Lebenszeichen aus San Francisco

Essay
zuerst erschienen am 15. November 1980 in Frankfurter Rundschau, S. III
Der Maler Thomas Bayrle, der in Frankfurt lebt und seinen
 Studenten als Lehrer an der Städel-Schule während der letzten 
Jahre ein besonders offensiver Anreger gewesen ist, entschloß 
sich am Ende des vergangenen Sommers, mit seiner Familie für
 einige Monate in San Francisco zu leben. Phänomene der
 Massenkultur hatte Bayrle schon früher in seinen Bildern
 thematisiert, die eine übergeordnete, große Form aus der
 Wiederholung immergleicher Einzelheiten gewannen, zum
 Beispiel wurde die Form eines Autos zusammengesetzt aus
 unzähligen kleinen Autos (womit das Zivilisations-Requisit
 zugleich dargestellt und kommentiert wurde) - jetzt in
 Kalifornien erlebt Bayrle wirklich, mit kritischer Faszination, 
wovon er in seinen Bildern handelte: die Aufhebung des 
Einzelnen im massenhaft Allgemeinen. - In ursprünglich nicht
 zur Veröffentlichung gedachten Briefen an seine Freunde hat
 Bayrle von seinen Eindrücken aus San Francisco erzählt. Diese
sehr persönlichen Berichte wurden der Redaktion zugänglich
 gemacht - und scheinen interessant genug, sie mit Zustimmung 
des Autors unseren Lesern auszugsweise zur Kenntnis zu 
bringen. P. I.

1. September

Eine gewisse Form muß schon immer gewahrt bleiben… also habe ich mir zuerst eine Schreibmaschine gekauft, um das zu berichten, was zu sein hat: originäres Erleben weiterreichen. Das haben schon so viele aus diesem Land getan, mit jeder Postkarte, die geschrieben wird, mit jedem Foto, das geschossen wird, ewige Wiederholung - winzige Abweichung - eine der entscheidendsten Qualitäten in diesem Lande jedweder Massen. Es ist eigentlich alles, wie bei uns, stellt man zunächst fest, nur alles viel mehr… das ist der Trugschluß, dem wohl viele aufsitzen, wenn sie nicht begreifen, daß die Massenhaftigkeit des Gleichen, alles total anders macht. Dazu kommen einige Machtstränge, die wie Magnetfelder das ganze Riesengebilde derart durchströmen, daß ein Zittern immer zu spüren ist: Das Telefonnetz und das Fernsehen sind Allmacht, wie nirgends auf der Welt. Das erste Telefongespräch schon reißt einem technisch und psychisch derart mit, daß Wellen von Angst und Entzücken einem durchfluten, Elektronisch sofort überall, erscheinen die 9 Töne sogartig; sie ziehen mich weg. Riesige Distanzen sind spürbar durch die elektronische Abfolge der Töne erlebt, man ist dann in Deutschland, man telefoniert nicht. Ganz zu schweigen vom Operator, jenem Wesen zwischen Mensch und Computer, welches beängstigend operiert, lenkt, fordert und sofort nach jedem Gespräch in den hintersten Winkel der Wüste nachtelefoniert, um 20 Cent nachzufordern. Jeder wird immer zahlen.

Das Fernsehen wurde genug kommentiert, aber es haut einen jedesmal wieder um, wenn diese grauenhafte Zerlegung von allem, in Werbepackungen von unvorstellbaren Zwängen ablaufen. Es besteht vor allem in Stückchen zerhackter Nachrichten; - Stars, die aufgebaut wurden, um die Einschaltquoten zu halten, die jeden Tag wiederbringen müssen, wie Artisten im Circus. Ein Vorgang, daß einer vom Hochhaus springt -, der Sprung 3mal gezeigt wird, im Fall unterbrochen wird und zwei bis drei der teuersten Insertionen dazwischen gepreßt werden, und dann der Aufklatsch, den eine Versicherungsgesellschaft sofort für sich nutzt, ist derart anders, daß alles „anders“ wird.

Irgendwie lockt mich dieses „andere“, weil es „freies Muster“ ist, ohne Wertung zeigt, was wir sind, wovon wir leben. Ein Mosaik aus Interessen, ohne Moralkodex, ein Bild der „Natur“. Es wird dauern, bis ich, wenn ich „fremd“ bleiben will, hier genauer „Raster greifen“ kann. Die gewöhnliche touristische Abfolge, landen, herumgehen, besuchen, betrachten und dann das schale Gefühl, man habe alles gesehen… das will ich nicht, weil’s länger sein soll, lande ich mit den Ängsten der Nachbehandlung, die sowieso immer mehr zur Hauptsache werden, so wie einer Grippe die Masern nachfolgen, oder vom Scharlach der Herzfehler verbleiben kann, achte ich schon vorher auf Nachwehen und sehe die vor der Reise bereits als die konkrete Aufgabe an, die schwer ist, zu bewältigen. Was mach ich hier, muß ich etwas leisten, soll ich irgendwen kontakten, was soll da gesteuert werden? Soll ich’s laufen lassen, was ich sowieso nie kann? Da habe ich von Adam Seide den Palinurus mitgenommen, an dem ich mich teilweise festhalte und der mich auch abstößt. Die typische hochintelligente, kränkelnde, sich selbst bespiegelnde, europäische Schlaumeierei, die von einer Weisheit in die andere eilt, um den Nektar der Weißheit zu schlecken, etwas Suizid -etwas Laoze, Hegel, „das halbe Lexikon“ sagen da die Amis einfach, während sie hinter jedem Baum und zwischen jedem Autoparkplatz joggen, „diese Ärmsten“, sagen wir da, die mit ihrer Softkultur merkwürdigerweise die Welt aufweichen…

Dann finde ich es wieder beruhigend, zu lesen, wie leicht der Tod ist, eine asiatische Weisheit, die der englische Europäer Palinurus überzeugend weitergibt, dann lese ich Zeitung, das „San Francisco Chronicle“. Jeden Tag Berichte konkreter Natur über Cloning, Genenveränderung, Space-robots, auch nette Menschen, die dagegen sind, und dann die Summen, die hineingedonnert werden, echtes Geld, welches die Nasa wagenweise in das Projekt schaufelt, eine Aluminiumfabrik im Weltall zu bauen, selbsttätige Robotanlagen zu bauen, die die Produktion überwachen, alles mit Sonnenenergie -, gleichzeitig der medizinische Teil, künstliche Hände, Organbanken, Samen-Supermarkt - the Baby/Makers, mit detaillierten Produkteigenschaften, von Privatfirmen betrieben … „alles Quatsch“, sagen wir da, ist auch fast nichts zu hören bei uns davon, vor allem kein Geld für so was da, aber diese verdammten Jogger waren auf dem Mond und schießen wie in Star-Wars jede Woche Dutzende Satelliten ins All, „The Empire strikes back“, 2. Teil von „Star-Wars“ war das erste, was die Kinder haben mußten, die europäische Kultur durch Lord Veder vertreten, eine Art Mischung aus Nazis und Russen, zweifellos dem Stärksten, was Europa je auf die Beine brachte, sagen bewundernd die schwarzen Teenager, aussichtslos jedoch den amerikanisch-asiatisch geprägten Easy-Helden unterlegen, weil diese eben locker sind und alles Easy taken, während die anderen hoch bodenständige Space-Figuren sind, die eben nicht begreifen, daß alles aus Millionen Fetzchen besteht, die immer wieder neu zusammengebastelt werden wollen, müssen, weil „Energy all is and only something among it“, it’s so funny …

6. September

Ich wohne nahe dem Geary, einer sehr schönen „Mainzer Landstraße“. Doppelt so breit, 5 mal so lang, laufe ich sie so langsam ab. Eine endlose, herrliche Masse aus allem, in einem bestimmten Niveau. Banken, Tankstellen, Restaurants, Autoreparaturwerkstätten, Discos, Motels, Holzhandlungen, Supermärkten, Versicherungen, Drive-Ins, Wohnungen bilden diese gleichmäßig strukturierte, endlose, aktive Kette, die schnurgerade über Berg und Tal wie eine riesige’Ader zur Ehre der Autos, dem schwimmenden Material, verläuft. Es gibt keine Höhen, keine Tiefen, keine Festpunkte, an denen man sich festhalten könnte. Eine Röhre mit ungeheurem Druck. Es gibt kein Nachlassen oder Anschwellen, die einzige Auffälligkeit sind die Ambulanzeinsätze, die durch ihr flächengreifendes, psychisch geiles, verschiedenartiges Supergeheule die Gleichheit erst recht klarmachen.

Die Gleichheit hat ein sehr hohes Niveau, gar nichts Totes. Alles wird angesprochen, freundlich behandelt, dein Haarproblem, dein Auto-Leasing, deine Mongoloidität, deine Fettsucht, einfach alles wird eingeschlossen, in die Aufgehobenheit der weichen Masse. Der Hamburger ist tatsächlich Symbol dafür. Weich drückst du hinein und findest keinen Widerstand, endlos ist der Biß, in Erwartung des in Europa immer erwarteten Widerstandes, aber er kommt nicht, du beißt in Luft, ins Fallen, in die Schwerelosigkeit hinein, in den gekrümmten Raum, der kein Ende hat. Der Biß ist gerade noch beim Schlucken bemerkbar, ähnlich der Luft, die in Schläuchen, in Reifen gepumpt wird. Tires, geil und Fett „Tire-Sale“, Reifen sind genauso großartig, hier wird mir diese großartige Erfindung erst klar, riesige Gewichte lautlos auf Luft zu verschieben, das ist es, was hier abläuft. Es ist sehr schwer für mich das zu besitzen, da ich mich entschlossen habe, es besitzen zu wollen, vor langer Zeit schon, als ich bemerkte, daß weiche Werkzeuge mir mehr liegen müßten; daß man aber hart sein müsse, um bestehen zu können, steckt immer noch als ewiger, fast unauflöslicher Widersacher in mir, verstellt mir den Weg, die grauenhafte Schule, von verkrachten Hartmachern hat mich als Kind zu sehr tangiert

Wenn ich versuche, was zu fotografieren, ist das Format immer zu klein, oder das Granulat ist zu schwach, wenn ich den Ausschnitt vergrößere. Es kommen nur Belanglosigkeiten heraus, weil es ja einzelne Attraktionen nicht gibt, nur die Gesamtheit die Attraktion ist. Diese wiederum ist aber nicht darstellbar etc. etc. Diese Erkenntnis muß die Amerikaner bereits 1940 zur Verzweiflung gebracht haben, was sie, da sie Pragmatiker sind, zur Cinema-Scope-Leinwand trieb. Diese Vergrößerung reichte natürlich dann wiederum nicht aus, was zur Verlagerung auf die Ohren, zur HiFi-Technik, Stereo, vorne-hinten-oben-unten führte. Dieses reichte dann natürlich wieder nicht aus, was zur Perfektion der Kopfhörer, zum Kunstkopf führte.

Und da kommt jetzt das „californische“ erst recht ins Licht. Die Japaner 
und Chinesen hier haben nämlich die 
Restbedenken, die ein jeder aufrechte 
Amerikaner von seiner Großmutter
noch in sich trägt, längst als lästige
 Hemmschwelle für „Entfesseltes Laboratorium“ erkannt und abgestreift. Und
 sie haben auf diesen Gebieten die absolute Führung an sich gerissen. Das 
Schlimmste ist, daß jedermann eindeutig sehen muß, sie haben Kultur. Sie 
sind absolut die besten Köche, schlagen 
hier erfolgreich die beste europäische
 Küche aus dem Felde, können alles aus
wendig, sind also praktisch gebildet,
 sind sehr gute Staatsbürger und schlagen sich überhaupt vortrefflich. Die 
zweifelnden Europäer, und so einer bin
 ich ja, werden mit einem weisen?, undeutbaren, Lächeln bedacht.

10. September

Das leise Summen von entfernten Eisschränken, Wasserleitungen, Blutkreisläufen durchzieht mich. Die Gärten zwischen den Hinterhäusern platzen vor Vitalität. Wilde Hecken aus Lorbeer, Brombeer und Eukalyptus, Hunderte Töpfchen mit Blumen. Dazwischen ab und zu ein Station-Waggon eingeschoben. Die Wagen fahren von vorne unter den Häusern durch nach hinten und stehen dann, hellgrün oder blau wie riesige Lutscher im Gestrüpp. Wenn sie einfahren, gleich geschmeidigen Tigern mit ihren tiefen, beruhigenden Schiffsmotoren beben die dünnen Häuschen aus Holz. Wenn sie morgens angelassen werden, wird die Sprache deutlicher. Mürrische alte Greise, die keine Lust haben aufzustehen, der Sägefische, die einige Wellenschläge mit ihren riesigen Körpern ausführen, bevor die volle Kraft erwacht, das leise 8-Zylinder-Surren, Kräfte, die im Überschuß vorhanden, nie ganz gefordert werden, Wildkatzen im Zoo sind diese Wesen. Der Nachbar hat einen Schußapparat, der alle viertel Stunde ertönt. Etwa 150 Tauben erheben sich dann als riesige Traube, wie eine Massenflucht, ein Massenrennen mit erschreckend, aufregendem Atem drehen sie eine Runde und lassen sich dann wieder ab. Schöne Katzen gibt’s.

Die Schulen sind ’ne ziemliche Katastrophe. Bei Marielle waren eine Woche lang 51 Kinder in der Klasse. Sie mußten 7 Stunden pro Tag abwechselnd stehen. Die Geldnot ist derart, daß ein fest installiertes Bettelsystem zur Funktionserhaltung unbedingt notwendig ist. Solch ein Meeting haben wir mitgemacht. Es hat mich an meine Arbeit in einem amerikanischen Service-Club 1957 fatal erinnert. Tho women do it! Jeder bekommt am Eingang sein Namensschild, es gibt dauernd Applaus für die, die am penetrantesten gebettelt haben. Die Geschäftsleute werden regelrecht angemacht, bestimmte Frauen zu bestimmten Männern etc. das Gebettel ist überhaupt derart penetrant, sie nennen das „offen sein“, daß es mir unglaublich auf den Wecker fällt. Der Raster wird eben auch hier klar, ein gleiches Gewebe aus Geld und Leistung überall, wie ein nie endendes Muster durchzieht es alle Bereiche. Jeder weiß, die Schule würde ohne Privatleistung zusammenbrechen. Also wird die Geldgier zum allerwichtigsten in der Schule, im Museum, überall. Was auffällig ist, die Transponierung aller Zwischenbereiche auf dieses Muster. Geld-Leistung. Es ist alles effektiv in diesem einen Sinne. Alle Projektionen, Visionen, Vorstellungen, Gestaltung ist frühzeitiger als anderswo gezwungen, in Verwertung einzufließen. Dies wirkt auf mich grauenhaft, aber auch verblüffend wahr. Die Naturgesetze wirken als Geld-Leistungsdschungel für jedermann brutal, vereinfacht, simplifiziert, abenteuerlich, unausweichlich, eigentlich kein Platz für Kunst. Wie soll das hier entstehen? ohne Zeit? Kämpfen? Beckmann? ich weiß es nicht.

Das Land für Polaroid jedenfalls, das ist mir sicher. Das Museum für Moderne Kunst ist recht kümmerlich. Frankfurt wirkt auf mich dagegen reich, ein gutes Gefühl für einen Frankfurter mal… ja ich habe hier einen ständigen Hunger auf Kunst sogar, dann geh ich irgendwo hin, freß mich voll damit… und bin unzufrieden hinterher, wie nach dem Essen von Hamburgern, ewig mit Luft betrogen, weil ichs eben noch nicht gelernt habe, die neue Qualität eben noch nicht fassen kann … also …

20. September

Die organische Natur hier ist prägend in allem, was an Kunst in der Vergangenheit (ca. 150 Jahre) geschah. Das ist an den Museen deutlich ablesbar. Das Überzeugendste sind die Naturhistorischen Abteilungen, die minutiös die gesamten, bekannten Naturzusammenhänge aufzeigen. Der Geist ist ganzheitlich, streng wissenschaftlich, materialistisch. Jeder noch so winzige Ausschnitt ist feinstens durchgearbeitet. Didaktisch derart beschaffen, daß Schlüsse ins Winzige und ins Riesige immer gefordert werden. Pflanzen, Tiere, Lebensformen, Entwicklungsgeschichte sind derart anziehend aufbereitet, technisch streng naturalistisch oder klar abstrahiert ineindergeschoben, daß es eine Freude ist, zu lernen.

Die Fotografie ist logischerweise hier sehr überzeugend, weil’s nichts anderes gab. Sie wurde bereits Ende des letzten Jahrhunderts fest als Kunstgattung betrachtet und ihr wurde im Modern Art Museum z. B. von Anfang an der gleiche Raum eingeräumt, wie der Malerei. Gertrude Stein hat sich klar für diese Position eingesetzt, was schön zu verfolgen ist. Es gibt eine Menge Historienmalerei aus den 2 amerikanischen Jahrhunderten mit Kunsterzeugnissen, aber die Fotografie gehört in diese Gesellschaft. Ihr sozialer Charakter, die Reproduzierbarkeit, der Dokumentationscharakter und der leichte Zugang aller Menschen zu dieser Gestaltungsform haben sich mit demokratischen Grundgefühlen und der Technischen Welt überzeugend verbunden.

Ich habe „Vinyl“ von Andy Warhol gesehen. Gerard Malanga und Edie Sadgewick [sic]. Den Film hat Warhol 1965 gedreht. Es scheint ein belangloses Thema zu sein. Einer, der im „normalen“ Leben herumstreift und sich plötzlich vor einem Klumpen von Schicksalen niederläßt. Die Kamera wird in halber Draufsicht auf die Szene fixiert. Ähnlich dem Vorgang, wenn auf der Straße anfangen, sich zu prügeln, bleibt man erregt stehen. Ein Foto bewegt sich. Graumassen wälzen sich ab. Langsam. Das Bild saugt den Betrachter ein. Der Ausschnitt wirkt wie ein Loch. Er umklammert den suggestiven Dschungel aus Körpermassen und erregenden Durchbrüchen. Ein schlingerndes Chaos aus Fleisch, Papierfetzen und Stoffen. In der Tiefe des Bildes lauern, schleifen, blitzen Materialien. Es ist total unter Drogen, Explosion von Geilheit, ein Brei. Kraftströme pulsen durch die Körper. Leder, Gewebe, Rockmusik aus der Wurlitzer schüttelt die Bodies. Von einem entsetzlich glatt gewebten Anzug geht panische Angst aus. Ein Typ sitzt drin. Schwarze Mappe mit Papieren. Unterschreiben! Malanga schwitzt, tanzt, stinkt, Achselhöhle-Rumpf-Körper-Angst. 1965 gefühlt. Bis in die kaputten Avenues hinein, in die Streets von Oakland - Eichenland - wo die Schwarzen ihre Tapemashines [sic] an die Körper pressen wie Maschinengewehre. Abgehackte Autos, abgesägte Verdecks, Funcy-Saft. Ich fühle mich nicht gut da. Habe vor derart wahnsinniger Körperlichkeit Angst. Kann Plastik nicht aushalten, bin für Film.

Ich weiß noch, wie Beuys bei seinem Besuch im Städel beklagt hat, daß es so wenig „Bildhauer“ gäbe. Er hatte recht, wenn er die vom Körper abgeleitete Plastizität meinte. Die scheint auf schweren Maschinen durch die Straßen zu fahren. Er hatte noch mehr recht, wenn er seinen Kunstbegriff meinte. Die Fähigkeit, Gesellschaft als „Material“ zu benutzen, sie in seinen künstlichen grauen Mantel zu wickeln, haben nur wenige. Meistens bleibt’s anekdotisch. Der Blum in Ulysses, Malanga in Warhols Movie schaffen es. Und was macht er jetzt? Neulich las ich, daß er Carters geschwätzige Mutter mit allerlei Peinlichkeiten aufs Band gebracht hatte, als er ins Weiße Haus eingeladen war. Zuhause angekommen, stellte er fest, daß von den 3 Stunden 2 gelöscht waren. Der Künstler hatte nur Belanglosigkeiten mit nach Hause genommen, weil ihm die CIA-Beamten heimlich alles Interessante weggelasert hatten. Ersäuft so der Künstler im Leben?

1. Oktober

Von den Menschen habe ich noch nichts geschrieben. Ich bin da ratlos, weil ich keine „Maßstäbe“ habe. Es gibt alles durcheinander. Entweder ich finde diese Stadt voller „verrückter, origineller Spinner“, wie im ZDF-Touristeninfo aus Amerika, mit all diesen Freiheiten, den Golfplätzen, dem Vielen von allem, oder, das andere Modell, die Herde von armen Schweinen, die vorm Fernseher sterben wird, oder im Auto, oder beim Fressen oder Joggen. Ich halte mich also möglichst an den Zustand wie gesehen, erlebt; die Türen werden falsch rum abgeschlossen; die Leute haben Ketten vor den Türen; manche schlagen mir die Türe vor der Nase zu. Die Leute sind sehr freundlich. Alle tragen Rucksäcke. Viele beobachten Vögel, bird watching. Ein nachbarlicher Kontakt ist trotz starker Bemühungen nicht herzustellen. Die Leute sind sehr mißtrauisch und einsam. Sie lieben Tiere über alles. Die vielen ethnischen Gruppen schließen sich nahezu hermetisch gegeneinander ab, oder lösen sich so auf, daß die Herkunft wie wegretuschiert ist. Chinesen und Japaner sind völlig unter sich, die Familien sind „in Ordnung“, sie arbeiten nur, gönnen sich nichts, wie Super-Schwaben. Die Schwarzen sind nach wie vor unten, total „asoziale Szene“, alles unter Drogen, Familien im Eimer, „reine Klassengesellschaft“ sagen viele Amerikaner.

Es gibt unzählige Restaurants. Es wird gekocht, geraucht, fotografiert, wie nirgends, ein munteres „Mobiliar aus bekifften Menschen“ ist die Dauereinrichtung in den Straßen. Viele haben Heimweh, nach da, von wo sie herkamen, wollen aber nie mehr hin.

11. Oktober

Meine Geschichte kriege ich hier jeden Tag um die Ohren gehauen. Es wohnen eben Tausende hier, die „davongekommen“ sind, und alle irgendwann ihre Geschichte ablassen. Einige Ereignisse der letzten Tage: 2 Dick-Cavett-Shows mit Jonathan Miller und Samuel Pisar (both Auschwitz Survivers, gutes Niveau) und 2 Filme über Dr. Mengele im Holocaust-Stil. Es berührt mich peinlich, ich versucht abzudrängen, ich hoffe, daß es bald vorüber ist, während das Abgedrängte „Dumpfe“ in mir klopft. (Ich möchte den sehen, der das „verarbeitet oder bewältigt“ hat, die Ausdrücke alleine zeigen schon, daß es wohl um „Überwältigen“ geht.)

Trotzdem beschleicht mich in diesem Lande zum ersten Mal die Hoffnung, daß es sich „selbst bewältigt“. - Die Werbung, überragender Ausdruck der Gegenwarts-Kultur ist in alle TV-Filme eingebaut (außer im Kanal 9). Es gibt 4 - 6 Breaks pro Film. In „Playing for Time“ mit Dr. Mengele mischen sich, neben anderen Produkten, auffällig 2 Insertionen einer Hautcreme gegen Sommersprossen mit den schlechten Teints der Häftlinge. Nach dem Film wird die Creme erneut mit dem entblößten, behaarten Arm eines ehemaligen Häftlings konfrontiert, den dieser zum Zeigen der Nummer präsentiert. Die weiße Schlagsahne „vermengt“, sich mit den schwarzen Haaren des Arms, massiert ein, glättet. Hauttranspiration mit Sahne - Moschus ins Parfüm. Es ist nicht empörend, nicht geschmacklos, wie es „zu sein hat“, empfinde ich zu meiner Verwunderung. Es ist der „derzeitige Raster“. - Aber was ist mit mir geschehen? Was ist „bewältigt?“

Ich stand vor 15 Jahren in einer KZ-Ausstellung in der Pauls-Kirche. Graue Großfotos bildeten enge Gänge. Alter Zeitungsraster, graue Pigmentflusen auf schweren Fotopapieren. Berge von Haaren und Gebissen wurden da gebildet. - Ich werde kalt. Das Gefühl verläßt mich. Es tritt genau das Gegenteil ein, „was sein soll“. Ich vereise einfach, mein Körper macht dicht. - Das Entsetzliche ist nicht auszuhalten. Die kollektive Todesmaschine nicht vorstellbar. Es ist wie bei Zahlen, irgendwann werden sie völlig abstrakt, Million, Billion, Statistik. Jegliche, bis dahin bekannte Vorstellung von „Maschine - Hardware“ wurde übertroffen, allen anderen Produktivbereichen eine „neue Dimension“ gewiesen. Das Vorhaben, dies überwinden zu wollen, ohne „neue Raster“, erscheint mir naiv. Zurückverkleinern ins Faßbare? Simplifizieren? - geht nicht. - Inzwischen ist das „Wasser gestiegen“, auf allen Gebieten. Die Komplexheit der Widersprüche, auf denen unsere Kultur beruht, hat sich vervielfacht. Die „Maschine - Software“ hat auf dem Gebiet der Produktion von „Glücksvorstellungen“ die 40 Jahre „Rückstand“ aufgeholt. Die Glücksdimension scheint der Vernichtungsdimension ebenbürtig gegenüber zu stehen. 2 Gebirge, mit ihren jeweils unbezahlten Rechnungen, berühren sich, verstricken sich, sinken ineinander. Tauschen Kräfte, zapfen sich an, können nicht mehr getrennt sein. Die Creme braucht das Grauen - das Grauen braucht die Creme. „Es“ überwältigt sich, indem eins im anderen ersäuft.

17. Oktober

Es wird Herbst. Das grüne - blaue -Pazifik-Meer wird jetzt grau. Blei. Die Wassermassen werden von unterirdischen Armen langsam an die Strände gedrückt. Dort brechen sie in sich zusammen, wie Gebäude bei Sprengungen. Die Konsistenz des Wasser erscheint wie Teig oder Beton im Rührwerk.