Leonore Mau

Portrait
zuerst erschienen im März 2002 in Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung
Fassung des Autors

Die Villen in Hamburg Othmarschen leuchten in frischen Farben. Nur an einem Haus blättert der Lack von den Fenstern. Das Tor lehnt an. Ein Klingelknopf ist mit Tesafilm überklebt. Auf dem zugehörigen Schild steht der Name Fichte. Darüber der Name Mau, die Klingel unverklebt. Anfang der Sechziger zogen Hubert Fichte und Leonore Mau in dieses Haus. Fichte war Mitte Zwanzig. Mau verließ ihren Mann, um mit einem fast zwanzig Jahre jüngeren Homosexuellen zu leben. Es dauert eine Weile, bis hinter dem Türglas eine Frau mit halblangem weißen Mittelscheitel und Hornbrille erscheint. Nach einigem Rucken schafft sie es, die Tür aufzuschließen. Anderen, sagt sie, würde das gar nicht gelingen, es brauche einen gewissen Dreh. Sicher, an dem Haus müsse einiges gemacht werden. Aber der Eigentümer habe ihr seit Fichtes Tod - 1986 - aus Anstand nicht die Miete erhöht.

Die Treppe hoch läßt sie mich vorgehen. Ihr sind künstliche Knie eingesetzt worden. Den Hals schützt sie mit einem lose umgeschlungenen Schal. Auf der Fensterbank stehen die ersten Frühlingsblumen aus dem Garten, auf dem Tisch eine kleine Volvic-Flasche. Für unser Gespräch muß sie reichen. Mau hat sie mit ihren übrigen Einkäufen aus dem Taxi heraufgetragen. Die Regalbretter stehen auf Backsteinen, die Wände sind frisch geweißt. Fichte wehrte sich erst, hier einzuziehen. Wenn schon gediegen, wollte er in der Elbchaussee wohnen. Aber eigentlich blieben sie doch nur, um die nächste Reise zu planen und Vorschüsse auf Artikel und Fotos auszuhandeln.

Handke lebte mit Kind in Paris und erzog es, nicht „Fenster zumachen“, sondern „Fenster schließen“ zu sagen. Brinkmann hatte ein Stipendium nach Rom, aber am liebsten ging er zum nächsten Kiosk, kaufte Pornohefte und schnitt Titten aus. Jelinek träumte vom weiten Amerika, und wenn sie damit auch Harlem oder Wüste meinte, waren das doch die USA.

Wer es in Hamburg, Berlin oder Wien nicht aushielt, brauchte nicht nach drüben zu gehen und brauchte nicht Terrorist zu werden. Er zog in ein fremdes NATO-Land. Und zum Fernurlaub in eine NATO-Militärdiktatur. Dabei flog Neckermann schon bis nach Rio. Hubert Fichte und Leonore Mau stiegen ein. Ein Jahrzehnt bevor Grass nach Kalkutta zog und sich lächerlich machte. Fichte schrieb, Mau fotografierte für die Zeit und den Spiegel. Doch es wurde eine Reise in das Vergessen.

Die Zahl derer, denen Brinkmanns zwischen die Titten gequetschten Schreibmaschinenzeilen ein Begriff sind, ist ungleich größer, als die derer, die von Maus und Fichtes monatelanger Suche nach den Zutaten für einen brasilianischen Voodoo-Trank wissen. Zügig notierte Fichte die politische und gesellschaftliche Situation in jedem Land. Führte Interviews mit Regierungschefs und Wandmalern. Schrieb über animistische Riten und seine nächtliche Suche nach Sex. Eins führt zum anderen und wird doch fast Satz für Satz in Absätze gehackt, um neu Atem zu holen.

Die Fotos von Mau wirken dagegen bedächtig. Auch wenn sie bei einem rituellen Blutbad nur kürzeste Momente einfangen. In Fichtes Büchern heißt Mau Irma, und sie sagt: „Ich übe nicht.“ Fichte beschreibt, wie er, Jäcki, auf ihrer ersten gemeinsamen Reise ungeduldig wird, wenn er sie fotografieren sieht. Er ist sicher, Irma wird sich in drei Minuten auf genau den Standpunkt hingearbeitet haben, den er in Gedanken längst eingenommen hat. Und er beschreibt immer noch soviel mehr. Mau zeigt die Verkerzung, einen Ritus in Venezuela, bei dem Kranke eingepudert und von Kerzen umstellt werden, aber nicht, wie man ihnen an der Nase kitzelt, um sie aus der Fassung zu bringen. Sie kann Ibraima, den irren Hermaphroditen, fotografieren, aber nicht, wie er geht: „Es bewegt ihn nicht. Seine Brüste, sein Glied, sein Fett, seine Augen, die Haltung seines Kopfes werden, wenn Ibraima geht, nicht bewegt.“ Mau sagt: „Fichte hat so toll geschrieben, daß man sich mit dem Text alleine zufrieden geben kann.“ Doch jede pointierte Bemerkung wird von der nächsten ausgestochen. Alle Akribie ist ein Raffen.

Fichte sorgte dafür, daß parallel zu seinen Büchern über afroamerikanische Religionen, Petersilie und Xango, Bildbände von Mau erschienen, und entwarf das Layout. Doch die Bücher und Bildbände verkauften sich schlecht.

Dabei, und Fichte wurde nicht müde, daran zu erinnern, hatte er Ende der Sechziger die Palette geschrieben, einen richtigen Bestseller. Keinen in der Kategorie Grass oder Walser, aber auf der Spiegel-Liste. Das war ein Phänomen. Denn die Palette portraitiert Hamburger Randexistenzen mit experimentellen Erzähltechniken. In Pflicht und Kür werden sie abgegolten. In der Palette mischt sich der Mief einer progressiven Literatur mit dem einer Sankt-Pauli-Kneipe.

Fichtes viel direktere Bücher über einen Sadisten, den Ledermann, oder seine Kindheit als halbjüdischer Halbwaise, als Schauspieler und Muse von Hans Henny Jahnn interessierten weniger. Um sich vor den Kritiken nicht beeinflussen zu lassen, veröffentlichte Fichte deshalb zwar weiterhin Reportagen und Essays, aber sein literarisches Werk hielt er zurück. Erst sollte es sich zu einer auf neunzehn Bände angelegten Geschichte der Empfindlichkeit schließen.

Ein Band mit dem Titel Psyche behandelt die traditionelle und moderne Psychiatrie in Afrika. Auch ihn sollte ein Fotobuch von Mau begleiten. Doch da Fichte starb, konnte es nicht mehr erscheinen. Statt weiter zu reisen, tippte Mau über Jahre seine nur von ihr entzifferbaren Handschriften ab. Sie zeigt auf die Bank hinter mir, dort liegt der Dummy zu Psyche. Vorsichtig ziehe ich ihn aus dem Kartonschuber. Die frühzeitlichen Laserkopien sind unscharf und matschig. Aufnahmen von Elektroschocks folgt die Dokumentation einer traditionellen Schocktherapie. Eine Geisteskranke wird zusammen mit einem getöteten Stier unter Tüchern begraben, später mit dessen Blut eingerieben und verbringt die Nacht eingewickelt in dessen Därmen. Andere Fotos zeigen Geisteskranke, die sich frei in der Straße und am Strand bewegen oder die den Tag angebunden auf einem Dorfplatz verbringen. „Dann kommen die Leute vom Dorf und reden mit denen und die nehmen Teil am Leben. Kinder spielen mit denen, lachen natürlich auch mal über die, aber die werden nie schlecht behandelt.“ In den Psychiatrien dagegen, die sie mit Fichte besuchte, beherrschten viele Ärzte nicht einmal die örtliche Sprache. Sie versammelten sich mit den Kranken und ihren Angehörigen zum Pinth, aber Scham- und Sprachgrenzen machten eine Unterredung nahezu unmöglich.

Damit sind wir bei einem Herzensthema von Leonore Mau, dem sprachlichen Niedergang. Ihre Putzhilfe, ein Nigerianer, spricht außer Englisch drei weitere Sprachen. „Und hier in Deutschland sind die Leute schon entsetzt, wenn sie mal Französisch reden sollen.“ In Radio und Fernsehen hört Mau unsinnige „Wortschlangen“. Sie hält die deutsche Sprache für besonders betroffen. „Ich glaube, das ist das Ergebnis von zwei verlorenen Kriegen und einer Überalterung - ich bin ja auch kein Backfisch mehr, das kann ich nicht ändern. Die Sprache ist nicht mehr glaubwürdig.” Es ist das einzige Thema, bei dem sich Leonore Mau ein wenig vorwagt. Wenn es um ihre eigene Arbeit oder Fotografie überhaupt geht, ist die verlangte Präzision für sie selbst uneinholbar: „Ich bin nicht bereit, schnell irgendwas zu sagen, von dem ich nicht ganz überzeugt bin. Da müßte ich erst lange nachdenken.“ Fichte schreibt: „Irma wurde nicht krank an heruntergewürgten Begriffen, schien es Jäcki. Sie konnte lange warten, bis sie eine Tatsache in Worten hervorbrachte.“ Oder gar nicht, denn das war Fichtes Aufgabe.

„Du machst aus mir einen großen Dichter. Und ich mache aus dir eine große Fotografin“, faßt Jäcki die Konstellation zusammen. Tatsächlich veröffentlichte Fichte bald seine ersten Bücher, und Mau fotografierte nicht mehr für Schöner Wohnen, sondern für die großen deutschen Magazine. Doch damit ist es Jäcki nicht genug: „Er wollte zur Gruppe 47 gehören. Er wollte aus Irma eine Weltfotografin machen.“ Und er sieht sich und Irma noch in anderer Richtung vordringen: „Ich will die Welt von unten beschreiben und du fotografierst sie von oben. Ich will mit allen Männern der Welt schlafen - ich will alle Männer beim Schlafen beobachten. Schade, daß wir nicht gemeinsam da rangehen. Was wäre das für ein Experiment. Du die Architekten - ich die Zuhälter und die Strichjungen.“

Mau sagt, es sei ihr nicht unangenehm, was Fichte über Jäcki und Irma geschrieben habe. „Überhaupt nicht. Literatur ist Literatur. Wenn jemand gut schreibt, dann kann er alles schreiben. Es kommt auf die gute Sprache an, die Hubert Fichte wirklich hatte, und ein gültiges Foto.“ Was ist ein gültiges Foto? „Die Frage ist richtig, aber das kann ich nicht sagen.” Dazu, wie sie zur Fotografie gekommen ist, sagt sie: „Jedes Leben entwickelt sich auf irgendeine Weise und ich konnte eben eine Kamera kriegen, eine Leica, und ich wollte eigentlich -“. Sie schnappt wieder zu. „Warum soll ich das alles erzählen? Ich bin Fotografin, Punkt.“

Mau kann ihre Beweggründe so radikal zurückstellen, weil sie erst spät zu fotografieren begann. Sie war Mutter zweier Kinder und der Besuch der Kunstschule lag viele Jahre zurück. Von Beginn an fotografierte sie professionell, auch aus finanziellen Gründen. Ihr Mann hatte es nicht geschafft, nach der Flucht aus Leipzig als Architekt wieder Fuß zu fassen und begann, an einem pornographischen Roman zu schreiben. Gleich die Aufnahmen ihres ersten Films veröffentlichte sie in der Hamburger Hafenzeitung. Als ich sie frage, wie sie glaube, selbst das Abgebildete zu beeinflussen, antwortet sie trocken: „Das kann ich nicht beurteilen, weil ich nicht dabei sein kann, wenn ich nicht dabei bin.“ Mau blockt nicht den Reporter ab. Als Fotografin fühlt sie sich abgetrennt. Ein einziges Mal nahm sie ohne Kamera an einer Voodoo-Zeremonie teil und wurde ohnmächtig: „Mit der Kamera wäre mir das nie passiert, da ist man so wach.“ Bei einer Waschung fotografierte sie genau den Moment, als ein Mann besessen aus dem Wasser hochschoß. Den ganzen Tag habe sie wegen dieses einen Fotos wie geschwebt.

Die jüngsten Fotos hat Mau notgedrungen in ihrer Wohnung aufgenommen, Stilleben von Muscheln und Pflanzen. Sie nennt die Bilder Fata Morgana. Doch wenn man ihr die Reise und einen Helfer bezahlte, würde sie auch heute sofort aufbrechen. Denn nah kommt ihr nur, was ihr uneigen bleibt.