem Sänger ein neues Detail, das nicht abgesprochen war, das aber gut ist. Das ist schön. Und dann die Atmosphäre im Saal, wenn man merkt, dass ein Bogen entsteht und die Leute dabeibleiben. Das war bei der Arabella-Premiere in Leipzig so: im dritten Akt, mit dem ich wirklich glücklich bin, verschmolzen die vielen Einzelheiten, an denen wir gearbeitet hatten, endlich zu einem Kontinuum, und ich spürte im Saal eine kollektive Spannung, die mich auf meinem Stuhl nach vorne rücken ließ – das ist ein unglaubliches Gefühl.

Und der Applaus?

Das ist ok, aber da bin ich wie in Trance. Ich werde vom Regieassistenten auf die Bühne geschubst und kriege gar nicht richtig mit, was da passiert. Ich habe ja auch viel weniger Erfahrung damit als die Sänger, die sich nach jeder Vorstellung verbeugen.

Dann ist Oper das intensivere Erlebnis?

Wir leben im Jetzt, in einem kleinen Fenster zwischen Vergangenheit und Zukunft, und unsere ganzen verzweifelten Versuche, mit Kunstwerken die Vergänglichkeit außer Kraft zu setzen, haben doch etwas Hilfloses. Monate und Jahre lang arbeitet man an einem Film, setzt Bild an Bild, unverrückbar, auf dass das Werk noch in hundert Jahren genauso rezipiert werden möge, wie ich es heute konzipiert habe… Da ist doch das Theater, das vom Zuschauer in genau dem Augenblick aufgenommen wird, in dem es entsteht, und das im selben Moment auch schon wieder verschwindet, viel edler und eher der Situation des Menschen angemessen. Und letztlich auch stabiler: Was hier und jetzt vollkommen ist, ist unverlierbar; da steht der Augenblick senkrecht zur vergehenden Zeit. Aus genau diesem Grund ist für Artaud das Theater die höchste Kunstform.

Ein Gespräch wie unseres hier müsste ja diesem Ideal entsprechen: ein Wort gibt das nächste und vergeht, sobald es ausgesprochen ist…

Das Allerschönste! Ich habe immer gesagt, mein Traumberuf ist der Stegreiflyriker. Aber natürlich bin auch ich nicht frei von der Tendenz zur Verdinglichung und versuche, meine Gedanken möglichst präzise zu formulieren – für die Ewigkeit!

Und ich treffe schon, während wir reden, eine Auswahl für das künftige Manuskript…

Das ist ja auch legitim, wir können nicht immer im existenziellen Jetzt leben, wir haben Geschichte, wir haben Zukunft… Aber in der Kunst können wir diesen erfüllten Augenblick erleben. Und nur dort findet eine Kunsterfahrung überhaupt statt.

Wenn es nur um die Vollkommenheit im Jetzt geht, dann ist ja eigentlich die Premiere gar kein so großer Einschnitt, dann müsste ja –

Jede Vorstellung ist eine Premiere! Das ist das Ideal: Die Premiere nur als eine Zwischenstation in einem offenen Prozess zu betrachten, bei dem die Arbeit immer weitergeht. Das ist es vielleicht, was mal mit dem Begriff „Werkstatt Bayreuth“ gemeint war. Als ich zum ersten Mal Abendregie gemacht habe – das war bei Noeltes Danton bei den Salzburger Festspielen –, habe ich nach jeder Vorstellung Kritik gemacht. Mit 19! Die Schauspieler – Leute wie Will Quadflieg, Senta Berger, Heinz Baumann – haben gedacht, ich spinne!

Ich würde gerne die einzelnen Stationen einer Operninszenierung mit Ihnen durchsprechen. Wie entscheiden Sie sich für ein Stück?

Meistens gar nicht: das Theater bietet mir etwas an und dann muss ich sehen, ob ich dazu einen Zugang finde. Ich höre es ein paar Mal mit Klavierauszug durch, möglichst in verschiedenen Aufnahmen, und frage mich, ob da ein Bild entsteht – kein Bühnenbild, sondern ein Gesamtbild, ein Klang, der mich interessiert. Bisher war es immer so, dass die Geschichte an einem bestimmten Punkt für mich widersprüchlich wurde, dass ich an ein Hindernis gestoßen bin, das mir letztendlich geholfen hat, das Stück für mich zu öffnen.

Wo war das so?

In Massenets Manon zum Beispiel: Da wird eine junge Frau geschildert, die sich per Coup de foudre in einen Fremden verliebt, in Des Grieux, mit ihm eine leidenschaftliche Liebesgeschichte beginnt, ihn aber schon im zweiten von fünf Akten wieder verlässt. Warum tut sie das? An ihrer Liebe ist nicht zu zweifeln, die Musik ist da absolut eindeutig. Diese Frage hat mich zu meinem inszenatorischen Ansatz geführt: Des Grieux ist bei mir nicht real, er ist eine Figur aus dem Barocktheater, die es wie der Liebhaber in Woody Allens Purple Rose of Cairo schafft, von der Bühne herab in die Realität zu steigen. Manon verliebt sich in die Naivität, die Geradlinigkeit, die pathetische Art dieser Theaterfigur, aber sie weiß doch immer, dass es mit ihnen beiden nicht gut gehen kann, dass die Realität sie irgendwann wieder einholen wird.

Sah Ihr Des Grieux auch wie eine Theaterfigur aus?

Er war eine Barockfigur, aus der Entstehungszeit der Vorlage von Massenets Oper, Prévosts Roman Manon Lescaut von 1731. Und meine Manon lebte im Paris Massenets, Ende des 19. Jahrhunderts. In ihrem Haus gab es ein kleines Barocktheater, in dem die Spielfigur Des Grieux eines Tages zum Leben erwacht. Manon folgt ihm in sein Theater, und im zweiten Akt sind wir dann bei ihm: Die ganze Bühne zoomt auf und wird zu einem Barocktheater à la Drottningholm, mit schönen gestuften Pappkulissen. Zwischen diesen beiden Zeit- und Realitätsebenen spielte die ganze Oper.

Was für eine Rolle spielt das Bühnenbild für Sie?

Eine dienende Rolle. Der Raum muss Funktion der Geschichte sein. Er muss sich mit der Geschichte entwickeln. Ich habe gerade gelesen, dass es bei der Wiederaufnahme des uralten Rosenkavalier von Schenk und Rose in München Szenenapplaus gab, als der Vorhang zum zweiten Akt aufging. Wenn mir das als Bühnenbildner heute passieren würde, wüsste ich, dass ich etwas grundsätzlich falsch gemacht habe. Jürgen Rose selber denkt sicher genauso. Für mich muss der Raum aus der Inszenierung entstehen; er muss leben und sich wie ein Mitspieler verhalten. Wenn schon Applaus fürs Bühnenbild, dann am Ende. Bei der Arabella habe ich deswegen, fast schon aus Trotz, mit der leeren Bühne angefangen, die sich im Laufe des Abends langsam füllt. Und fünf Minuten vor Schluss ist der heile Raum, nach dem die Figuren der Oper sich sehnen, dann endlich entstanden.

Arbeiten Sie mit Videoprojektionen?

Das hat mich nie interessiert. Ich hab’s auch selten gut gesehen. Stefan Herheim kann Projektionen toll einsetzen, beim Parsifal zum Beispiel, aber er macht es auch immer seltener. Bei meiner ersten Inszenierung hat Peter Heilker, der Operndirektor von St. Gallen, gesagt: „Du kommst vom Film, Du brauchst sicher einen Beamer.“ Aber ich will Ökotheater ohne Zusatzstoffe machen. Ich mag Prospekte, die transparent werden, offene Verwandlungen mit unsichtbaren Bühnenarbeitern, solche Sachen. Die Barockkulissen bei Manon haben großen Spaß gemacht, vor allem, als wir die dann mit modernsten Mitteln beleuchtet haben. Ich hoffe, dass ich demnächst mal die Gelegenheit habe, Pappfelsen zu verwenden!

Sind Requisiten für Sie Teil des Bühnenbilds?

Sie gehören für mich eher zur Maske, im Sinne von Edward Gordon Craig, bei dem die Maske auch das Kostüm und zum Beispiel die individuelle Gangart einer Figur umfasst. Ich liebe es, Requisiten auf der Bühne zu behalten und ihnen im Laufe der Aufführung verschiedene Funktionen zu geben, so dass sie sich immer stärker aufladen. Mit Requisiten kann man Figuren wunderbar charakterisieren. Sie können Eigenleben entwickeln und innerhalb der Inszenierung für zeitliche Verweise verwendet werden. Beim Bühnenbild mag ich Purist sein, aber auf Requisiten will ich nicht verzichten.

Was für Requisiten sind das?

Blumen, Briefe, Flaschen, Kleider, Pistolen. Mariettas Zopf in der Toten Stadt

Wenn Sie Ihren Ansatz gefunden haben, beginnt die Ausarbeitung der Inszenierung?

Zuvor versuche ich noch, mir das Stück dramaturgisch zu erschließen, indem ich es in Handlungseinheiten zerlege. Das ist eine Technik, die ich von David Esrig gelernt habe und die mir enorm hilft, ein Stück zu durchdringen. Es ist eine Art strukturelle Inhaltsangabe, die statt nach dem äußeren Handlungsablauf nach den Motivationen der Figuren fragt. Erst wenn ich weiß, warum eine Figur tut, was sie tut, kann ich sie inszenieren.

Wie umfangreich ist diese Inhaltsangabe?

Das sind vielleicht dreißig Sätze, an denen ich lange feile und die die Geschichte in ihrer Dynamik wiedergeben. Wenn diese Handlungseinheiten stimmen, dann verdampft in ihnen der Inhalt, und es bleiben nur die Funktionen, der Sinn. Das ist meine Spielpartitur. Ich schaue drauf und sehe den Ablauf vor mir.

Es geht Ihnen also schon um klassisches Storytelling?

Ja, auch wenn das nicht zu hundert Prozent die von den Autoren intendierte Story sein muss. Als Geschichte ist mir die Geschichte egal. Aber nur über die Geschichte bekomme ich die Motivationen und nur darüber Entwicklung und Zielgerichtetheit. Dramatik.

Können Sie ein Beispiel für eine Handlungseinheit geben?

Zum Beispiel die zweite Szene im zweiten Akt Arabella. Im Opernführer werden Sie lesen: „Die Fiakermilli singt ein Ständchen vor Mandryka und den Grafen.“ In meine Spielpartitur übersetze ich das mit: „Die Grafen präsentieren Mandryka die Fiakermilli, um ihn erotisch zu provozieren.“ Das ist nicht Hofmannsthals und Strauss’ Intention für diese Szene. Aber es führt zum besseren Spiel und zur besseren Geschichte. Und es lässt sich musikalisch so perfekt beglaubigen, dass diese Umdeutung oder Verschärfung vielleicht doch den geheimen Absichten der Autoren entspricht.

Die Spielpartitur füllen Sie dann auf den Proben?

Schon vorher. Ich inszeniere die ganze Oper am Bühnenbildmodell durch. Das verwundert immer Leute, die mit Schauspiel vertraut sind, weil da heute kaum noch jemand so arbeitet. Aber da kommen ja auch die Schauspieler viel weniger vorbereitet auf die erste Probe und können ihren Text noch kaum. Alles wird gemeinsam entwickelt, in einer viel längeren Probenzeit. In der Oper haben sich die Sänger schon monatelang mit ihren Partien befasst und haben sie normalerweise perfekt drauf. Das heißt, ich stehe einem Sänger gegenüber, der schon Monate mit der Figur gelebt hat und natürlich ein ziemlich differenziertes Bild von ihr hat, ein Bild, das umso stabiler ist, als es auch noch durch seinen ganzen Körper gegangen ist – er singt die Figur ja. Wenn ich die Inszenierung jetzt langsam und improvisatorisch entwickeln würde, dann hätte ich mit diesen ganzen nicht von mir geprägten Figuren zu tun und käme nur schwer zu einer kohärenten Aufführung. Ganz abgesehen davon, dass ich es auch respektlos den Sängern gegenüber fände, als Einziger unvorbereitet zur Arbeit zu kommen.

Aber auch wenn Sie vorbereitet sind, treffen Sie auf diese fertigen Rollenbilder.

Deswegen versuche ich, die Sänger, zumindest die Protagonisten, schon Monate vorher zu treffen und ihnen meinen Ansatz zu erläutern. Ich bürste die Stücke ja nicht sehr gegen den Strich, aber die gängigen Rollenvorstellungen oft schon. Marietta in der Toten Stadt ist zum Beispiel für Korngold und seinen Vater, der das Libretto geschrieben hat, eine eitle, kokette Frau, die nur an Geld interessiert ist und die Liebe ihres Verehrers Paul, der seine tote Frau in ihr wiederzuerkennen glaubt, eiskalt ausnutzt. Trotz dieser ziemlich peinlichen Anlage gibt Korngold ihr in seiner Musik aber viele echte Herztöne. Ich habe daher versucht, Marietta ins Recht zu setzen: Sie hat sich wirklich in diesen komischen Kauz Paul verliebt und verzweifelt fast an seiner Unzugänglichkeit. Nur so bekommt die Figur Profil und kann sich entwickeln. Aber es hat eine Weile gedauert, die Sängerin, die ich in diesem Fall leider nicht vor Probenbeginn treffen konnte, vom Bild der koketten Verführerin abzubringen.

Ist die Musik für Sie das entscheidende Kriterium? Auch bei Manon haben Sie die Musik als Rechtfertigung Ihrer Lesart angeführt.

Die Musik ist das Wichtigste. Und die Musik hat recht. Ich kann gegen den Text inszenieren, aber nicht gegen die Musik.

Ist das Ihre Antwort auf die alte Frage? Prima la musica?

Das ist zu undialektisch. Gerade weil die Musik das Wichtigste ist, ist sie nicht das Erste, zeitlich gesprochen. Für den Sänger scheint es sich nahezulegen, auf den Impuls aus dem Orchestergraben zu warten und darauf zu reagieren, mit einem Schritt, einer Geste oder womit auch immer. Das ist aber immer zu spät. So entsteht nur eine scheinbar musikalische Illustration der Musik, die in Wirklichkeit angeklebt ist und überflüssig. Da gibt man die Oper besser konzertant. Wagner hat eine Theorie entwickelt, die sich auf diese Frage gut anwenden lässt: Für ihn ist das Musikdrama historisch notwendig geworden, weil der Musik, seitdem sie sich vom Tanz emanzipiert hat, das außermusikalische Fundament fehlt, das „Formmotiv“, wie er es nannte. Für ihn muss der Einsatz von Musik von außen motiviert sein – an absolute Musik glaubt er nicht.

Dann hat er er diese gewaltigen Musikdramen nur entwickelt, um legitim komponieren zu können?

Genau. Die Musik antwortet auf Fragen des Textes, der Situation, der theatralischen Szene. Und so fragwürdig seine Prämisse auch ist, in einem hat Wagner vollkommen recht: nur so herum funktioniert Musiktheater. Der Sänger muss mit seiner Aktion die musikalische Reaktion hervorrufen, er muss der Musik zuvorkommen, sodass idealerweise der Eindruck entsteht, die gesamte Partitur entstünde im Jetzt aus dem szenischen Geschehen heraus. Für die Sänger ist das natürlich viel schwerer, denn sie können nicht bequem abwarten, bis sie vom Dirigenten den Impuls bekommen, sondern sie müssen alles neu erschaffen, sie müssen die Oper komponieren und dirigieren. Beim Tanz genauso: Musik wird nicht vertanzt, sie wird ertanzt. Wenn das glückt, dann wachsen Musik und Aktion geradezu magnetisch zusammen. Man lebt dann die Musik von innen heraus. Das ist für mich das höchste Ziel der Opernregie.

Zurück zur Entstehung der Inszenierung: Sie gehen die Oper also Szene für Szene am Modell durch?

Ich habe Figurinen, die ich den Rollen zuordne, und lege jeden Blick, jede Drehung und jeden Gang fest. Am Anfang geht’s stockend, da muss ich viel korrigieren, aber irgendwann habe ich dann den Raum erfasst, und es hat sich eine Art Sprache der Aufführung entwickelt, und dann geht es sehr flüssig. Ich schreibe alles auf und mache Fotos. Bei Arabella war es mir schon peinlich: Ich hatte mein Regiebuch und dann auch noch die ganze Inszenierung als Fotoroman – sehr streberhaft. Beruhigt aber und kürzt die erste Probenphase enorm ab, auch wenn vieles natürlich angepasst und geändert wird.

Sie spielen die Musik und lassen die Figurinen dazu im Modell Gänge machen?

Ja, aber manchmal weiß ich auch nicht weiter, und dann mache ich die Gänge selber. Und dann passiert das Geheimnisvollste in dieser ganzen Theaterarbeit: Ich stelle mich hin, vergegenwärtige mir, was vorher war, schalte die Musik ein – und weiß, was ich tun muss! Fast immer weiß ich das dann einfach. Das heißt, ich betrete eine Zweite Realität, erlebe die Situation bei gleichzeitigem Bewusstsein ihres fiktiven Charakters und weiß, was in diesem Moment richtig ist. Ich werde von diesem künstlichen Rahmen auf eine mysteriöse Weise angesteckt und lebe dann in der Zweiten Realität. Das ist extrem beglückend.

Auf der Probe funktioniert das nicht?

Doch, da gibt es diese Momente auch. Aber vieles, was mir in der Ruhe und Konzentration zuhause einfällt, könnte ich auf der Probe nicht erfinden. Der Druck um einen herum führt eher zu schnellen, konventionellen Lösungen, nicht zu interessanten. Zumindest ist das bei mir so. Ein Regisseur wie Herbert Fritsch wird unter Druck erst richtig gut.

Legen Sie alles zuhause fest, oder gibt es auch Szenen, die Sie erst auf den Proben entwickeln können?

Ich versuche, alles vorher festzulegen. Aber es gibt immer zwei, drei Szenen, die Widerstand leisten. Die schiebe ich dann auf, und manchmal löse ich sie erst auf der Probe, manchmal sogar erst kurz vor der Premiere. Die liegen mir wochenlang im Magen, obwohl ich eigentlich weiß, dass aus solchen Szenen oft das Beste entsteht. Das ist wie mit dem erzählerischen Problem im Stück, über das wir gesprochen haben, das mich oft überhaupt erst zum inszenatorischen Ansatz führt.

Was sind das für Szenen, die Widerstand leisten?

Das sind die Stellen, an denen das Stück mir nichts vorschreibt, kein „Arrangement“: ‚Der kommt von rechts, also muss die nach links, damit die Blickachse frei ist‘ usw. In Arabella war das ein Walzer zwischen zwei Szenen im zweiten Akt, wo nichts passiert. Eine Minute Musik ohne Aktion – was macht man da? Um das zu lösen, versuche ich, mir ganz genau klar zu machen, wo ich in diesem Moment des Stücks herkomme und wo ich ich hin muss, und das unzählige Male. Der Drehbuchcoach Syd Field nennt das „den Kopf gegen die Schreibmaschine hauen“. ‚In der nächsten Szene wird Zdenka ihrem Geliebten einen sehr wichtigen Brief übergeben. Brief übergeben, Brief übergeben…‘ Und plötzlich hatte ich die Lösung: Ich ließ Zdenka mit dem Brief einen kleinen Walzer tanzen, in Vorwegnahme ihrer Liebesnacht. Das war sehr rührend. In solchen Spalten, da, wo das Stück nicht perfekt ist, können die schönsten Momente entstehen, die, die einem im Gedächtnis bleiben. Deswegen gibt es immer wieder außergewöhnliche Shakespeare-Inszenierungen: Shakespeare ist genial aber unvollkommen, da gibt es diese Spalten für den Regisseur.

Können Sie das, was Sie zuhause entwickelt haben, einfach so auf die Probe übertragen?

Nicht immer, aber meistens. Die erste Phase der Proben besteht vor allem daraus, diese vorbereitete Inszenierung den Sängern zu vermitteln, sie zu überprüfen, anzupassen und einzustudieren. Inzwischen mache ich das so schnell wie möglich und gehe über die Details erstmal hinweg. Es geht ja darum, die Sänger zu Verbündeten zu machen. Stanislawski sagt, je genauer das innere Bild aller Beteiligten übereinstimmt, desto besser kann die Aufführung werden. Je früher die Sänger sich orientieren können und die Inszenierung auf ihrer inneren Landkarte sehen, desto sicherer fühlen sie sich und desto eher sind sie bereit, sich auch auf die Details und auf die Tiefendimension der Inszenierung einzulassen.

Nehmen die Sänger Ihre Vorschläge bereitwillig an?

Da gibt es sehr unterschiedliche Temperamente. Manche machen genau, was ich sage, aber kein Jota mehr, sodass meine Inszenierung ganz erschreckend nackt vor mir steht, und manche verstehen blitzschnell, was ich sage, und improvisieren, vermeintlich in meinem Sinne, die ganze Szene. Da fühle ich mich dann wie ein Maler, der hier einen Punkt setzen will und hier eine Linie, aber statt dem Punkt und der Linie malt einem einer das ganze Bild voll, und ich muss es langsam wieder freikratzen, um überhaupt erkennen zu können, ob das, was ich vorhatte, funktioniert.

Und wenn es nicht funktioniert? Wenn das Timing nicht stimmt oder die Idee selber sich nicht bewährt?

Dann müssen wir gemeinsam etwas Neues finden. Da kommen dann Vorschläge von den Sängern, oder ich biete etwas an. Und wenn uns gar nichts einfällt, mache ich das, was ich zuhause schon gemacht habe: ich trete in die fiktive Situation ein und hoffe, dass sie mir verrät, wie es weitergeht. Und meistens tut sie das, ganz selbstverständlich, ohne große Mystik. Und zugleich ist das doch eine extrem intensive Daseinserfahrung. Wenn ich zu dem Sänger sage, „lass mich bitte an deinen Platz“, dann ist das so ähnlich wie: „Gib mir mal das Glas, ich probiere einen Schluck.“ Genauso klar trete ich in diese Zweite Realität. Ich spüre sie so deutlich wie ich den Wein aus seinem Glas schmecke. Ich schließe mich da an einen Strom an; das ist schon nah bei einer religiösen Erfahrung – sicher das erfüllendste bei der Regie. Und wenn’s dann kommt, ist das eigentlich ein Auffinden, kein Erfinden.

Wie erklären Sie sich, dass Sie die Lösung finden und die Kollegen nicht? Die sind ja genauso tief in der Situation drin wie Sie.

Weil ich das Gesamtbild im Kopf habe, in das sich das fehlende Detail einfügen soll. Auf dieses Ziel hin übersteige ich das Gegebene. Die Zweite Realität ist in meiner inneren Welt schon ausgeprägter als bei den Sängern, die ja erst seit kurzem mit ihr konfrontiert sind. Ich spüre die Richtung und spüre die Übereinstimmung, wenn das Detail sich materialisiert. Wenn’s plötzlich stimmt. Im Team gibt es immer ein, zwei Leute, die genauso empfinden und wunderbare Vorschläge machen können. Die anderen beäugen sie misstrauisch, weil sie scheinbar ein Geheimwissen haben, das ihnen vorenthalten wird. Dabei ist das innere Bild bei denen nur einfach schon deutlicher ausgeprägt. Der Dirigent Sergiu Celibidache, von dem ich sehr viel gelernt habe, nannte das „Transzendenz“. Das klingt esoterisch, er meinte es aber wörtlich: Überstieg. Der Dirigent muss ja irgendwie über die Klangphänomene, die ihm begegnen, hinaus sein, sonst hätte er keinen Maßstab, sie zu kritisieren. Das heißt, er ist irgendwo in seinem Geist schon am Ziel und kennt daher den Weg. Das gilt für jeden künstlerischen Prozess.

Am Ende der Proben, wenn alle näher am Ziel sind, müsste ja dann das Inszenieren leichter gehen.

Man hört doch oft, dass eine wichtige Szene noch kurz vor der Premiere verändert wurde, und fragt sich, wie das in der Kürze der Zeit denn möglich war. Man hat doch vorher nicht getrödelt, als alles noch so lange gedauert hat. Das ist genau Stanislawskis Gedanke: Am Ende ist das innere Bild so reif und differenziert und stimmt bei allen so stark überein, dass sowohl die Sänger als auch der Regisseur blitzschnell Aktionen verändern oder neu erfinden können, ohne dass die Gesamtarchitektur beschädigt würde. Die Zweite Realität trägt dann alle.

Arbeiten Sie nach Stanislawskis Methode?

Nicht wirklich, und das wäre im Opernbetrieb auch gar nicht möglich, aber was mich sehr anregt, ist zum Beispiel sein Begriff der „Überaufgabe“. Er spricht von der Überaufgabe des Stücks, einer Art Quintessenz, und der Überaufgabe der Rolle, und das ist sehr interessant. Er war ja selber Schauspieler und sollte den Argan im Eingebildeten Kranken von Molière spielen. Zuerst hat er versucht zu spielen: „Ich will krank sein.“ Das funktionierte aber nicht. Irgendwann kam er auf die Formel: „Ich will, dass man mich als einen Kranken betrachtet.“ Damit hatte er die Figur geknackt! Das war die Überaufgabe Argans. Eine Formel, die über der Figur steht und dem Schauspieler hilft, seinen Aktionen die richtige Tendenz zu geben. Tom Hanks hat erzählt, dass er den Geschäftsmann in Ein Hologramm für den König erst spielen konnte, als er diese Formel fand: „Ein Mann, der kein Selbstvertrauen mehr hat, aber so tun muss, als habe er es.“ Das kann man spielen! Mit „ein Amerikaner in Arabien“ konnte er nichts anfangen, das war ihm zu literarisch.

Haben Sie ein Beispiel aus Ihrer Arbeit?

Die Figur der Manon: Bei mir hat sie genug vom Zynismus der Pariser Gesellschaft; sie will mit direkten, ungekünstelten Emotionen zu tun haben. Ihre Überaufgabe lautet: „Ich möchte unschuldig sein.“ Oder Arabella: Sie hat von großen Gefühlen, von „richtiger“ Liebe gehört und gelesen, kann sie aber in sich nicht entdecken. Ihre Überaufgabe ist: „Ich will etwas spüren.“ Vielen Sängern hilft so eine Formel sehr beim Spiel, wie ein Mantra.

Was haben Sie noch für Methoden, dem Sänger den Charakter der Figur zu vermitteln, die er verkörpern soll?

Ich rede viel und erkläre meinen Ansatz, aber ich weiß auch, dass das den meisten Sängern nicht wirklich dabei hilft, die Figur zu spielen. Konkret wird es erst auf der Probe: Wenn die Sängerin aufgefordert ist, eine bestimmte Aktion mit der Motivation x im Kontext y zu spielen. Vorher habe ich der Sopranistin Betsy Horne von der Oper Arabella erzählt. Jetzt sprechen Betsy und ich über eine Kunstfigur, die vor uns entsteht und die im Laufe dieser sieben Wochen ein Eigenleben entwickeln soll. Ich kritisiere auch nie Betsy persönlich, sondern Betsy und ich bilden ein Team bei der Gestaltung dieser Figur – ich als Regisseur blicke von außen darauf, sie als als Sängerin von innen.

Für die Sängerin wird die Trennung ihrer Person von der Kunstfigur nicht so leicht sein wie für Sie…

Den meisten ist diese Differenz sehr bewusst. Das ist ja das Geheimnis des Spiels: Schon ein Dreijähriger kann einen Stuhl als Traktor erleben und vergisst dabei doch nie, dass das eigentlich ein Stuhl ist. Interessant ist ja, dass Schauspieler sowohl in der ersten als auch in der dritten Person über ihre Rollen sprechen: „Ich bin ein ausgebrannter Banker, der…“, „Frank ist ein naiver Musiker, der…“ Und genau diese Doppelung macht den Beruf aus: zwischen Ich und Er. Wenn ich zum Beispiel auf die Bühne gehe, um zu zeigen, wie ich mir eine Umarmung vorstelle, dann spüre ich diese Differenz sehr stark. Ich umarme nicht den Sänger, ich umarme die Kunstfigur. Und deswegen empfinden wir dabei auch keine Scham, weder er noch ich.

Für Hegel ist das Theater die höchste Form der Kunst, weil da eine fiktive Handlung „als wirkliche“ dargestellt wird.

Ja, das ist das Tolle. Und deswegen ist die Schauspielerei, die oft eher am Rand der Künste gesehen wird, wenn man überhaupt an sie denkt, paradigmatisch für einen sehr wesentlichen Zug der Kunst: das Erleben von Fiktion. Was ja zum Beispiel auch das Schreiben ausmacht; das ist ja eine Art geistiges Erleben des Stoffs, ein Spielen des Stoffs auf der Bühne des Geistes. Jeder, der schreibt, macht diese Erfahrung. Novalis sagt sogar, es sei das Erleben der Sprache selbst.

Was für eine Art Spiel wünschen Sie sich von Ihren Sängern?

Die beste Regieanweisung stammt von Hitchcock: „Don’t act!“ Der Sänger soll die Aktion ausführen und nicht spielen, dass er sie ausführt. Sehr oft sieht man, dass ein Sänger nicht, sagen wir: die Brille aufsetzt, weil er einen Brief lesen will. Er spielt: „Oh, da ist ein Brief, den ich nicht lesen kann, was tun?“ Als nächstes spielt er: „Kein Problem, da liegt ja meine Brille. Ich will sie aufsetzen.“ Und schließlich: „Wunderbar, mit der Brille sehe ich scharf. Was steht denn da nun?“ Er fürchtet, die Aktion als solche könnte zu banal sein, zu nackt, zu unkünstlerisch, und deswegen präsentiert er sie auf dem Tablett. Das meint Hitchcock mit „Don’t act!“ Es darf kein Blatt zwischen den Darsteller und seine Aktion passen. Da muss absolute Identität bestehen: die Figur ist, was sie tut.

Was sagen Sie dem Sänger dann?

In diesen Fällen reicht es meistens, ihn darauf aufmerksam zu machen. Dann gibt es dieses Phänomen der Vergrößerung der Aktion. In Manon spielte ein Blumenstrauß eine große Rolle. Ich bat den Darsteller des Brétigny, beim Auftritt einen beiläufigen Blick auf den Strauß zu werfen. Er tat es, und ich war zufrieden. Auf der nächsten Probe sieht er die Blumen an und streicht mit der Hand drüber. Nicht so gut, denke ich. Beim dritten Mal nimmt er die Blumen in die Hand, riecht dran und stellt sie wieder zurück. Ich greife ein: „Bitte nur ansehen, das reicht!“

Das passiert ja auch mit Schauspielaufführungen im Repertoire: sie werden immer länger…

Ja, das ist ja auch irgendwie sympathisch, wenn sich gewisse Abläufe verselbständigen. Da darf man nicht zu sehr Controlfreak sein und muss dem Werk sein Eigenleben gönnen, im Sinne der Werkstatt von vorhin. Ein guter Abendregisseur – weniger dogmatisch als ich damals mit 19 – kontrolliert das und greift ein, wenn die Inszenierung als Ganze außer Form gerät. Eine größere Gefahr, schon auf den Proben, ist, dass der Sänger zwar die Aktion ausführt, aber nicht darauf vertraut, dass sie auch transportiert, worum es geht, weswegen er den Kommentar gleich mitspielt. In meiner Arabella gibt es bei der ersten Begegnung Mandrykas mit dem Vater der Frau, in die er sich verliebt hat, eine gewaltige Steigerung, bei der Mandryka dem Vater immer näher kommt und dabei alle Regeln der Diskretion überschreitet. Am musikalischen Höhepunkt bricht er unvermittelt ab, tut, als wäre nichts gewesen und setzt sich wieder hin. Das Licht wird wieder realistisch, der Vater atmet auf und mit ihm die Zuschauer. In einer der Schlussproben machte der Sänger des Mandryka plötzlich eine beschwichtigende Geste, bevor er sich setzte. Die ganze aufgebaute Spannung war dahin. Das Hinsetzen selber ist die Rückkehr in die Normalität; eine erläuternde Geste unterstützt das nicht, sondern nimmt ihm die Kraft. Ich musste an ein ästhetisches Schlüsselerlebnis denken, das ich anlässlich einer Picasso-Skulptur hatte, als ich ganz jung war. Es war eine dieser kleinen Skulpturen aus gefaltetem und bemaltem Metall. Und mir fiel auf, mit welcher Ökonomie Picasso arbeitete: entweder knickte er das Metall, oder er malte eine Linie, nie beides zugleich. Das gilt genauso fürs Theater: der Bühnenraum ist extrem verdichtet, und die Kette der Aktionen auf der Bühne muss äußerst präzise und sparsam geknüpft werden. Knick oder Linie, Geste oder Hinsetzen, oder anders gesagt: das Setzen ist die Geste. Das zeigt auch, wie wenig das Abgleichen mit der Realität im Theater hilft: im „richtigen Leben“ würde man durchaus beides machen.

Woher kommt dieses Bedürfnis des Sängers, seine Aktion zu kommentieren?

Er denkt in diesem Moment, mein Gott, was ich da mache, reicht doch nicht, das entspricht nicht dem Sinn der Szene. Tut es aber: im Kontext! David Mamet drückt das so aus: „Das Boot muss aussehen wie ein Boot, das Segel braucht nicht wie ein Boot auszusehen.“ Wir denken aber immer, jedes Detail müsse aussehen wie das große Ganze. Und versuchen daher, alles auf einmal zu spielen, die Aktion, ihre Bedeutung und den Kontext. Für den ist aber der Regisseur zuständig; so ist die Arbeitsteilung. Und die ist sinnvoll. Noelte hat immer gesagt: „Regie heißt unten sitzen.“ Nur wer unten sitzt, sieht das Ganze. Der Regisseur ist dafür verantwortlich, dass diese spröden Einzelaktionen, aus denen sich die Aufführung zusammensetzt – unter Einbeziehung aller Kräfte, auch des Raums, des Lichts usw. – den Sinn des Werks realisieren.

Dann ist es vielleicht ein Problem des Kontrollverlusts? Die Angst, sich in fremde Hände zu begeben? Und deshalb das Verdoppeln, das Erweitern, das Kommentieren der einfachen Aktion?

Wahrscheinlich. Es geht um Vertrauen, man muss sich fallen lassen. Aber nur dann kann man auch gewinnen. Wenn man die Kontrolle behalten will, verliert man. Zwar nicht sich, aber das, wofür man angetreten ist.

Wir befinden uns jetzt schon mitten im Probenprozess. Was gibt es da noch für Einschnitte?

Jetzt kommt die schöne Phase, in der der Regisseur zurücktreten und die ersten längeren Abschnitte der Inszenierung auf sich wirken lassen kann. Im Film wäre das die Phase des Schnitts, während die ersten Wochen, in denen das Gerüst der Aufführung entsteht, beim Film der mühseligen Phase der Sichtung des Materials entsprechen. Jetzt zeigt sich ganz klar, was vom Geplanten funktioniert, was nicht, jetzt kann man die Aufführung verfeinern und vollenden. Und dann kommen die Schlussproben, wo auf einmal, wie nach einer geheimen Absprache, alle Meinungsverschiedenheiten, die es während der Produktion gab, beigelegt werden und alle zusammenhalten, um zu einer guten Premiere zu kommen. Der Regisseur zieht von der Bühne in den Zuschauerraum und sieht die Aufführung unter realistischen Bedingungen. Hier hängt nun wieder alles am Erleben der Zweiten Realität. Ich muss tief in das Geschehen eintauchen, um beurteilen zu können, was stimmt, und bin dabei sehr anfällig für Störungen. Wenn ein Sänger, der gerade Pause hat, in den Saal kommt oder der Regieassistent mich anspricht, zerreißt die Zweite Realität, und ich brauche viele verlorene Minuten, um wieder hineinzukommen. Dann kommt die Generalprobe. Wie nach allen Schlussproben mache ich die Kritik nicht persönlich, sondern per E-Mail, weil die Sänger sie dann in Ruhe lesen können, wenn sie aufnahmebereit sind. Tja, und dann habe ich plötzlich frei, warte auf die Premiere und hoffe, dass die Zweite Realität sich ereignet…

Haben Sie ein künstlerisches Vorbild?

Ich hatte wunderbare Lehrer: Esrig, an den ich während der Konzeption denke, Noelte, an den ich während der Proben denke, Celibidache… Aber das sind keine Vorbilder. Wenn ich jemanden nennen sollte, dem ich mich nahe fühle, ist das Ravel. Da finde ich analytische Strenge, Purismus, Klarheit, den Sinn für alte Formen, aber auch Eleganz, Leichtigkeit und etwas Großstädtisches. Und er versteht es, das alles in einen sinnlichen Fluss zu bringen, mit einer melancholischen Aura… So würde ich gerne arbeiten. Und die Menschen damit zu Tränen rühren.